Im Adam-Müller-Guttenbrunn-Haus in Temeswar/Timișoara herrscht am Freitagmorgen, den 21. Juni, reger Menschenverkehr. Im Saal sitzen sehr viele Jugendliche und einige Erwachsene – Professoren, Klassenlehrer, Eltern. Ganz vorne, am Rande der Bühne, steht eine goldene 12. Sie steht für den Abschlussjahrgang, die zwölfte Klasse. Es sind die Absolventen der Deutschen Spezialabteilung (DSA) der Nikolaus-Lenau-Schule, die heute in einem feierlichen Ambiente ihre Abiturzeugnisse entgegennehmen. Die Ergebnisse beim deutschen Abitur sind auch in diesem Jahr besonders gut.
Links und rechts von der Bühne hängen bunte Luftballons. Kurz nach 10 Uhr erklingt die Musik: Das traditionelle Abschlusslied, das „Gaudeamus“, wird gesungen. Die Zwölftklässler besteigen der Reihe nach die Bühne und singen. Freude füllt den Raum. Es ist wohl die letzte große Feier, die die Jugendlichen mit ihren Lehrern und Eltern gemeinsam begehen. Es wird ein schönes Fest, das alle genau so in Erinnerung behalten wollen.
Der DSA-Leiter Frank Lembke eröffnet als Gastgeber die Feierlichkeiten. Doch da fällt plötzlich der Strom aus – ein gespielter Moment, bei dem der angehende Schauspieler Christoph Krämer auf die Bühne tritt, um das Publikum zum Lachen zu bringen. Der theatralische Augenblick amüsiert die Anwesenden köstlich.
Dominic Fritz, Bürgermeister von Temeswar, ist als nächster dran. „Auch wenn die meisten von euch keine Banater Schwaben sind, ist das keine Welt, die weniger authentisch oder weniger wertvoll wäre. Ganz im Gegenteil: Ihr wachst auf in einem Temeswar, in dem diese alte Welt der Minderheiten, die damals eigentlich Mehrheiten waren, immer noch weiterklingt, aber in der wir ganz neu übersetzen müssen, was es eigentlich heißt, in Europa mehrsprachig aufzuwachsen und zu leben“, sagt der wiedergewählte Bürgermeister. Dominic Fritz betont, wie wichtig die Mehrsprachigkeit ist – ein „Geschenk”, wofür die Schülerinnen und Schüler hart gearbeitet hätten. Auch die deutsche Konsulin in Temeswar, Regina Lochner, hält eine Ansprache an die Abiturienten, die sie mit folgenden Glückwünschen abschließt: „Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zum bestandenen Abitur, ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Berufswahl, Studium, Ausbildung und in Ihrer persönlichen Weiterentwicklung. Bewahren Sie dieser Schule in Ihrer Erinnerung und in Ihrem Herzen einen Platz“, sagt die deutsche Konsulin. In ihrer Rede rät sie den Absolventen unter anderem, ihr Smartphone mindestens einmal am Tag auszuschalten. „Legen Sie Ihr Smartphone zur Seite! Heben Sie Ihren Kopf, öffnen Sie die Augen und schauen Sie die Umwelt und die Menschen um Sie herum bewusst an“. Die Konsulin empfiehlt den Jugendlichen ebenfalls, mit ihren Mitmenschen zu sprechen und ihnen zuzuhören, aber auch, nicht sofort abzuschalten, wenn ihnen das Gesagte nicht gefällt. „Damit muss man als Erwachsener umgehen können“, sagt sie. Laut einer Studie fühle sich ein Drittel der jungen Menschen einsam oder sehr einsam – ähnlich mag es in Rumänien sein, so Regina Lochner. Es sei deswegen sehr wichtig, das gesellschaftliche Miteinander am Leben zu erhalten, betont die Konsulin. Die Hochschullehrerin Dr. Petra Kory spricht als Vorsitzende der rumänischen Reifeprüfungskommission zu den Absolventen. Sie ist bei dem rumänischen Teil des Abiturs, das die Lenau-Schüler ebenfalls abgelegt haben, dabei gewesen. „Das erste große Ziel eurer Lebensreise habt ihr nun erreicht und ihr könnt mit Recht stolz darauf sein, denn die allgemeine Hochschulreife ist eine ausgezeichnete Grundlage für die nächste Etappe eurer Reise“, sagt Prof. Kory. Zwischendurch erklingt das Klavier, an dem der Lenau-Schüler Sebastian Ciuhandu aus der zehnten Klasse sitzt.
