Schützende Hand über dem Lebensfunken

ADZ-Reihe „Kultur der Vielfalt“ – Teil 3/6: Die Buchenlanddeutschen in Suceava

Antonia-Maria Gheorghiu

Die evangelische Kirche in der Strada Armenească | Fotos: George Dumitriu

Es ist bitterkalt an diesem frühen Oktobermorgen in der Strada Armeneasc˛ in Suceava: Sonne mit Zähnen. Wir – eine Handvoll Journalisten, Kameraleute, Radioreporter aus Bukarest – warten vor Haus Nr. 16 auf die Protagonistin der nächsten eineinhalb Stunden. Es ist der vierte mit Reportagen vollbepackte Tag auf der vom Departement für Interethnische Beziehungen (DRI) organisierten Reise auf den Spuren der nationalen Minderheiten in der Moldau und Bukowina. Zuvor hatten wir die pittoreske Welt der Armenier, der Lipowaner, der Polen, der Ukrainer und Huzulen eingefangen, gleich besuchen wir noch die Juden in der Synagoge Gah. Eine Tour, auf der so manche bunte Geschichte entsteht, die Lust machen wird auf Reisen und Besichtigungen, auf ein Hineinschnuppern in eine der Öffentlichkeit sonst eher verborgene Welt. Doch dieses Treffen wird anders, das ahne ich schon...

Im ungeheizten Forumshaus öffnet uns eine Frau in Mantel und Mütze. Sie wird diese auch in den nächsten eineinhalb Stunden nicht ablegen. Niemand von uns traut sich, über die Kälte zu jammern. Mit lebhaften Augen beginnt sie zu erzählen. Schon ziehen uns ihre wasserblauen Augen, die Mimik drumherum, die lebhaften Gesten, die flüchtige Traurigkeit, immer wieder weggescheucht von sprühenden Hoffnungsfunken, in ihre Geschichte hinein... Und auf einmal überstrahlt sie für einen Moment die pittoreske Leuchtkraft der anderen Reportagen – die goldgerahmten Ikonen und prachtvollen Altäre, die bunten Trachten und filigranen, wachsverzierten Eier, die reichbeschnitzten Schreine und Ölbilder aus dem heiligen Land, die flaumiggelben Hefekränze und den tiefenwärmenden Schnaps - und ich denke bloß: Was für eine tapfere Frau! Trotz offensichtlicher Widrigkeiten ist sie nicht bereit, den Lebensfunken der Buchenlanddeutschen erlöschen zu lassen. 

Vom Geist der Vergangenheit

Das Haus, in dem wir uns befinden, ist der Sitz des Regionalforums der Buchenlanddeutschen. Es gehörte einst der jüdischen Familie Goldenberg, erzählt dessen Vorsitzende, Antonia-Maria Gheorghiu. Die Hälfte des Gebäudes konnte mit Geld aus Deutschland erworben werden, zum dringend nötigen Renovieren hat es nicht mehr gereicht. Vergeblich hatte man zuvor versucht, ein von den Buchenlanddeutschen errichtetes und im Kommunismus enteignetes Gebäude zurückerstattet zu bekommen. Bis eine Lösung für das Forumshaus gefunden ist, lässt sie sich von der feuchten Kühle, den herumstehenden Kisten, der tristen Unordnung nicht beirren. Irgendwann wird man hier schon anpacken können...

Anpacken, das waren sie gewohnt, die Buchenlanddeutschen: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch sie zur Zwangsarbeit in die ehemalige UdSSR deportiert, Wiederaufbauarbeit leisten in den vom Krieg zerstörten Bergwerken und Fabriken, fünf bitterschwere Jahre lang, nur weil auch sie ethnische Deutsche waren. Schwerstarbeit, Hunger, Kälte und viele Verluste. Erst im letzten Jahr wurde es ein wenig besser, einfachste Vergnügungen wurden den Lagerinsassen erlaubt.  Zusammenkünfte, ein bisschen Musik, ein zarter Vorgeschmack auf wieder Leben. Auf der Heimreise im Viehwagen des Zuges schaukelte bereits die kleine Antonia-Maria im Bäuchlein ihrer Mutter mit. Eine Woche nach der Ankunft wurde sie geboren. 

Sie weiß noch lebhaft von Schicksalen aus dieser Zeit zu erzählen: Von Kindern, die im Zug im Niemandsland zur Welt kamen, weil man gar nicht wusste, wo man war. Von totgeglaubten Heimkehrern, die ihre Ehepartner neu verheiratet vorfanden, in ihrem Haus schlief ein anderer im lang ersehnten Federbett. Noch einmal alles verloren nach fünf Jahren Klammern an einen Hoffungsfunken... In diesem Geist ist sie aufgewachsen. Sie und ihr Bruder, Josef-Otto Exner.

