Nach dem empathischen ADZ-Beitrag meiner Kollegin Laura Căpățână-Juller zum Ableben und Begräbnis des Anthropologen Vintilă Mihăilescu (23.Mai 1951 - 22. März 2020) sollen an dieser Stelle Auszüge aus einem Beitrag (erst-erschienen in „Dilema veche” Nr.698) veröffentlicht werden, der aktuell ist. Er vermittelt einen Eindruck vom Format des Professors und Lehrmeisters, den die Leukämie besiegte. Der daraus ein Buch machte, das Patienten, Ärzte, Krankenhauspersonal und Bildungsinteressierte, alle, die jemals in einem Krankenhaus lagen, gelesen haben müssen. Zugänglich erst mal rumänisch, bei Polirom: „In căutarea corpului regăsit. O ego-analiză a spitalului”.
Das folgende Fragment heißt „Die Apokalypse der Langeweile”. Es geht um Mihăilescus Definition der Langeweile, wie wir sie in diesen Zeiten der Coronavirus-Selbstisolation am eigenen Leib nachempfinden können: „Die Langeweile ist das Ärgernis, allein mit sich selbst bleiben zu müssen”.
„Sie werden entgegenhalten”, schreibt der Anthropologe, „dass Langeweile dich befällt, wenn du nichts mehr zu tun hast oder wenn das, was du zu tun hast, dich nicht mehr interessiert. Die Quelle der Langeweile befindet sich also nicht im Innern des Individuums, sie liegt draußen, sie taucht auf, wenn die Welt rundherum unangenehm wird, wenn sich `der Eindruck einstellt, dass nichts mehr geschieht, oder` – aber das heißt dasselbe – `dass immer das Gleiche geschieht`, sagt Christophe Granger (...). Diese zwei Komponenten erscheinen wirklich gemeinsam, denn sie sind wesentliche Bestandteile der Langeweile: a) nichts von draußen interessiert mich mehr; b) nichts von drinnen beseelt mich noch.
Und trotzdem, letztinstanzlich verfließen das Drinnen und das Draußen, die Neugier und die Intimität in diesem einzigartigen Ärgernis der Frequentierung des eigenen Ich, denn nichts vom Draußen kann dich mehr wirklich interessieren, wenn im Haus des Innern niemand mehr da ist, der mit Beseeltheit, durchs Fenster, die Welt von draußen betrachtet. Mehr noch, aus der Perspektive der obigen Definition können das Interesse, (...), die Teilnahme an den Spielen der Welt eine (Palliativ-)Lösung sein zum bedrückenden Problem der Langeweile: Gib mir etwas zu tun, denn ich krepiere vor Langeweile! (...)
Doch woher kommt dieses ‘Ärgernis des Verbleibs allein mit sich selbst’? Es ist nicht die Melancholie des Aristoteles, oder jene des Mittelalters, nicht die ‘englische Krankheit’ des 17. Jahrhunderts oder jenes französische ‘mal du siècle’ des 19. Jahrhunderts, umso weniger der ‘Eke’ der Existenzialisten des 20. Jahrhunderts. Es scheint eher etwas relativ Neues zu sein, das gleichzeitig mit dem Postmodernismus auftauchte und potenziert wurde durch die elektronische Kommunikation der Sozialnetzwerke. Es hat etwas mit einer Phase des Individualismus zu tun, die bei Christopher Lasch ‘Kultur des Narzissmus´ genannt wird, die Charles Taylor als ‘Ethik der Authentizität’ definierte, Gille Lipovetsky als ‘Ära der Leere’ bezeichnete (...) Im Spiel mit dem Französischen schuf Mathilde Lequin den Ruf `Faites vos Je!`(= Macht euer Ich), das Taylor frei übersetzte mit `Be true to yourself!`. Einverstanden. Doch wie? Und welches Ich? Wie kann ich mich, ‘wahr’ und ‘authentisch’, selbst aufbauen? Gibt es ein Rezept des Erfolgs dafür? Nein! (...)
Dabei ist man aber gezwungen, unaufhörlich zu versuchen, sein ‘wahres Ich’ aufzubauen. In dieser Zeit entleert sich das Ich seiner Inhalte und übrigbleibt ein permanentes Projekt der Suche nach dem eigenen, wahren Ich. Damit konfrontieren wir uns dann mit der Angst – auch wenn das niemand zugibt! (...) Unter solchen Umständen mit sich selbst allein zu bleiben und in sein Innerstes zu blicken, mit dem Risiko, dort nichts zu finden – oder nur disparate Dinge – das geriert eine diffuse Angst, die man irgendwie loswerden möchte. (...)
Glückliche Langeweile!...”