Liebe Musikfreunde, wie stellen Sie sich eine Kantate vor? Vielleicht ist der Inbegriff davon für Sie die Bach-Kantate, ein Werk für Soli, Chor und Orchester oder zumindest ein kleines Instrumentalensemble. Bei der Besetzung eines solchen Werkes rechnen Sie mit mindestens 15 bis 20 Leuten. Nun, es geht auch mit noch weniger, das stellte das Ensemble CANTATE DOMINO am Samstag, dem 12. August, in Heldsdorf/Hălchiu unter Beweis. Ursula und Kurt Philippi (Orgel und Cello), die einzigen festen Mitglieder des Ensembles, gewannen für dieses Projekt noch weitere sechs Musiker: die Sänger Melinda Samson (Sopran) und Matthias Weichert (Bass), die Hermannstädter Philharmonie-Mitglieder Iuliana Cotârlea (1. Geige), Mihail (2. Geige) und Gabriel Silişteanu (Bratsche) sowie Klaus Philippi (Oboe).
Vorgetragen wurden eine Kantate, „Liebster Jesu, mein Verlangen“ und Präludium und Fuge in G-Dur von Johann Sebastian Bach auf der vor 10 Jahren restaurierten Thois-Orgel. Den krönenden Abschluss des Konzertes bildete jedoch die Uraufführung des Werkes „Liebe lebt auf. Choralbearbeitung für Sopran- und Bariton-Solo, Oboe, Streichquartett und Orgel“ von Hans Peter Türk. Was haben nun die beiden so verschiedenen vokal-instrumentalen Werke gemeinsam?
Da ist einerseits die Besetzung. Bei Türks Choralbearbeitung handelt es sich um ein Auftragswerk von Kurt Philippi, das sich der Besetzung der Bach-Kantate anpassen sollte.
Aber auch die Begriffe Verzweiflung und Trost spielen in beiden Stücken eine zentrale Rolle. Bei Bach handelt es sich um ein Concerto in dialogo, bei dem die reuige Seele ein Gespräch mit Jesus führt. Sie möchte wissen, wo sie ihn suchen soll, da er so bald von ihr gehen wird. Jesus tröstet sie und versichert ihr, dieser Ort sei „meines Vaters Stätte“ und „Wirst du den Erdentand verfluchen und nur in diese Wohnung gehn, so kannst du hier und dort bestehn.“ Nach allen Zweifeln erreicht die Kantate ihren Höhepunkt im Duett „Nun verschwinden alle Plagen, nun verschwindet Ach und Schmerz“ und im abschließenden Choral bittet der reuige Christ wie ein Kind Gott um Hilfe, dass er ihn „nicht mehr betrübe“.
Hans Peter Türk greift in seinem Werk zu einem Text von Jürgen Henky von 1978, der auf dem englischen „Now the green blade rises“ von John Macleod Campbell Crum (1928) basiert. Die Melodie geht auf ein französisches Weihnachtslied aus dem 15. Jahrhundert zurück, „Noël nouvelet“. Der Komponist hat eine Vorliebe für gewaltige Texte und die Melodie des Weihnachtsliedes erscheint hier im neuen Gewande, um die Osterbotschaft zu verkünden: „Über Gottes Liebe brach die Welt den Stab, wälzte ihren Felsen vor der Liebe Grab. Jesus ist tot. Wie sollte er noch fliehen? (…) Im Gestein verloren Gottes Samenkorn, unser Herz gefangen in Gestrüpp und Dorn, hin ging die Nacht, der dritte Tag erschien: Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“
Türks Werk ist wie eine Miniatur, man wird anhand mehrerer kurzer Variationen durch verschiedenste Stile und Stimmungen geführt – und dann … ist es schon vorbei! Mit leeren Quint- und Quartklängen beginnt das Werk wie von ferne, zu denen die Orgel sich mit einer modalen Melodie gesellt. Teile des Textes, abwechselnd von Sopran und Bass vorgetragen (wobei die Reihenfolge niemals dem Zufall überlassen wird), werden verbunden durch kurze instrumentale Intermezzi, bei denen jedes Instrument zur Geltung kommt. Der in Klausenburg/Cluj lebende Siebenbürger Hans Peter Türk ist ein deutscher Komponist aus Südosteuropa – der Bachverehrer meets Bartók, Kódaly oder Enescu (letzteren z. B. in einigen Unisono-Passagen). „Liebe lebt auf“ ist symmetrisch aufgebaut, aber umgekehrt als bei Bach lässt der Sopran uns hoffen („Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt“ – danach spielen die Streicher einige tänzerische Takte.), der Bass jedoch, von bedrohlichen Orgelklängen begleitet, stürzt uns in tiefste Verzweiflung: „Jesus ist tot.“ Am Ende trösten uns endlich beide zusammen mit Nachdruck, indem sie zweimal wiederholen: „Liebe ist wie Weizen und ihr Halm ist grün.“
Die Musiker überzeugten durch die Ausgewogenheit ihres Gesanges und ihres Spiels. Für jede Stimme gab es nur einen Ausübenden in diesem Konzert, was natürlich die Verantwortung des Einzelnen verstärkt. Meisterhaft haben die Sänger und Instrumentalisten gezeigt, was jeder von ihnen können muss: alles geben, wenn man das Solo hat, und sich stark zurücknehmen, wenn ein anderer an der Reihe ist. Die Stimmen von Melinda Samson und Matthias Weichert ergänzten sich perfekt. Wo sie einmal kurz die Gelegenheit hatten, stellten die Instrumentalisten ihre Virtuosität unter Beweis – aber alles in dem Bestreben, EINEN Klangkörper zu ergeben. Was wird den zahlreichen Zuhörern nach diesem Konzert, das während des Heldsdörfer Treffens stattfand, in Erinnerung bleiben? Dass wir bei der Bach-Kantate den Choral mitsingen durften, eine Praxis, die zur Bach-Zeit möglicherweise gang und gebe war – und dass Hans Peter Türk uns wieder mit einem eindrucksvollen Werk beschenkt hat, dem man nur eines vorwerfen kann: es ist zu kurz! Wir wünschen uns eine Wiederholung, eine Verlängerung, eine Aufnahme davon, aber auch gleich das nächste. Aus gesundheitlichen Gründen konnte der Komponist der Uraufführung von „Liebe lebt auf“ leider nicht beiwohnen, aber wir bedanken uns herzlich und wünschen ihm noch viel Schaffenskraft!