Cristian Mungius neuester Film „Bacalaureat“ (Abitur), für den der bekannte rumänische Regisseur jüngst beim Internationalen Filmfestival in Cannes mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde, trifft die rumänische Gesellschaft ins Herz. Es gibt wohl keinen zweiten neueren rumänischen Film, der den gegenwärtigen Gesellschaftszustand Rumäniens so unprätentiös, so ungekünstelt, so unmittelbar, so direkt und so authentisch auf die Leinwand gebannt hätte wie der national und international akklamierte Film „Bacalaureat“, an dessen Entstehung Cristian Mungiu als Regisseur, Drehbuchautor wie auch als Produzent mitgewirkt hat.
Der mit 128 Minuten überlange Streifen hält den Zuschauer von Anfang bis zum Ende in atemloser Spannung gefangen. Es ist aber nicht die Spannung eines Thrillers, eines Krimis oder eines Horrorfilms, sondern die nach innen gewendete Spannung quälender Ausweglosigkeit, wie wir sie etwa von den Dramen Tschechows her kennen. Die Reifeprüfung, um die es hier geht, ist nicht die Geschichte einer individualistischen Selbstfindung wie in dem berühmten Spielfilm „The Graduate“ von Mike Nichols aus dem Jahre 1967 mit Dustin Hoffman in der Hauptrolle, sie kreist auch nicht um das kollektive Aufbruchsgefühl der jungen Generation wie in Nicolae Corjos’ immer wieder gezeigtem Liebesfilm „Liceeni“ aus dem Jahre 1986, vielmehr rückt Cristian Mungius „Bacalaureat“ alles auf den Prüfstand: das einzelne Individuum, die Familie, die Gesellschaft, die verschiedenen Institutionen und den Staat in seiner Gesamtheit.
Demzufolge schlingen sich hier mehrere Themen- und Motivstränge in vielfältiger Weise ineinander. Der Erziehungsstil der überfürsorglichen Überbehütung, die Overprotection der Helicopter Parents, wie wir sie von Călin Peter Netzers Film „Poziţia copilului“ (Mutter&Sohn) her kennen, der 2013 auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären prämiert wurde, ist in „Bacalaureat“ ebenso präsent wie das familienpsychologische Phänomen, dass Eltern ihre eigenen Wünsche und Lebensträume auf ihre Kinder projizieren und von jenen dann erwarten, dass sie diese folgsam ausagieren und stellvertretend erfüllen. Auf der Ebene der Gesellschaft ist das beherrschende Thema in „Bacalaureat“ die mit dem Titel einer Erzählung von Ion Luca Caragiale versöhnlich so bezeichnete „Kette der Schwächen“ (Lanţul slăbiciunilor), die auf der Ebene des Staates aber nichts anderes meint als die hässliche Fratze der Korruption, die Werte wie soziale Gerechtigkeit, Leistungsethos und Gleichheitsdenken pervertiert und Machtmissbrauch wie Willkürherrschaft perpetuiert.
Die Hauptfigur des Films ist deshalb auch nicht die Abiturientin Eliza (Maria Drăguş), die ein gutes Maturum schaffen muss, um ihr Studium der Psychologie im englischen Cambridge absolvieren zu können; es ist auch nicht die Mutter Magda (Lia Bugnar), die in einer siebenbürgischen Kleinstadt am Fuße der Fogarascher Berge ein honettes, aber armseliges Dasein als Bibliothekarin fristet; die Hauptfigur ist vielmehr der Arzt und Familienvater Romeo (Adrian Titieni), der 1991 mit seiner Frau ins postrevolutionäre Rumänien zurückgekehrt ist, um ehrliche und anständige Aufbauarbeit zu leisten, sich aber nach und nach um alle seine Hoffnungen betrogen sieht. Allein der mit allen Mitteln herbeizuzwingende Erfolg seiner Tochter, d. h. ihre von langer Hand geplante Flucht aus den rumänischen Lebensverhältnissen, kann ihn psychisch noch retten. Er selbst flieht aus seiner unglücklichen Ehe in die Arme der alleinerziehenden Lehrerin Sandra (Malina Manovici), ohne jedoch diese Beziehung bejahen zu können und sich öffentlich zu ihr zu bekennen.