56 Schülerinnen und Schüler aus zwei Klassenzügen – Mathematik-Informatik (MI) und Sozialwissenschaften (SW) - haben in diesem Jahr das deutsche Abitur abgelegt und erfolgreich bestanden. „Wir sind besser als Bayern“, betont Spezialabteilungsleiter Frank Lembke, der den Abiturdurchschnitt der beiden Klassen angibt: 1,85. In Bayern beträgt der Abiturdurchschnitt 2,28. „Wir sind sogar besser als Thüringen. Thüringen ist für die besten Abschlussnoten bekannt, und die schaffen 2,09“, fügt Frank Lembke hinzu – zum Amüsement des Publikums. Insgesamt elf reine Einser gibt es beim Abitur in der Spezialabteilung, zehn davon in der Mathematik-Informatik-Klasse. Dort beträgt der Durchschnitt 1,4 und auch die Sozialwissenschaften-Klasse bringt mit ihrem Resultat – 2,2 – das beste Ergebnis für eine SW-Klasse bislang. „Wir haben gesehen, was die Zahlen ausdrücken können. Eine interessante Frage ist aber, was die Zahlen nicht ausdrücken können“, sagt der DSA-Leiter. „Was so ein Zeugnis nicht ausdrückt, das ist mindestens genauso wichtig“, fügt er hinzu. Das Zeugnis zeigt beispielsweise nicht, ob jemand ein Einzelgänger oder ein Vermittler sei, ein Ideengeber, wie viel Glück schon jemand in seinem Leben hatte, ob er eine Familie hat, die ihn unterstützt oder die ihm Stress bereitet, ob er Freunde hat, die ihn wertschätzen oder ausnutzen, usw. „Wenn wir diese beeindruckenden Zahlen auf dem Zeugnis sehen, können wir nur bedingt sagen, das ist ein Gewinner“, hebt Frank Lembke hervor. „Ein echter Gewinner, ist jemand, der die Fähigkeit besitzt , sich selbst in einen glücklichen Zustand versetzen zu können“, sagt er. Gerade diese Fähigkeit wünscht Frank Lembke seinen Schülern. Lenau-Schulleiterin Simona Mateiu beglückwünscht die Absolventen und erwähnt den langjährigen Einsatz ihrer Vorgängerin, Helene Wolf, die u. a. zum Weiterbestehen der Deutschen Spezialabteilung beigetragen hat. Seit nunmehr 25 Jahren ist an der Nikolaus-Lenau-Schule – wie auch am Goethe-Kolleg in Bukarest – eine Deutsche Spezialabteilung im Betrieb. Das Interesse der Schüler für die Klassen dieser Abteilung ist nach wie vor groß.
Beeindruckende Reden halten Deutschlehrerin Lorette Cherăscu und Englischlehrer Cristian Șandor, die beiden Klassenlehrer der DSA-Abschlussklassen. „Gut für die Zukunft“, das Motto der MI-Klasse, nimmt Lorette Cherăscu grammatikalisch wie auch inhaltlich auseinander. Es ist das Motto, das sich die vormalige neunte Klasse, versteckt hinter Monitoren und Masken, selbst ausgewählt hat. „Liebe MI, ihr seid nicht gut, sondern sehr gut für die Zukunft“, sagt Lorette Cherăscu zum Schluss. Ihre sonst entschlossene Stimme zittert vor Aufregung. Englischlehrer Cristian Șandor spricht natürlich auf Englisch. „Das Einzige, was zählt, wenn ihr zurückschaut, ist stolz und glücklich über das, was ihr erreicht habt, zu sein“, sagt der Klassenlehrer. Schallender Beifall füllt den Raum.
Beeindruckend ist die Rede von Ärztin Carina Dragu, heute als Elternvertreterin dabei. Sie erzählt über ihre eigene Zeit an der „Lenau“, spricht von Professoren, die ihren Werdegang geprägt haben und erwähnt dabei Dorothea Radu, die beherzte Biologielehrerin, die durch ihre Unterrichtsart und vor allem durch ihre Menschlichkeit Dutzende von Generationen geprägt hat. „Ich wünsche jedem Schüler eine Thea Radu“, sagt Carina Dragu. Zu Wort kommt auch Laura Rudăreanu-Mihancea – ihr Sohn Bernard erhielt ein DAAD-Stipendium für ein Informatik-Studium in Deutschland, aber auch die beiden Schülerinnen Anita Crișan und Denisa Marcu – letztere ebenfalls DAAD-Stipendiatin.
Zum Schluss der offiziellen Reden werden den Schülerinnen und Schülern ihre Zeugnisse ausgehändigt, noch schnell einige Gruppenfotos geschossen. Die Feier endet mit einem kleinen Empfang im Foyer des AMG-Hauses. Für Eltern, Schüler und Lehrer beginnen nun endlich die Ferien – eine wohlverdiente Verschnaufpause nach dem Abi, das der Deutschen Spezialabteilung und der Nikolaus-Lenau-Schule in Temeswar erneut beeindruckende Ergebnisse beschert hat.