Ein weit verbreitetes Krankheitsbild unserer Gesellschaft, schlimmer als Alkoholismus, Drogensucht und Esssucht zusammen, ist die Abhängigkeit vom Handy – im Fachjargon: Telefonismus. Es bezeichnet das durch einen akustischen Reiz spontan ausgelöste Bedürfnis eines Menschen, an einem Gerät zu lauschen bzw. hineinzusprechen, unabhängig von der Dringlichkeit des Gesprächsinhaltes oder der Wichtigkeit des Anrufers. Egal, in welcher Gesellschaft sich der Suchtkranke gerade befindet, egal welcher Tätigkeit er nachgeht, das Sprechkästchen erobert instantan seine ganze Aufmerksamkeit. Durch Signalton oder Kennmelodie wird offenbar ein Mechanismus in der Großhirnrinde ausgelöst, der das sofortige Einstellen aller anderen Aktivitäten bewirkt.
Dies kann zu merkwürdigen Verhaltensänderungen führen, zum Beispiel dass der Suchtkranke grundlos einen Streit unterbricht, sein Essen kalt werden lässt oder nackig aus der Badewanne springt. Kennzeichnend für die Sucht ist, dass Panik bei Tätigkeiten aufkommt, die man nicht ohne Weiteres unterbrechen kann: das Geldziehen am Bankomaten, das Kneten eines pampigen Teigs, das Steuern eines Düsenflugzeugs. Der im fortgeschrittenen Stadium Erkrankte versucht dann mit verzweifelten Verrenkungen, das Kästchen doch irgendwie zwischen Kinn und Schulter einzuklemmen, um sein drängendes Bedürfnis zu befriedigen. Telefonismus wird als Suchtkrankheit weitgehend verkannt. Oder haben Sie schon mal gesehen, wie jemand am Bankomaten hektisch einen Flachmann aus der Westentasche reißt, weil er zwischen dem Eintippen der dritten und vierten Ziffer des Geheimcodes das spontane, unwiderstehliche Bedürfnis verspürt, einen kräftigen Zug zu nehmen? Oder wie sich Mutti beim Verkneten von Ei, Mehl und Hefe urplötzlich mit dem Mund eine Zigarette aus der am Tisch liegenden Packung angelt, um dann fieberhaft mit dem Ellbogen die Ofentür aufzuhebeln und sich hektisch den Glimmstängel an der Glut anzuzünden? Oder aber, wie es im Klo in der Nebenkabine plötzlich schmatzt und knuspert, weil der Sitznachbar ganz dringend von seinem Müsliriegel abbeißen muss?
Im Gegensatz zu den bisher bekannten Süchten wird ein Telefonismusanfall nicht durch Entzugserscheinungen ausgelöst, sondern durch einen unwillkürlichen Reflex. Mit anderen Worten: Der akustische Reiz wirkt wie ein pawlowsches Glöckchen. Handy-Klingeln weckt in Sekundenbruchteilen ein Bedürfnis, das der Mensch vor zwei Sekunden noch nicht kannte. Es katapultiert den Suchtkranken wie auf Kommando aus seiner gegenwärtigen Realität in eine innere Welt. Wie ferngesteuert geht er dann auf und ab, den Blick tranceartig ins Leere gerichtet, die Sinnesorgane blockiert für sämtliche andere Reize. Auch dies unterscheidet eine Telefonismus-Attacke von anderen Süchten. Bei wiederholten akustischen Impulsen, die in der Regel von anderen Suchtkranken abgegeben werden, mit dem Ziel, an dem Opfer schamlos ihr eigenes Bedürfnis zu befriedigen, wird die Interaktion Patient – Umfeld nachhaltig gestört. Insofern ist die Krankheit als schwere Form des Autismus zu betrachten, der jedoch durch einen äußeren Reiz anfallsartig ausgelöst wird. Den Patienten von seinem Zwangsverhalten zu befreien, kommt einem Teufelskreis gleich. Denn die einzige Chance, von einem Telefonisten im fortgeschrittenen Stadium überhaupt noch wahrgenommen zu werden, besteht darin, ... ihn anzurufen.