Was ist geblieben von den Deutschen?

Der Kommunismus kam. 1989 die Revolution. Gleich nach der politischen Wende gründete die deutsche Minderheit – oder der Teil, der dem Massenexodus nach Deutschland widerstand – ihre eigene Vertretung, das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien. In der Bukowina waren die Leute zögerlich, sich als Mitglieder einzuschreiben, erklärt Gheorghiu. Zu groß war noch die Angst, zu tief saßen die alten Traumata. Sie, ihr Bruder und bis zu seinem Tod auch ihr Mann  haben die Leute damals mobilisiert, Treffen organisiert und bis heute die Gemeinschaft zusammengehalten. Sie hätte damals auch auswandern können, erzählt Antonia Gheorghiu, doch ihr Mann war Einzelkind und wollte seine Eltern nicht zurücklassen. Auch die Söhne, einer ist Arzt und einer Ingenier, wollten nichts davon hören. Nur das jüngste Kind, die Tochter, lebt heute in Deutschland.

Was ist noch übrig von den Buchenlanddeutschen, die ab 1775 in den nördlichen Teil der Moldau eingewandert sind, als dieser unter die Herrschaft der Habsburger fiel? Sie wurden als Waldarbeiter und Bergleute angesiedelt, etwa im Bergwerk von Cârlibaba, sie kamen als Grenzsoldaten, später auch als Lehrer und Pfarrer. 

Im Zweiten Weltkrieg waren dann die meisten 1940 Hitlers Ruf „Heim ins Reich“ gefolgt. Ihre Höfe, ihr Hab und Gut mussten sie zurücklassen, man versprach ihnen Ausgleich dafür. Akribisch wurde alles in Inventurlisten eintragen. Wer gut Deutsch konnte, wurde in die neu besetzten Gebiete geschickt, etwa in Polen. Sie erhielten die Höfe der von dort frisch Vertriebenen zugeteilt, oft stand noch die Suppe auf dem Tisch. Nach der Niederlage Deutschlands mussten sie selbst von dort wieder fliehen... Jene, die nicht mehr so gut Deutsch konnten, wurden in Gebieten angesiedelt, die später zur ehemaligen DDR gehörten.

Von den rund 5000 ethnisch Deutschen, die das Buchenlandforum kurz nach seiner Gründung nach der Revolution zählte, leben heute noch etwa 400 Familien in der Stadt Suceava, im ganzen Kreis noch rund 1800 Personen. Deutsche gibt es in Rădăuți, Siret, Moldivița, Vatra Moldovița, Kimpolung/Câmpulung Moldovenesc, Vatra Dornei und Cârlibaba. Die meisten sind hochbetagt, viele leben in gemischten Familien, nicht alle sprechen zu Hause noch Deutsch. Denn nach der Rückkehr aus der UdSSR hatten viele deutsche Mädchen rumänische Männer geheiratet, um endgültig dem Blickfeld der Russen zu entgehen.

Antonia-Maria Gheorghiu zieht Bilanz: Der Gemeinschaft in Rădăuți ist es gelungen, ein Gebäude rückerstattet zu bekommen, das deutsche Haus. Mithilfe eines Sponsor aus der Schweiz konnte es sogar renoviert werden. Ein paar Zimmer darin werden vermietet, das sichert ihnen heute ein kleines Einkommen. In Siret leben noch fünf Familien und auch in Moldovi]a und Vatra Moldovi]ei gibt es eine Handvoll Deutsche. Mehrere ehtnisch Deutsche leben  in Cârlibaba, davon sprechen noch rund 60 Deutsch, viele aber auch Ungarisch, weil es dort ein Dorf mit zwei Zonen gab, das deutsche Mariendorf und das ungarische Ludwigsdorf. Auch in Kimpolung gibt es noch rund 60 Deutsche, die meisten in gemischten Familien. 

Der ohnehin stark geschrumpften Gemeinschaft hat die Pandemie stark zugesetzt. Zuletzt raffte sie den ehemaligen Vorsitzenden des Lokalforums in Kimpolung dahin, Eugen Gheorghian (95).

Ausgebremste Lebensfreude

Corona hat die Aktivitäten der Gemeinschaft vor Ort stark eingeschränkt. „Die Leute hatten Angst“, erklärt Gheorghiu. Die jährlichen Begegnungen mit den Bukowinadeutschen aus der Ukraine – mal traf man sich in Suceava, mal in Czernowitz/Cernăuți – wurden unterbrochen. Auch das im September stattfindende multiethnische Festival „Friedrich Schwartz“ hat nicht mehr stattgefunden. Benannt ist es nach dem deutschen Tänzer und Koordinator der Tanzgruppe „Ciprian Porumbescu“, sein Sohn Ovidiu Schwartz hatte es mit seiner Familie – alle Musiklehrer oder Musiker – ins Leben gerufen. „Da kamen auch immer die Ungarn, die Polen, Gesangsgruppen aus der Ukraine und der Moldau sowie Deutsche aus dem Ausland und wir machten eine Trachtenparade durch das Zentrum. Danach gab es Aufführungen im Kulturhaus und am zweiten Tag bei der Festung.“ Schon immer hat man sich auch mit den anderen Ethnien vor Ort gut verstanden, erklärt sie.

