Prof. Dr. Dr. Rainer Bendel ist katholischer Theologe und Historiker. Als Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Vertriebenenorganisationen und des St.-Gerhards-Werks in Stuttgart engagiert er sich seit vielen Jahren für die katholische Vertriebenenarbeit. Kommende Woche wird er mit einer Delegation in Temeswar/Timișoara zu Besuch sein, um bestehende Kontakte zu pflegen und neue Kooperationen zu erkunden. Im Gespräch mit ADZ-Redakteurin Raluca Nelepcu schildert er seine persönlichen Beweggründe, aktuelle Projekte sowie die Herausforderungen der historischen Bildungsarbeit im europäischen Kontext. Das Interview wurde anlässlich der internationalen Forschungstagung „Religiöses Leben zwischen den beiden Weltkriegen“ im Haus der Donauschwaben in Sindelfingen Mitte Mai aufgenommen.
Herr Dr. Bendel, was hat Sie persönlich zur Vertriebenenarbeit und zur katholischen Verbandsarbeit geführt?
Es sind eigentlich zwei Motive. Das eine ist ein biografisches Motiv, dass meine beiden Elternteile eben auch Vertriebene waren, aus Böhmen. Das zweite ist ein wissenschaftsbiografisches Motiv, dass ich mich in meiner Dissertation mit der Aufklärungszeit in Schlesien und mit den Schlesiern eben auch mit einer starken Gruppe von Vertriebenen beschäftigt habe, die, gerade was den Katholizismus anlangt, ja auch sehr viele Impulse in den deutschen Katholizismus überhaupt eingebracht haben – von den Benediktinern in Grüssau mit der liturgischen Bewegung über Quickborn und Jugendbewegung, etc. Ich bin so von meinen Themen in der wissenschaftlichen Arbeit zur Verbandsarbeit gekommen, weil eben die Verbände ja immer auch Bildungsveranstaltungen oder historische Tagungen anbieten. Und da bin ich auf diesem Gleis hängengeblieben oder weitergefahren – je nachdem, wie man es sehen will.
Welche Ziele verfolgt denn die AKVO heute?
Es sind zwei Themenschwerpunkte, die uns beschäftigen. Der eine bezieht sich auf die sogenannte „Erlebnisgeneration“. Das heißt, deren Erwartungen und Wünsche wollen entsprechende Berücksichtigung finden, deswegen werden auch die klassischen Angebote (Anm.: Kultur- und Bildungsprogramme, Veranstaltungen) nach wie vor formuliert. Das Angebot geht zurück, weil die Betroffenen eben auch deutlich weniger werden – entweder, weil sie bereits gestorben sind oder weil sie eben nicht mehr so mobil sind, dass sie zu den Veranstaltungen kommen können.
Der zweite Themenschwerpunkt ist die Frage, was aus diesem Erbe der nach 1945 hinzugekommenen Katholikinnen und Katholiken noch erwachsen kann? Was damit passieren soll, damit die Erfahrungen nicht irgendwo nur so ins Leere laufen. Das heißt zum einen die Frage: Wie gehe ich mit Vertreibungs- und Integrationserfahrung um? Und das heißt zum anderen: Was passiert mit dem, was diese Menschen mitgebracht haben? Wenn ich jetzt eben liturgische Bewegung, wenn ich Jugendbewegung angeschnitten habe, wenn ich denke, was an kultureller Vielfalt aus dem sudetendeutschen Katholizismus kam, was das Spezifikum am Beitrag derer war, die aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Ungarn oder später dann eben auch aus Rumänien kamen – was hier alles eingebracht wurde –, das muss doch irgendwo auch weitergeführt werden. Da ist Aufgabe der Dokumentation, eben dort, wo etwas abbricht, zumindest das Interesse des Historikers, das zu sammeln, zu bewahren, was an Spuren davon bewahrt werden kann, damit sich auch spätere Generationen damit auseinandersetzen können. Und das andere ist eben auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser kulturellen Vielfalt, die ja bei vielen Lehrstühlen etc. nicht unbedingt im Vordergrund steht. Das heißt also, es braucht meiner Meinung nach schon auch einen eigenen Impuls, die Themen im Diskurs zu halten und sich damit auseinanderzusetzen. Und dafür muss es auch entsprechende Angebote geben.
Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Bereich – dass sich eben auch die nachkommenden Generationen mit der kulturellen Vielfalt in diesen Regionen, wo ehemals Deutsche gelebt haben, auseinandersetzen können. Deswegen erarbeiten wir auch die Angebote für Studierende und Schüler, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen.
Bildungsarbeit spielt eine zentrale Rolle in Ihrer Organisation. Wie reagieren junge Menschen auf das Thema „Flucht und Vertreibung“?
