Freiheitlich, kosmopolitisch, opulent und trotzdem ungewohnt

Einmal vertraut ins Blaue nach London düsen – oder auch nicht

Natürlich hat die Westminster Abbey touristisch allerhöchsten Zustrom zu bewältigen, und doch könnte wenigstens einer der Platzanweiser an ihrem Eingang sich freundlicher statt wie ein Gefängniswärter verhalten. | Fotos: Klaus Philippi

In Venedig heißen die alten Fußgänger-Haustunnel „Sotoportego“, in Lübeck „Gang“ oder „Gäßchen“ und in London „Alleyway“.

„Die hässliche Herzogin“ vom flämischen Meister Quentin Matsys (1466-1530) in der National Gallery am Trafalgar Square: über das Groteske regt man sich in London schon seit Jahrhunderten nicht mehr auf.

Der Borough Market an der London Bridge hat höchstens acht Stunden täglich geöffnet, ist viel weniger übersichtlich als zum Beispiel die sechsmal wöchentlich schon ab 6 Uhr morgens auf Gäste wartende Große Markthalle von Budapest, und dennoch lohnt sich hier ein Abstecher.

Wie viel Eklektik und Großstadt-Stress zugleich vertragen Sie? Das Mittelmaß, womit jeder urban erfahrene Mensch grundsätzlich gut zurechtkommt, oder gar den kulturell überschäumenden Reichtum und Wohlstand der Spitzenreiter unter Europas Metropolen? Wenn Ihnen nicht eindeutig klar ist, was maximal strapazierte Vielfalt für Sie heißt, könnte eine London-Reise Aufklärung verschaffen – oder persönliche Eindrücke Dritter, die auf ihrem City Break in Englands Hauptstadt vor lauter Welt von feinster Qualität auf engstem Raum nicht eingebrochen sind.

Das mondäne London unserer Tage im 21. Jahrhundert ermüdend finden würden William Shakespeare, Georg Friedrich Händel, Joseph Haydn, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Stefan Zweig bestimmt, und im Hyde Park, wo sich noch vor einem halben Jahrhundert Ilie Năstase mit Kumpels zum Bolzen zwischen seinen Tennis-Matches verabredete, sind Wimbledon-Könner wohl schon lange nicht mehr anzutreffen. Für den Individualismus nach westlichem Muster gibt es so etwas wie einen Sättigungsgrad; und doch knacken stolze Metropolen wie London auch die Obergrenze des Gedränges: bei fünf Flughäfen und zehn großen Bahnhöfen ist man dort nie allein.

Liegt es ausschließlich am Ansturm der Welt auf die kultige Zehn-Millionen-Stadt? Nein. Dass die alten Museen voller Exponate aus der Kolonialzeit des Vereinigten Königreichs ihren Besuchern null Eintrittstarif berechnen, trifft mit den Maßen der Prunkbauten des 18. und 19. Jahrhunderts zusammen: immens hoch ihre Hallen und früher oder später zwecklos jeder Versuch, sich an einer, zwei oder drei Dauerausstellungen festbeißen zu wollen. Mehr von ihnen hat wahrscheinlich, wer gemütlich durch sämtliche Etagen schlendert, das Staunen über ihre Schätze bei so viel Üppigkeit nicht vergisst und sich ein ungefähres Bild vom jeweiligen Museum macht. Der stupenden Raumgröße Londons weltumspannender Galerien und Sammlungen ist anders kaum beizukommen, je mehr Stätten man sich vorknöpft.

Und es bedeutet die einzige Taktik, den ein oder anderen Teilraum einer Dauerausstellung glücklicherweise doch noch ohne Touristen-Ströme genießen zu können. Ausschau nach transsylvanischer und rumänischer Keramik in der höchsten von sechs Ebenen im Victoria and Albert Museum hält man fast vergeblich, aber dafür verschlägt es auch kaum Neugierige hin. Zu weit weg vom Ein- und Ausgang für Gäste, die Londons Sehenswürdigkeiten abhaken möchten, und ein Heimvorteil für Besucher mit kulturellem Stehvermögen. Leider nur zählt er ausgerechnet im ältesten Museum der Welt, das all den anderen gediegenen Häusern der englischen Hauptstadt in Sachen Popularität definitiv überlegen ist, rein gar nichts: oder hat schlicht und ergreifend Pech, wer das British Museum nach Bestehen seiner Sicherheitskontrolle heillos überlaufen vorfindet? Klar, die Mumien aus Ägypten möchte sich niemand entgehen lassen; dafür dagegen, dass der Trubel im British Museum sich teils überhaupt nicht mehr von einem Jahrmarkttreiben unterscheidet, kann London nichts. Es ist ein Fauxpas, Kinder im Museum herumtoben zu lassen, und die ganze Welt leistet sich ihn – so jedenfalls in ihrem ältesten Museum.  Was die hier genauso exponierten Skulpturen von griechischen und römischen Stoikern zur Kultur von Erziehung durch konditionslose Freiheit sagen würden?

Ja, doch, keine Sorge, in London können auch Erwachsene über die Ziellinie hinausschießen. Passen Sie auf, dass Sie beim Besuch einer Vesper in der Westminster Abbey Ihren Reiseführer rechtzeitig vor Eintritt unsichtbar in Tasche oder Rucksack verstaut haben, anstatt ihn in der Hand zu tragen. Da sonst ein vielleicht Dienst habender Geistlicher gedrungenen Körperbaus, der am Eingang allen schroff auf die Finger schaut, Ihnen jäh eine verbale Rüge verpasst, auf die kein zweites Ermahnen folgt, sollten Sie nicht sofort parieren. Und zücken Sie auch nicht das Smartphone, um eine Nachricht zu lesen oder zu tippen, denn auch das wird auf der Stelle mit Rausschmiss geahndet! Versäumen Sie dadurch ein prächtiges Solostück Johann Sebastian Bachs für die Orgel? Nicht böse sein, wo es doch auch in Siebenbürgen Spielerinnen und Spieler gibt, die damit Eindruck zu schinden pflegen. Was in Englands Nationalkirche aus den Pfeifen rauscht, ist ganz ohne Qualitäts-Abstrich auch im protestantischen Transsylvanien daheim.

