Verständigung auf Deutsch im russisch erfahrenen Lettland

Ieva Vera und Daiga Sture erzählen vom Alltag im Baltikum

Daiga Sture (l.) und Ieva Vera (r.)
Foto: der Verfasser

Riga ist  die Stadt an der baltischen Ostseeküste, von wo aus der 1991 statuierte Verband der Deutschen in Lettland (VDL) für „eine demokratische, verantwortungsvolle, offene und integrierte Gesellschaft“ wirbt, „in der sich jeder, unabhängig von seiner ethnischen Herkunft, zugehörig und akzeptiert fühlt.“ Vier von den acht ihm angehörenden Mitgliedsorganisationen sind in der Hafenstadt Liepaja eingetragen. „Libau“ heißt sie auf Deutsch.

Vor dem Ersten Weltkrieg machten die Nachfahren der deutsch-baltischen Ordensritter über sechs Prozent der Bevölkerung Lettlands aus. Auch wenn die Zahl der deutschen Bewohner heute bei nur ein paar Tausenden liegt, ist sie dem mittleren der drei baltischen Staaten anzusehen, die deutsche Geschichte. Die Letten sind stolz darauf, aber auch von der Nazi-Zeit, die auch das Baltikum zu spüren bekam, wissen sie Bescheid, und über die restriktive Politik der Sowjetunion von 1945 bis 1991 sind sie sich ebenso im Klaren. An der lettischen Ostseeküste hat Klaus Philippi Ende Mai Germanistin Ieva Vera und Kunstlehrerin Daiga Sture getroffen. Beide sind Mitglieder im Vorstand des Deutschen Vereins Liepaja. Daiga Sture will ihre Kindheit und Jugend im sowjetischen Lettland trotz aller Probleme von damals nicht missen, und Ieva Vera schätzt für die Mitgliedschaft im Deutschen Verein Liepaja das Interesse an der deutschen Sprache und Kultur als eine maßgebliche Motivation ein, dazugehören zu wollen. Herkunft ist ein Bonus und nicht etwa zwingend.

Seit wann zählt Deutsch zu den in Lettland üblichen Sprachen, und was für eine Entwicklung hat es hier genommen?


Daiga: Im 18. und 19. Jahrhundert haben sehr viele aus Deutschland zugereiste Einwanderer Gutshöfe in Lettland gebaut. Rückblickend sozusagen eine „deutsche Zeit“, weil die Herren fast aller Gutshöfe Deutsche waren.

Ieva: Deutsche waren erstmals schon 1201 unter Bischof Albert von Buxthoeven nach Lettland gekommen und brachten von außen das Christentum herein. Über lange Zeit haben sie unserem Land ihre Kultur, ihre Kirchenbau-Tradition und den Glauben eingepflanzt. Auch ihr Bildungseinfluss war wichtig, denn die ersten Schulen in Lettland wurden schließlich von Deutschen eröffnet – anfangs für die Kinder von Adligen und Gutshof-Besitzern, bald aber auch für Kinder lettischer Bauernfamilien. Ihre Schulbildung wurde von den je vor Ort wohnenden Pfarrern vermittelt. Das Drucken von Fibeln und das Bauen von Kirchen und ersten Schulgebäuden wurde von deutscher Seite stark unterstützt. Bis heute findet man in kleineren Orten Lettlands Dorfschulen und landwirtschaftliche Gutshöfe mit zentralen Herrenhäusern und Nebengebäuden wie Kuhställen und Scheunen, die von kulturell deutscher Herkunft erzählen. Hunderte davon gibt es. Einige stehen zerfallen in der Kurlandschaft, andere wiederum wurden restauriert.

Für Lettlands geschichtliches Auf und Ab ist das Deutschtum sehr bestimmend. Auf die jahrhundertelange Zuwanderung folgten ein Strom der Aussiedlung ab 1939 unter dem Wahlspruch „Heim ins Reich“, und schwere Zeiten während des Sowjet-Regimes ab 1945, als man über seine deutsche Herkunft dringend zu schweigen hatte. Dass meine Oma Deutsche war, ich als Kind auch Deutsch verstand und die deutsche Schule besuchte, musste ich vergessen. Obwohl es in Lettland bis vor dem Zweiten Weltkrieg auch deutsche Knaben- und Mädchenschulen gegeben hatte.

Daiga: Ich bin ein richtiges Sowjetkind und habe zu meiner Zeit in der Schule nie etwas davon gehört, dass auch Deutsche hier leben. Ich hatte gedacht, dass es bei uns in Lettland nur Letten, Russen und Zigeuner – oder, um nicht ungewollt zu verletzen, Roma – gibt.