Ganz unterschiedlich, aber überraschenderweise sind sehr viele sehr aufgeschlossen. Also, ich erinnere mich an einige Gruppen, Abiturientenklassen, wo ich sehr überrascht war, was die an Kenntnissen mitgebracht haben und an eigener Fragestellung. Das war letztlich nicht ich, der sie zu dem Thema hingebracht hat oder gedrängt hat, sondern es waren sie, die mit ihren Fragen kamen. Das war in Niedernau, wo ja die Schwestern aus Südungarn und aus der Batschka sich niedergelassen haben und tätig waren. Das war der Ausgangspunkt, also der ganz konkrete Ort, wo wir waren. Wie kamen die dorthin? Warum kamen sie dorthin? Kamen sie freiwillig oder wo lagen die Motive? Und wir kamen dann von diesen Schwestern aus der Batschka und aus Südungarn bis zu den Verschleppungen der Russlanddeutschen in der Stalin-Ära. Und die wussten von den Beneš-Dekreten genauso Bescheid, wie sie eben von der Situation der Ungarndeutschen und auch der rückkehrenden Ungarndeutschen – also das ist selbst bei uns vielen ein fremdes Kapitel – Bescheid wussten.
Ich war davon sehr überrascht, und das war kein Einzelfall. Von daher meine ich, da hat sich vieles entkrampft, und da ist eine Offenheit und auch die Bereitschaft, hier mehr erfahren zu wollen und sich damit auseinanderzusetzen. Weil es halt auch zu unserem Europa gehört – und das ist ja die andere Dimension, die mir in der Arbeit auch immer sehr wichtig ist: die Vielfalt in Europa zu unterstreichen und vor allen Dingen den Austausch in Europa, der nicht nur ein Phänomen der EU ist, sondern der wirklich eine lange Tradition in Europa hat und der im Grunde auch die fruchtbarsten und anregendsten – und für die Menschen erträglichsten – Phasen der Geschichte bezeichnet, dort, wo der intensive Austausch stattgefunden hat.
Stichwort „Europa“: Was kann die heutige Gesellschaft aus der Erfahrung der Vertriebenen für den Umgang mit aktuellen Migrationsbewegungen lernen?
Manches – und vieles auch nicht, weil jede Situation auch wieder neu ist. Aber auf der anderen Seite gibt es gewisse Dinge, die auch immer wieder ähnlich ablaufen. Zum einen, dass Integration kein Selbstläufer ist, sondern dass Integration immer Anstrengung von allen beteiligten Parteien erfordert. Denn Integration war auch dort schwierig, wo man meinte, die sprechen die gleiche Sprache und haben die gleiche Religion. Auch da gab es, zum Teil, böse Verwerfungen. Wenn man sich diese Prozesse anschaut, kann man durchaus einiges erkennen, was dafür notwendig ist. Und da gehört auch wieder Bildung dazu.
Das war im Grunde eines der ersten zentralen Anliegen der Vertriebenenorganisationen – gerade der kirchlichen Vertriebenenorganisationen. Man muss bilden – natürlich, um zu bewahren, das war ein ursprüngliches Interesse, dass man auch seine Eigenart entsprechend kennt und weiterpflegt, aber man muss eben auch bilden, um in der Aufnahmegesellschaft das Bewusstsein für die Eigenart der Hinzugekommenen zu schaffen. Dass sich dann auch die Akzeptanz des Anderen entwickeln kann – ich würde es als Bildung bezeichnen – war von vornherein ganz wichtig bei diesen Prozessen.
Was meinen Sie: Wie kann die Vertriebenenarbeit auch nach dem biologischen Ende der Erlebnisgeneration lebendig bleiben?
Nur so, dass sich eben auch die nächsten Generationen mit dem Erleben der Vertriebenen – soweit es dokumentiert wurde, und es wurde ja und wird immer noch relativ breit dokumentiert – auseinandersetzen. Oder eben, wie gesagt, mit dem, was Vertreibung an sich bedeutet und heute für viele Menschen bedeutet. Und ich bin der Überzeugung, das Thema „Migration“ oder „Flucht und Vertreibung“ wird kein Ende nehmen – es wird die Menschheitsgeschichte immer begleiten. Zum anderen eben auch, dass man sich mit Geschichte und Kultur der Herkunftsregionen auseinandersetzt. Das sollte eine wichtige Aufgabe bleiben.
Inwiefern besteht Interesse seitens junger Forscher, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen – Flucht, Vertreibung, Migration?
Das ist in der Tat ein sehr schwieriges Thema, und es sind nicht die Massen, die sich damit auseinandersetzen. Aber überraschenderweise gibt es immer wieder die eine oder den anderen, die das Thema aufgreifen. Ich halte es vor allen Dingen für ganz wichtig, dass wir das nie irgendwo nur in der Blase tun, sondern immer im Austausch mit anderen. Deswegen sind mir auch die internationalen Tagungen sehr wichtig, damit wir eben sehen, wie gehen die Kolleginnen und Kollegen in den Herkunftsregionen an die Themen ran – und auch an das Material.
Welchen Stellenwert nimmt das St. Gerhards-Werk innerhalb der AKVO ein?