Gefeiert hat man in diesem Jahr nur das Oktoberfest in Kimpolung. Der Leiter des dortigen deutschen Chors ist mit einer Huzulin verheiratet, der Tochter der bekannten Künstlerin im Eierdekorieren, Lucia Condrea, die in Vatra Moldoviței ein eigenes Museum betreibt. „Nach der Feier haben wir mit den Kindern der Sing- und Tanzgruppe Harmony aus Piatra Neamț dieses Museum besucht. Es ist besonders interessant, weil Lucia Condrea sämtliche Symbole der Huzulen gesammelt und auf den Eiern verewigt hat, jedoch in ihrem eigenen Stil.“

Bisher fanden die meisten kulturellen Aktivitäten des Buchenlandforums im Geschichtsmuseum von Suceava statt. Doch seit das Kreisratsgebäude abgebrannt ist, wurden die Büros von dort ins Museum verlegt. „Hier haben wir immer das Lectora-Festival abgehalten, um das Lesen in deutscher Sprache zu fördern, oder den Kinderfasching mit Maskenball, Tanz und Gedichtewettbewerb. Am schön-sten aber waren die Weihnachtsfeiern“, schwärmt Gheorghiu. „Bis das Kreisratsgebäude wieder aufgebaut ist, haben wir leider keine Chance mehr, Aktivitäten im Museum zu organisieren.“

Zum lieben Gott spricht man Deutsch

Der Pandemie fiel auch der Tag der Reformation zum Opfer, der sonst in der evangelischen Kirche gleich neben dem Forumshaus begangen wurde. „Ein feste Burg ist Unser Gott“ steht dort über der Tür. Das Grundstück, auf dem die evangelische Kirche steht, hatte eine armenische Familie namens Hagi gestiftet. Für Restaurierungsarbeiten in der Kirche hat sich zeitlebens der frühere Kurator, Waldemar Ask, eingesetzt, unterstützt von evangelischen Freunden aus der ehemaligen DDR, die immer wieder kamen, um Kleinigkeiten zu reparieren. Mit seinem Tod endete dieses Engagement. Deutsche Gottesdienste gab es noch bis diesen Sommer. „Hierfür kam Pfarrer Johann Dieter Krauss aus Bistritz, doch der sei jetzt zu krank dafür“, bedauert Gheorghiu. „Die wenigen Deutschen hier freuen sich, wenigstens an Feiertagen einen deutschen Gottesdienst zu hören“, erzählt Antonia Gheorghiu, „deswegen kamen auch oft Katholiken in die evangelische Kirche“. 

Für die katholischen Deutschen gibt es die 1860 erbaute römisch-katholische Kathedrale zum heiligen Johannes Nepomuk in Suceava. Die Gottesdienste werden auf Rumänisch abgehalten, nur an Sonntagen abwechselnd auch auf Deutsch und Polnisch „weil es hier auch eine große und sehr aktive polnische katholische Gemeinde gibt, mit sehr vielen jungen Leuten“. Die Polen leben außer in Suceava noch in Cacica, Solonetu Nou und Poiana Micului. „Wir pflegen gute Beziehungen, auch wegen der gemeinsamen Konfession.“ 

In der Strada Armenească lebten früher mehrere Ethnien. Die meisten Armenier sind jedoch weggezogen. „Heute ist hier noch die jüdische Gemeinschaft vertreten, auf der anderen Straßenseite gibt es das armenische Haus...und an beiden Enden der Straße befindet sich eine Kirche: Die armenische Kirche zum Heiligen Kreuz mit Pfarrhaus, und die des Heiligen Simeon, bekannt für ihren roten Glockenturm, wobei die Glocken bei jedem Begräbnis erklangen, egal ob ein Rumäne, Armenier, Deutscher oder Jude gestorben war.“

Ausbluten der Jugend ins Ausland

Über die Schulsituation befragt erzählt Antonia-Maria Gheorghiu, dass gegenüber dem Forumshaus früher ein deutscher Kindergarten in Betrieb war. Seit das Rathaus das Gebäude abgerissen hat, gibt es ihn nicht mehr. Schulen mit deutschen Klassen gibt es noch in den Lyzeen Ștefan Cel Mare und Petru Rareș, die inzwischen auch unter den Rumänen sehr beliebt sind. Eine deutsche Abteilung existiert noch in der christlichen Schule Philadelphia. Klassen mit Muttersprache-Unterricht gibt es zwar mangels geeigneter Lehrer keine, doch für intensiven Unterricht in Deutsch als Fremdsprache seien genug Deutschlehrer vorhanden, auch aus der hiesigen deutschen Minderheit. Beide Lyzeen bieten das internationale deutsche Sprachdiplom an, zu dem sich jedes Jahr rund 20 Schüler einschreiben. „Die Kinder wurden immer sehr gelobt von der deutschen Botschaft. Doch kaum ist die Ausbildung abgeschlossen, zieht es sie ins Ausland“, bedauert Gheorghiu.

