Hannelore Baier hat mit „Überwachung und Infiltration. Die Evangelische Kirche in Rumänien unter kommunistischer Herrschaft (1945 – 1969)“ eine umfängliche Dokumentation und Bewertung zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Rumänien (EKR) während der Jahre 1945 bis 1969 vorgelegt. Die Daten entsprechen der Wirkungszeit von Friedrich Müller-Langenthal (1884–1969) als Bischof der EKR. An seiner Person und an seinem Wirken stellt sie entscheidende Weichenstellungen in der Auseinandersetzung der EKR mit dem kommunistischen Staat und seiner atheistischen Ideologie dar.
Die jetzt zugänglichen Akten der Kultusoberbehörde und des Geheimdienstes Securitate ergänzen in wesentlichen Passagen das Zeitbild, das Glieder der EKR aus der schriftlichen Darstellung ihres Bischofs kannten und das doch zugleich auch als ein Versuch des Bischofs verstanden werden kann, das eigene Wirken etwas geglättet dastehen zu lassen.
Die Herausgeberin führt die Innensicht aus der kirchlichen Leitungsebene und die Vermerke und Aktionen der Securitate zu verschiedenen Auseinandersetzungen mit der EKR in das Feuer der Beurteilung durch beson-ders betroffene Pfarrer, bzw. deren Kinder, die von Müller meist als dem „roten Bischof“ sprachen. Die Quellenlage ist also weit gefächert. Zusätzlich schwierig wird ein Urteil über die taktierende Haltung Müllers, wenn die Verfasserin mancherlei psychologische Einblicke in die Persönlichkeitsstruktur und das manchmal steile Amtsverständnis Müllers gibt. „Friedrich Müller war lebenserfahren, mutig, schlau und gut informiert – und dadurch seinen Gegnern meistens einen Schritt voraus.“ (S. 132)
Welchen Wert aber haben solche Quellen? Wie sind sie zu lesen? Wieviel individuelle Betroffenheit einzelner darf das Zeitbild mitbestimmen? Darüber finden sich wichtige Passagen zu Beginn der Untersuchung.
Hannelore Baier gelingt mit dem Buch eine Kontextualisierung der unterschiedlichen Quellen. So entsteht ein differenziertes Bild vom kirchenpolitischen Handeln Müllers und von der identitätsstiftenden Bedeutung der EKR für die Siebenbürger Sachsen, die in zunehmendem Maße dem Druck des Staates nicht mehr standhielten und in die BRD abwanderten.
Mag sein, dass die vorliegende Untersuchung für viele Betroffene als Klärung ihrer eigenen Erlebnisse zu spät kommt. Mag sein, dass das Thema unter der deutschsprachigen Leserschaft nur ein kleines Echo hat. Aber es ist wichtig, dass die Zeit des Kampfes, des Taktierens und Bewährens des Bischofs einer rapid an Mitgliederzahlen abnehmenden Kirche gewürdigt wird. Sein Kampf galt einer Kirche, die sich wesentlich der Identität einer Volksgruppe verschrieben hatte. Das Buch führt die würdelose Machtpolitik des Staates und seines Geheimdienstes in erschreckender Weise vor Augen. Jeder Leser wird sich fragen: Wie hätte ich angesichts dieser z.T. existentiellen Anfeindungen als kirchlich Verantwortlicher gehandelt? Müller war als Person, als Bischof und als Kirchenpolitiker auch eine changierende Gestalt; nicht immer klar fassbar, lavierend und doch von Grund auf ein Diener seiner Kirche. Versagen und Schuld einzelner und der ganzen Kirche werden von der Verfasserin in diesem Zusammenhang beim Namen genannt. Und dennoch – oder gerade deswegen - wird mit diesem klaren und kritischen Blick in die jüngere Geschichte der EKR sichtbar, wie nah Gott seiner Kirche in schweren Zeiten war und wie sie Heimat für viele sein konnte.
Das Buch der Journalistin und Psychologin Hannelore Baier ist trotz der schwierigen Materie flüssig und gut lesbar geschrieben. Die Darstellung der öffentlichen und der geheimen Einflussnahmen des kämpferisch atheistischen Staates auf die kleine deutsche Minderheitskirche in Rumänien ist erschütternd. Der Abdruck vieler Dokumente des Schreckens auf 244 Seiten aus den Archiven der Securitate sind nun auf Deutsch zugänglich und machen sprachlos. Wer wollte angesichts solch massiver Angriffe des Staates auf Personen – besonders auf Bischof Müller – von den kirchlichen Verantwortlichen einen ständigen geradlinigen Widerstand erwarten? Beurteilt man die Reaktionen der kirchlich Verantwortlichen, so waren sie wohl immer dem politisch gerade noch Machbaren verpflichtet. Es begegnet uns Widerstand in vielen Facetten, vom seelsorgerlichen Einzelgespräch über Verlautbarungen der Kirche bis hin zu gewieften Verhandlungen mit den Machthabern unterschiedlicher Couleur.
Die EKR scheint in ihrem Überlebenskampf mit dem kirchenfeindlichen Staat und auch mit dem Exodus der Gemeindeglieder in einen letztlich lähmenden Konservativismus geraten zu sein. Die Kräfte für notwendige Erneuerungen in Theologie, Kirchenstrukturen und Ökumene scheinen gering geworden zu sein. Wie kann sich die kleingewordene EKR auf die neuen Herausforderungen ihrer Gemeindeglieder einstellen? Wie wird sie mit den ökumenischen Herausforderungen – etwa auch mit der Übermacht der Rumänisch-Orthodoxe Kirche - und der Durchmischung mit anderen Volksgruppen, u.a. auch sprachlich umgehen?
Das Buch von Hannelore Baier hat eine äußerst hilfreiche Aufarbeitung einer Epoche kirchlichen Lebens in einer Grauzone zwischen dem Versuch der Gleichschaltung durch den Staat und dem Überlebenswillen einer eigenständigen Minderheitskirche geleistet. Mögen die Erkenntnisse Mut machen zu einer Transformation von einer identitätsstiftenden deutschen Kirche der Siebenbürger Sachsen hin zu einer Kirche der evangelischen Freiheit in ökumenischer Weite.