Ieva: Das Zeitalter der Deutschen, die früher noch als hanseatische Seeleute Handel mit Lettland getrieben und Schulen gebaut hatten, lag nach dem Zweiten Weltkrieg schon weit zurück. Aber fast die Hälfte der Mitglieder unseres Deutschen Vereins in Liepaja haben biografisch deutsche Wurzeln und als Kinder in Lettland deutsche Schulen besucht. Dann sind gleichaltrige Mitglieder ihrer Familien mit der Verwandtschaft nach Deutschland geflüchtet und haben in nicht seltenen Fällen Armut und Hunger gelitten. Viele Schicksale werden erst jetzt recherchiert, weil es bis zur Unabhängigkeits-Erlangung 1991 in Lettland keine deutschen Kulturvereine geben durfte.

Also gab es in der Sowjet-Zeit kaum noch Möglichkeiten, an der Schule Deutsch zu lernen?

Ieva: Doch, die gab es. Ein Phänomen!

Daiga: An der Schule und zuhause haben wir damals auch Deutsch gesprochen, uns dabei aber hinterfragt, warum wir das machen, weil es in der Öffentlichkeit nicht gerade erwünscht war.
Ieva: Die Grenzen waren ja geschlossen und das Schulsystem der Sowjetunion super durchorganisiert. Doch die Hälfte einer Klasse nahm obligatorisch Englisch-Unterricht, und die andere Deutsch-Unterricht. Das waren die zwei Fremdsprachen. Es stand gar nicht mal so schlecht um das theoretische Wissen, alle daran beteiligten Kinder kannten sich gut in der Grammatik und dem Wortschatz der deutschen Sprache aus. Das Lernen, Notieren und Überprüfen von Vokabeln eröffnete den Weg zu einer Schriftsprache, mit der sich Sätze bilden lassen und Lesetexte verstanden werden konnten. Beim Sprechen reichte es für das Formulieren einfacher Bitten, zu richtigen Alltagsgesprächen jedoch nicht mehr. Theoretisch dafür konnten alle Deutsch. Englisch und Deutsch waren gleich wichtig. Ich habe in der 4. Klasse mit Deutsch angefangen. Zu Beginn der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts habe ich Germanistik studiert, und der Andrang auf den Studiengang fiel hoch aus, weil Dolmetschen und internationale Beziehungen vorwiegend zu Deutschland sehr begehrt waren.

In der Schule wird Deutsch bis heute sehr gut unterrichtet, auch wenn es leider in den letzten zehn bis zwanzig Jahren an Popularität verloren hat. Außerhalb der Schule ist den Schülern wegen Youtube und Zeichentrick- oder Kinofilmen das Englische viel wichtiger. Deswegen fehlen den deutschen Kulturvereinen in Lettland die jungen Leute. Die Mehrheit der Mitglieder sind Senioren und über 80 Jahre alt. Das ist die Erinnerungs-Generation, die uns mit Pathos deutsche Rezepte und Lieder beibringt. Ich zum Beispiel habe die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt. Dazwischen steht meine Mutter, die ihr Deutschtum verschwiegen hat, als normale Lettin in die Schule ging, auch nur Lettisch sprach und Deutsch in der Schule lernte.

Wie einfach oder schwierig war es, sich aussuchen zu können, welche der beiden Fremdsprachen Deutsch und Englisch man denn in der Schule lernt?

Ieva: Teilweise freiwillig, doch unabhängig von der Schüler-Anzahl einer Klasse lernte die eine Hälfte Deutsch, die andere Englisch. In Städten war es schon möglich, zwischen Deutsch und Englisch zu wählen. Aber es gab auch den Fall von Dorfschulen mit kleineren und weniger Klassen, wo aus Lehrer-Mangel nur eine von beiden Fremdsprachen unterrichtet wurde. Mein Mann konnte aus genau diesem Grund nur Englisch lernen. Es war übrigens nur die zweite Fremdsprache. Denn die erste war Russisch, von der 1. Klasse an. Weil wir das russische Alphabet gelernt und russische Literatur gelesen hatten, konnten wir auf Russisch träumen. Bücher, Zeitungen, Filme und Rundfunk-sendungen in russischer Sprache verstanden wir sehr gut. Heute sprechen wir Russisch mit Akzent, weil wir die Übung darin verloren haben, aber damals beherrschten wir es ganz ohne.

Daiga: Beim Schreiben beherrsche ich das Russische zu fast hundert Prozent fehlerlos. Das Deutsche teilweise auch.

Ieva: Die jüngeren Generationen dagegen verstehen manchmal kein einziges Wort mehr auf Russisch. Russland bedeutet ja auch keine Motivation mehr, hin gehen zu wollen. Unter uns in Lettland leben immer noch viele Russen, die leider kein Lettisch sprechen. Ältere Letten haben bei der Sprach-Barriere das Russische parat. Zwar mit Akzent, aber eben Russisch. Den Jungen, die es nicht können, bleibt nur noch Englisch oder das Kommunizieren über Gesten. Trotzdem Lettland schon dreißig Jahre lang unabhängig ist, sind die Erfolge beim Assimilieren aller mit im Land lebenden Nationalitäten sehr verschieden.