Sich klein dünken oder vor Heißhunger schmachten muss man mit bescheidener Brieftasche auch nicht, denn der nächste Foodmarket liegt meist beinah um die Ecke: zwar mag der Brexit die Teuerungs-Hürden in London niedergerissen haben, doch machen der Orient und die Commonwealth of Nations es möglich, sich für erfreulich wenig bis moderates Geld zu verköstigen, und das in sättigenden Portionen. Möchten Sie sich mal so richtig durch die Welt fressen? London ist dafür die perfekte Wahl. Dass Streetfood in Rumänien teuer ist, spürt man ohne Zweifel beim Blick auf die Preise an der Themse: günstiger ist Karibisches, Indisches, Südamerikanisches, Chinesisches, Afrikanisches oder Arabisches nirgendwo sonst zu probieren. Darf es zur Abwechslung auch etwas Englisches sein? Das Café in der Krypta der Kirche St. Martin-in-the-Fields serviert seinen Gästen Hausmannskost aufs Tablett. Ein großer Teller Fish and Chips mit der unbedingten Beilage Erbsen darauf kostet dort zwar nicht weniger Britische Pfund als in einem Lokal der unteren Preisklasse, aber dafür werden die Einnahmen Förderzwecken der humanitären Art gutgeschrieben. Hungrig hat diese Kantine sicher noch niemand verlassen, der am Trafalgar Square nicht überteuert mittags ausgehen wollte.

Für die National Gallery und das British Museum, die einen leicht aus der Komfortzone reißen, gibt es ein Gegenstück im nicht mehr ganz zentralen Viertel King´s Cross: den 1997 von Queen Elizabeth II. für eröffnet erklärten Hauptstandort der British Library, wo am Kopfbahnhof St. Pancras International im kontinentaleuropäischen Stundentakt ein- und ausgestiegen wird. Zeit und Muße für einen Besuch der British Library scheinen die Hochgeschwindigkeitszug-Fahrgäste kaum zu haben, jedenfalls nicht scharenweise. Also hat, wer sich für Manuskripte historischen Datums interessiert, in der Dauerexpo voller Schätze auf Pergament und angegilbtem Papier beste Karten zu ungestörtem Vorbeischauen. Einen noch besseren Ort für das Vorzeigen von Notenblättern der Handschriften Franz Schuberts oder Ludwig van Beethovens aus der Sammlung Stefan Zweigs könnte es nicht geben. Erfolglos waren weder sein London-Exil, die Magna Carta, die Gutenberg-Bibel noch die Liedtexte der Beatles.

Das Haus auf der Brook Street bekanntlich, worin Jimmy Hendrix wohnte, hatte zwei Jahrhunderte zuvor niemand anderen als Georg Friedrich Händel zum Nachbarn gehabt; ob der begnadete Schöpfer der „Wassermusik“ und „Feuerwerksmusik“ in seinen frühen Jahren als Wahlengländer sich für ein Quartier in der nach ihm benannten Straße des Viertels Bloomsbury entschieden haben könnte? Falls ja, muss ihm das Idyllische der kleinen St. George´s Gardens am Ende der Handel Street sehr imponiert haben. Wunder wirkt so ein Park im totalen Schatten der großen Londoner Anziehungspunkte auch bei Gästen auf der Suche nach Ruhepause inmitten echt britischen Geländes.

Auch wenn im Buckingham Palace Siebenbürgen-Freund Charles III. zuhause ist, ändert das nichts am kosmopolitischen Publikum im St. James´s Park direkt davor: nirgendwo sonst in Europa wird Toleranz so hoch geschrieben wie in London. Soll heißen, dass Sie einschließlich in Greenwich beim Spaziergang zum endlich großen Supermarkt der „Waitrose“-Kette den Grasgeruch dulden müssen, steht Ihnen der Sinn nach Einkaufen englischer Mitbringsel für die Heimreise. Läden zum gemütlichen wie billigen Besorgen von Tee und Ähnlichem finden sich schwerlich in der Innenstadt. Und seien Sie nicht nur auf das Kiffen und die Wolkenkratzer von Greenwich gefasst, die den Vorortszug auf der Strecke zum National Maritime Museum flankieren, sondern auch auf die schriftliche Warnung an den Stationen und Fenstern aller öffentlichen Verkehrsmittel, dass Belästigungen jeder Art umgehende Sanktionen nach sich ziehen. Auch ist London ein Paradies für Nicht-Heterosexuelle; am Linienbus-Steuer zwischen der Stadt und dem Flughafen London-Luton kann durchaus eine Trans-Frau oder ein Trans-Mann sitzen. Man macht einfach keine Kiste daraus, lässt jeden Menschen seine Freiheit nutzen. Ohne jemand Schaden auf den Leib zu wünschen. Ein stetig wachsender Ort und ein Land, das nicht aus allen Fugen geraten soll, lässt sich zur Freiheit nicht verdonnern. Sie kann ihm nur gestattet werden. Um den weitestgehend souveränen Umgang mit sich selbst vor den Augen, Ohren und dem Gusto aller Welt ist London zu beneiden.