Deutschland als Vorbild und Motor der EU? Oder: vor Flutkatastrophe nicht früh genug gewarnt, eine Bundeswehr wie eine Dorfarmee und im Blindflug durch die Pandemie... In „Staatsversagen. Wie unsere Politik Deutschland vor die Wand fährt“, nimmt der freie Autor und Journalist Hans-Jürgen Moritz kein Blatt vor den Mund. Immerhin schreibt er seit mehr als drei Jahrzehnten über das Zeitgeschehen aus Berlin, Bonn, Washington DC und Brüssel, für Associated Press, Reuters, Voice of America und Focus. In seiner Streitschrift stellt er die These auf: Deutschland ist nicht mehr, was es war...
„Wir verließen uns wohl zu lange darauf, dass schon auf ewig stimmen würde, was die anderen und auch wir gerne selbst von uns dachten: Die Deutschen, nach denen kannst du die Uhr stellen. Doch nicht nur der beklagenswerte Zustand der Deutschen Bahn beweist, dass davon keine Rede mehr sein kann, die Zeiger vielmehr fünf vor zwölf stehen für uns. Unser einst allenthalben bewundertes, gut funktionierendes Staatswesen produziert Staatsversagen, zerbröselt unsere vernachlässigte Infrastruktur, während wir zu oft schulterzuckend zusehen und uns Diskussionen darüber aufzwingen lassen, wie viele tatsächliche oder vermeintliche Geschlechter unsere behäbige staatliche Verwaltung bei der Feststellung des Personenstands wohl anerkennen sollte.“ Der Satz sitzt, provoziert, macht neugierig auf mehr - und Moritz teilt gerne weiter aus: „Wir leben nur noch von unserem Ruf“, heißt es gleich in der Einleitung, wo der Autor verrät, wie das Buch entstanden ist: Beim Schnapstrinken mit seinem Schwager in seinem Ferienhaus in Siebenbürgen, 15 Kilometer von Hermannstadt/Sibiu, mitten auf dem Land. „Wir redeten davon, wie die Mobilfunk- und Internetabdeckung an unserem Rückzugsort, wo Ziegen- und Schafherden vorbeiziehen, die in Deutschland um Längen schlägt - in Rumänien, einem Land, das zu den ärmsten Europas zählt, von Korruption geschüttelt ist und bei der EU-Ost-Erweiterung 2007 eigentlich nicht beitrittsfähig war.“
Während hierzulande die vielgerühmten „deutschen Tugenden“ wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Planung, Ehrlichkeit und Gründlichkeit einer verschwindend kleinen deutschen Minderheit, die daran noch festhält, das Vertrauen der Mehrheitsgesellschaft bescherten – immerhin war Klaus Johannis jahrelang Bürgermeister Hermannstadts und wurde sogar Staatspräsident – sind die deutschen Qualitäten im Ursprungsland längst verschüttet, behauptet Moritz. „Von diesem Phänomen handelt dieses Buch.“
Sein bissiger Rundumschlag beginnt mit „unseren Autobauern, Aushängeschild des Landes“: Während sie beheizbare Lenkräder und betrügerische Mechanismen zur Umgehung von Abgasnormen ertüftelten, verschliefen sie den Einstieg ins Elektro- und Wasserstoffzeitalter.
Die Bundeswehr: kaputtgespart. Wellen von Bildungsreformen: Sie endeten im PISA-Schock. Und während Verbrecher Kryptohandys benutzen, überwacht die Polizei das Festnetz. Dafür toben „wahre Glaubenskämpfe um die Frage, wie viele Doppelpunkte und Sternchen die deutsche Sprache wohl braucht, um zu einem herrschaftsfreien Kommunikationsmittel zu werden“.
In vier Kapiteln untermauert Moritz mit zahlreichen Beispielen seine Thesen. Teil 1: die deutschen Mythen, „wahrer Kern“ – „aber überhöht“. Statt dessen: „Rumpelfußball“, stumpfe Messer „Made in Germany“ und Panzerhaubitzen, die nach einem Monat Dauereinsatz in der Ukraine reparaturbedürftig sind... Teil 2, „die da oben sind an allem schuld“, rechnet mit Politikern ab, die ganze Heerscharen an Beratern halten und sich trotzdem alles zutrauen, an ihren Stühlen kleben und an den richtigen Stellen zu wenig, an den falschen zu viel Einsatz zeigen. Teil 3 nimmt den Beamtenstand ins Visier, Teil 4 die Bürokratie in der Bundeswehr, die überforderte Polizei und Justiz, die Flutkatastrophe, die Pandemie, die Infrastrukturpolitik. Kein Thema entgeht der spitzfindigen Feder des Autors, der dennoch klarstellt: „Es geht nicht darum, das Land in Bausch und Bogen schlechtzumachen.“ Um dann süffisant hinzuzufügen: „Diese Mühe nimmt einem jedoch in Teilbereichen leider die Realität ab.“ Die Quittung für das Staatsversagen sei die steigende Wählerschaft der AfD. „Märchenland“ – das Märchen vom reichen Land, das sich alles leisten kann – „ist abgebrannt“. Droht nun der „Staatsinfarkt“?
Ganz so pessimistische gibt sich Moritz am Schluss dann doch nicht. Noch bedrohe keines der in diesem Buch geschilderten Probleme für sich allein genommen essenziell. Bedenklich sei jedoch ihr Anstieg und Zusammenwirken. Am Ende inspiriert wieder ein Siebenbürgen-Erlebnis zum Vergleich – das Auto im Schlagloch liegengeblieben, Anwohner, Bauarbeiter, Ziegenhirte helfend herbeigeeilt, was wäre wohl in derselben Lage in Deutschland geschehen? – und zu der Frage: „Wie wollen wir alle zusammen unseren Karren aus dem Dreck ziehen?“