Es gibt noch einige Familien, die zu Hause Deutsch sprechen, doch werden es immer weniger. Ihre eigenen Söhne seien noch so aufgewachsen, erzählt sie: „Die Oma sagte immer, ihr müsst Deutsch sprechen, ich verstehe kein Rumänisch“. Doch nach dem Studium in Klausenburg/Cluj Napoca und einem Leben in rumänischem Umfeld ist das Deutsche in den Hintergrund gerückt. „Sie verstehen noch alles, aber meist antworten sie auf Rumänisch.“

Für die heutige Jugend ist es schwierig, außerhalb der Schule Deutschkenntnisse zu pflegen. Aus Deutschland entsandte Kulturmanager sprachen mit den Jugendlichen meist Englisch, so dass Gheorghiu inzwischen gar nicht mehr böse ist, ohne sie auskommen zu müssen. Die Jugendarbeit und auch das Lectora-Festival, das diese mitorganisierten, schaffte sie mit ihren Helfern allein. Gern denkt sie an das Festival zurück: „Es kamen auch Teilnehmer aus dem Ausland, einmal gab es eine Ausstellung mit bemalten Eiern aus der Schweiz. Wir machten einen Fasching mit Maskenball und es kamen Kinder aus allen Schulen, wir luden auch unsere Freunde aus Piatra Neamț mit der Gruppe Harmony ein, dort gibt es ein Mädchen, das hervorragend jodeln kann!“ Der Fasching, erklärte sie, finde bei den Katholiken in der Bukowina stets nach dem Kreuzweg statt. „Leider gibt es den Pfarrer, der diesen organisiert hat, nicht mehr.“ So geht Antonia Gheorghiu ihn seither allein. 

Nachwuchs für die Forumsarbeit vor Ort gibt es zwar wenig, „aber dafür gute Leute“, freut sich Gheorghiu. Das Hauptproblem ist eher die Abwanderung der Jugend. „Kaum sind sie mit der Ausbildung fertig, gehen sie alle weg“, bemerkt sie traurig über die Schüler mit deutschem Sprachdiplom. Von der deutschen Landbevölkerung hingegen, erzählt sie, seien viele aus Deutschland zurückgekommen und hätten sich mit dem dort verdienten Geld große Häuser gebaut. „Doch ihre Kinder zieht es meist nicht zurück und die Häuser bleiben leer...“ So geht es nicht nur den Deutschen. Gheorghiu erzählt von einer Lipowanerfamilie aus Dragomirna, die lange Zeit in Großbritannien gearbeitet hat. Die Eltern kehrten nach Hause zurück und schufen sich eine neue Existenz: „Ein großes Haus mit zwei Wohnungen, Bädern, Keller, ein riesiger Obsthain, sie verkaufen ihre Produkte auf dem Markt, haben alles, was das Herz begehrt, ein Imperium! Aber jetzt wollen sie verkaufen, weil sie alleine sind. Die Kinder kommen nicht zurück.“ Seufzend fügt sie an: „Wir machen Propaganda für das Hierbleiben. Aber kann man es jemandem verdenken, der allein ist, wenn ihn die Kinder rufen?“

Sie selbst kann sich nicht mehr vorstellen, wegzugehen. Und hofft, dass auch ihr jüngstes Kind irgendwann aus Deutschland zurückkehrt. Noch gibt es ihn, den Lebensfunken der Buchenlanddeutschen in Suceava. Noch ist der Funken nicht verglüht. Er wird es nicht, solange es Menschen gibt, die sich daran erwärmen. Und Antonia-Maria Gheorghiu hält schützend ihre Hand darüber. 


Die ADZ-Reihe „Kultur der Vielfalt“ ist Ergebnis einer vom Departement für Interethnische Beziehungen an der Rumänischen Regierung (DRI) organisierten Journalistenreise in die Moldau und Bukowina im Oktober 2021 auf den Spuren der nationalen Minderheiten. In sechs Folgen, die im 14-tägigen  Rhythmus erscheinen, geht es darin um Kultur und Kulturerbe der Armenier, der Ukrainer und Huzulen, der Lipowaner, Deutschen, Polen und Juden.