Der dramatische Knoten des Films „Bacalaureat“ wird durch ein schwerwiegendes Ereignis, die versuchte Vergewaltigung Elizas durch einen Unbekannten, geschürzt, was eine Reihe von Konflikten mit weitreichenden Folgen nach sich zieht. Aufgrund ihrer physischen und psychischen Verletzungen läuft Eliza plötzlich Gefahr, die für das Auslandsstudium notwendige exzellente Abiturnote zu verfehlen. Um den Traum vom Auslandsstudium der Tochter doch noch zu verwirklichen, wird Romeo seinen eigenen ethischen Grundsätzen untreu und lässt sich korrumpieren, besser gesagt: er korrumpiert sich selbst. Er verschafft einem korrupten Staatsdiener, dem Vizebürgermeister Bulai (Petre Ciubotaru), auf illegalem Wege eine Spenderleber und erhält als Gegenleistung die Zusicherung, dass die Tochter das Abitur mit der erforderlichen Note bestehen wird. Damit wird er selbst jedoch in den Augen seiner Tochter unglaubwürdig, die von ihren Eltern bewusst im Geiste von Werten wie Korrektheit, Ehrlichkeit und Anständigkeit erzogen wurde.
Weitere Handlungsmomente tragen zur Steigerung der Dramatik des Filmgeschehens bei: Elizas Großmutter (Alexandra Davidescu) bricht bewusstlos zusammen, während Romeo mit der Lehrerin seiner Tochter fremdgeht; der Chefinspektor (Vlad Ivanov), Romeos Schulfreund, zieht seinen alten Klassenkameraden in den Organspendeskandal hinein, wäscht aber, als es darauf ankommt, seine eigenen Hände in Unschuld; zwei Staatsanwälte, die den Fall Bulai untersuchen und Romeo als Zeugen vernehmen, drohen ihm einen gesonderten Strafprozess an, wenn er sich bei den Ermittlungen nicht kooperativ zeigt. Die bewegendsten Momente des Filmes sind freilich diejenigen, wo die Maske der gesellschaftlichen Contenance brüchig wird und das Leiden unverhüllt und eruptiv aus den jeweiligen Figuren herausbricht. So fährt Romeo beispielsweise eines Morgens mit dem Auto einen Hund an und bricht, als er ihn bei nächtlicher Suche unweit der Unfallstelle tot findet, in heftiges Schluchzen aus; so erleidet Romeos Frau Magda einen Weinkrampf, als er sie, die er bislang links liegen ließ und der er immer nur blasiert oder aggressiv entgegentrat, plötzlich um Verzeihung bittet und körperlich berührt; so heult Eliza, nachdem sie am Tage Opfer jener sexuellen Nötigung wurde, des Nachts herzzerreißend in ihr Kissen.
Die unerträgliche Spannung wird außerdem durch bedrohliche Geschehnisse noch gesteigert, die im Film wie Naturereignisse wirken: die Fensterscheibe zu Romeos Wohnung wird (in der grandiosen Auftaktszene des Films) plötzlich eingeworfen; die Scheibenwischer von Romeos Auto sind eines Morgens hochgeklappt; ein Seitenfenster seines Wagens zersplittert infolge eines gezielten Steinwurfs. Diese und andere Vorkommnisse werden zu Symbolen einer anonymen Gewalt, die die Gesellschaft auf das Individuum ausübt und es so zum Opfer macht. Als könne er diesen anonymen Gegner bezwingen, stürzt sich Romeo wahllos auf andere Menschen, die er willkürlich verdächtigt und gewissermaßen für seine eigene Hilflosigkeit verantwortlich macht: so etwa auf Elizas Freund Marius (Rareş Andrici) oder auf einen wildfremden Mann, den er bei der polizeilichen Gegenüberstellung als den sexuellen Aggressor seiner Tochter identifizieren zu können meint. Die bewegliche Handkamera, die grandios komponierten und doch absolut natürlich wirkenden Szenen, der begeisternde Soundtrack und die hervorragenden Leistungen aller Schauspieler, insbesondere des Protagonisten Adrian Titieni, machen „Bacalaureat“ zu einem auch in ästhetischer Hinsicht überzeugenden Film, dem man nur wünschen kann, dass ihn möglichst viele Menschen innerhalb und außerhalb Rumäniens sehen.