Das ist insofern eine schwierige Frage, als ich ja vom ehemaligen Ostpreußen bis zu den Deutschen aus Rumänien kirchlicherseits für alle zuständig bin. Ich versuche, hier niemanden zu bevorzugen und niemanden zu benachteiligen – was sicherlich nicht immer gelingt. Es geht mir nicht um die Statistik, sondern mir geht es eben gerade um das sogenannte kulturelle Erbe, auch um das Miteinander mit den Völkern. Und da sind sie mir letztlich alle gleich. Es ist genauso wichtig, mit den Polen ein gutes Nachbarschaftsverhältnis zu pflegen wie mit den Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Rumänien. Das heißt, es ist eben eine ganze Reihe von Ländern, die als Kooperationspartner dazugehören. Gerade unter dieser Prämisse ist mir das St.-Gerhards-Werk wirklich sehr wichtig: dass wir mit diesen Ländern auch in Kontakt sind oder den Kontakt sogar noch intensivieren. Deswegen fahren wir ja auch vom Vorstand her jetzt zum dritten Mal in die Region, nach Rumänien, um zu schauen: Wo wird es gewünscht? Wo können wir mit unseren Möglichkeiten etwas tun, um den Kontakt zu halten und auszubauen?
Zu welchen Institutionen, Organisationen vor Ort haben Sie dann Kontakt?
Vor allen Dingen zu kirchlichen Institutionen. Das liegt ganz einfach in der Natur des kirchlichen Vereins, der dahintersteht. Und da sind es vor allem eben die Bistumsleitungen, weil wir meinen, dort könnte am ehesten ein Überblick darüber sein, wo es sinnvoll ist, sich zu engagieren. Und dann eben der Kontakt zum Schulbereich – um auch mit Schülern und Studierenden im Gespräch über die Themen zu sein.
Welche Projekte setzt die AKVO derzeit und bzw. was wird geplant für die Zukunft?
Wichtige Projekte sind natürlich unsere Tagungen. Dann eben diese Tagungsbände – jetzt gerade für den Südosten – die mir schon sehr wichtig sind. Und die wir auch dann, wenn wir im kommenden Herbst die letzte Tagungseinheit haben, relativ rasch zur Publikation vorbereiten wollen. Zum anderen eben diese Arbeit mit Studierenden, Jugendlichen. Und zum dritten die Frage, wo können wir noch dokumentieren, solange wir Zeitzeugen haben, und wie gestalten wir Erinnerungsorte, um zur Erinnerungskultur beizutragen. Nicht nur mit der klassischen Form von Wallfahrt, sondern eben auch, dass wir an den Orten, die wichtig waren für die Erinnerung an Flucht, Vertreibung und Integration, Ereignisse – auch religiöse Feiern – gestalten, die dem Thema gerecht werden, aber eben auch dem Wunsch derer, die sich heute erinnern und gedenken, gerecht werden. Ich bin da gerade auch mit dem Deutschen Liturgischen Institut in Trier – der dortige Leiter kommt auch aus einem Vertriebenen-Kontext – in engem Austausch, um zu überlegen: Welche liturgischen Formen können wir da auch finden, die auch Jugendliche ansprechen? Also wenn wir in Niedernau sind mit den Schülern und Studierenden – dort gibt es eine Kapelle: Wie nutzen wir diesen Gottesdienstort für diese Thematik?
Sie werden Mitte Juni mit einer Delegation vom St. Gerhards-Werk im Banat zugegen sein. Was steht dann auf dem Programm?
Da steht ein Gespräch mit dem Direktor des katholischen Gerhardinum-Lyzeums in Temeswar auf dem Programm, um auch diese Kooperation weiterzuführen, eventuell auch auszubauen. Auch zu schauen, wo kann man sich vernetzen – also wo kann man noch andere Leute, katholische Schulstiftung, Renovabis oder ähnliches mit ins Boot holen. Dass möglichst viele die Themen sehen und auch die Zusammenarbeit mittragen. Nicht nur das St.-Gerhards-Werk, sondern das ist eine gesamtkirchliche Aufgabe, meine ich. Denn katholisch heißt ja gerade, sich nicht aufs Nationale zu fokussieren, sondern den Blick für das Weitere offen zu halten. Deswegen ist es wichtig, dass wir da auch andere mit ins Boot nehmen oder mit im Boot halten. Also z.B. war jetzt aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart eine Gruppe vom Verband Katholisches Landvolk in Sanktanna, in Arad, gewesen. Das sind so Dinge, wo ich denke: Entwicklung ländlicher Raum ist in Rumänien eine Frage und ist bei uns eine Frage. Religiosität auf dem Lande ist in Rumänien eine Frage und bei uns eine Frage. Da kann man sich durchaus austauschen. Und so, wie ich gehört habe, waren das auch interessante Gespräche und der Kontakt bleibt. Das müssen wir weiter pflegen. Das ist eben auch gerade in diesen Gesprächen der Delegation ein ganz wichtiges Anliegen: zu sondieren – wo sind drängende Fragen bei euch? Wo sind drängende Fragen bei uns? Was können wir an Schnittmengen finden und wo setzen wir dann an?