Weshalb sind die Deutschbalten noch heute kulturell spezifisch?

Daiga: Die meisten Deutschbalten sind schon längst ausgewandert. Ich kenne persönlich so eine Familie, die aus Liepaja stammte, und dank meiner Beziehungen zu ihr habe ich mein Deutsch entwickelt. Denn ich habe nicht Deutsch, sondern Kunst studiert. Alle wundern sich, „wie es sein kann, dass Du trotzdem so gut Deutsch sprichst?!“ (lacht)

Ieva: Letten sind sprachlich allgemein sehr begabt. Meine eigenen Verwandten in Deutschland, die im Weltkrieg von hier weg sind und kein Lettisch mehr können, bestätigen, wenn sie nach Lettland kommen oder Letten sprechen hören, dass sie das Thema, worum es geht, verstehen. Das klappt intuitiv bei allen, egal ob Älteren oder Jüngeren.

Gab es nach dem Zweiten Weltkrieg Deportation in Lettland?

Daiga: Ich kenne eine Frau, Renate heißt sie auf Deutsch und Valda auf Lettisch. Sie ist die Nichte des bekannten Schriftstellers Rudolfs Blaumanis. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war sie noch ganz klein. Ihre Eltern brachten sie auf Zeit in einem Waisenhaus unter, zur Sicherheit. Dann verschob sich die Kriegsfront, und zu Ende des Krieges sagte das Waisenhaus, dass jeder, der möchte, sich ein Kind nach Hause nehmen kann. Renates richtige Eltern waren weit weg, und sie fand sich irgendwann bei anderen Eltern in Amerika wieder. Weil sie vom Körperbau her größer als die amerikanischen Eltern war, kam ihr ein gewisser Verdacht auf. Als sie 18 Jahre alt wurde, besuchte sie ihr eigener Vater, der ihren Wohnort in den USA recherchiert hatte. Obwohl die Verletzung verheilte, behielt Renate eine Narbe zurück. Ihr richtiger Vater wollte ihre Familie von dort nicht stören, sondern ihr nur sagen, wer sie ist. Sie blieb weiter in Amerika und lebt heute in Deutschland.

Mit welchen Gefühlen denken Sie an den Alltag in Lettland unter dem Sowjet-Regime zurück?

Daiga: An meine Kindheit und Jugend habe ich gute Erinnerungen. Solange nicht Krieg ist, haben Kinder und Jugendliche überhaupt keine Probleme. Ich fühlte mich frei, konnte Freunde treffen. Wenn man selber was unternahm, war es möglich, ein interessantes Leben zu haben. Einzig und allein die Grenze konnte man nicht passieren, aber auch das änderte sich. Meine erste Auslandsreise habe ich 1985 erlebt. Es war eine Traumreise nach Ungarn und Jugoslawien, das bekanntlich zu den kapitalistischen Ländern gerechnet wurde. In Ungarn durften wir 500 Rubel für Wechselgeld eintauschen, und in Jugoslawien, wo es sehr schöne Sachen zu kaufen gab, nur 50 Rubel. Auch in Lettland fehlten uns all die westlichen Importwaren wie Jeans, schöne T-Shirts, Schuhe natürlich und Sonnenbrillen.

Ieva: An so was konnte man nur durch sehr aktive Händler in der Bekanntschaft herankommen. Freunde hier, Freunde da, also auf eigenen Kanälen.

Daiga: Alles andere aber war hier vor Ort und Stelle zu haben. Man konnte in der freien Natur wandern, Zelten war erlaubt, und ja, die Disco war auch toll!

Ieva: Alltag, Familie, Arbeit, Unterricht und Medizin waren super organisiert. Zum Beispiel war es gar nicht ungewöhnlich, wie mein Vater und wir Kinder zum Zelten durch Litauen, Lettland, Estland und sogar nach Russland zu fahren. Klassenfahrten nach Moskau waren erlaubt, und das Kulturleben wegen des Sowjet-Regimes kein bisschen ärmer. Und als Kind war ich immer draußen aktiv, sportlich, gesund und zufrieden. Jeder hatte Arbeit, konnte zum Arzt und machte Urlaub, der sich wirklich wie Urlaub anfühlte. So wie heute, wo man meint, in der Arbeit zu ersticken, war es damals noch nicht.

Lettlands Unabhängigkeit brachte anfangs eher wenig Geld in die Familienkassen. Aber wir haben es im Studium an der Universität in Riga überlebt, dass man während der ersten Jahre sozu-sagen nur Kartoffeln und eingelegte Gurken aus Mutters Küche hatte. Heute ist alles wieder viel besser, klar. Weil wir in der Sowjet-Zeit nicht wussten, wie es anders sein könnte, hat uns unser Leben damals nicht gestört.