Vertrieben, ermordet, zwangsassimiliert: Deutschsein war lange Zeit verpönt

Veronika Haring erzählt über die deutsche Minderheit in Slowenien

Foto: George Dumitriu

Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es etwa 41.000 Deutsche in Slowenien, hebt Veronika Haring an. Damals war das kleine Land, das südlich an Österreichs Steiermark und Kärnten grenzt, noch stark k&k-geprägt. „Nach dem Krieg wurden die Deutschen dann brutal vertrieben, ermordet oder zwangsassimiliert. Heute sind wir offiziell 2000. Die Sprache hat nur schwer überlebt.“ Veronika Haring hatte selbst lange keine Ahnung, dass auch sie zu dieser Minderheit gehört.

Ich treffe die Obfrau des Kulturvereins deutschsprachiger Frauen „Brücken“ aus Marburg an der Drau/Maribor auf den Literaturtagen in Reschitza. Die 77-Jährige besticht durch Lebhaftigkeit und strahlend grüne Augen. Begeistert erzählt sie vom deutschen Jahrbuch, das sie trotz ständiger finanzieller Ungewissheit nun schon zum 23. Mal herausgeben konnten. Vom deutschen Kammerchor „Hugo Wolf“ mit 42 Sängern; von ihrer literarischen Gruppe: nach Reschitza gekommen ist sie mit Schriftsteller Ivan Korponai, der aus seinen Werken liest; vom Operettenworkshop „Robert Stolz“, von den Deutsch-, Mal- und Zeichenkursen für Kinder und Erwachsene. 130 Mitglieder zählt der Verein und die Programme und meist zweisprachigen Aufführungen finden längst wieder Anklang in Teilen der Bevölkerung Sloweniens. In kommunistischen Zeiten aber war deutsche Kultur verpönt.

„Immer nur Partisanenlieder“

Die tatsächliche Anzahl der deutschen Minderheit heute schätzt Veronika Haring auf ca. 5000. „Aber viele geben es nicht zu, aus gesellschaftlichen und aus Karrieregründen. Deutschsein ist in Slowenien immer noch eine Schande.“ Von der letzten Volkszählung berichtete ihre Tocher, die Fragen zu Nationalität, Religion und Muttersprache seien nicht verpflichtend gewesen, doch als sie sie angeben wollte, fragte die Volkszählerin: „Muss ich das unbedingt hineinschreiben?“ Andere haben sich statt als „Deutsche“ als „Steyrer“ registrieren lassen. „Dann zählt man nicht als Volkszugehöriger zur deutschen Minderheit, sondern nur als Lokalzugehöriger“, erklärt sie.

Veronika lebt in der Stadt Marburg, doch aufgewachsen ist sie auf dem Land, im Nordosten, ganz nahe an der Grenze zur Steiermark. „Das Dorf hieß früher Windischbücheln. Wir hatten 20 Kilometer bis zur österreichischen Grenze und 60 Kilometer bis nach Graz. Mit 14 bin ich dann in die Lehre gegangen, nach Marburg.“ Dort sollte sie der größte Schock ihres bisherigen Lebens ereilen. Denn als der Direktor der Berufsschule die Anwesenheitsliste vorlas, stockte er bei ihrem Namen. „Haring. Haring heißt du? Dann bist du ja eine Deutsche! Woher kommst du? Wer sind deine Eltern?“ Weil sie die Fragen nicht beantworten konnte, wies er sie an: „Frag zu Hause nach – und dann erzählst du es mir.“

„Nach dem Zweiten Weltkrieg war es verboten, deutsch zu sprechen, auch in der Familie“, erklärte sie ihre Unwissenheit. „Deutsch war die Sprache des Feindes. Ein Deutscher zu sein war das Schlimmste.“ Wenn ihr Vater mit anderen Männern vom Krieg gesprochen hatte, hatte sie wie selbstverständlich angenommen, er sei Partisane gewesen. „Und dann musste ich erfahren, dass er gar kein Partisane war, sondern zwangsmobilisiert als deutscher Soldat. Er hat in Afrika im Rommel-Corps gekämpft.“ Erst viel später konnte sie sich den historischen Kontext aneignen: „Der Staat hat 28.000 junge Männer für Hitler zwangsmobilisiert. Und wenn jemand geflohen ist oder nicht zu Hause war, hat man die ganze Familie nach Dachau ins Lager geschickt. Da haben sie sich natürlich nicht getraut, der Familie das anzutun.“

Langsam schiebt sie nach: „Natürlich war das schwierig für mich zu erfahren… Auf einmal habe ich verstanden, wieso unsere Familie im Dorf so beiseite geschoben wird. Warum ich bei verschiedenen Feiern in der Schule nie die schönen Lieder vom Frühling vorsingen durfte, oder Klavier spielen, sondern immer nur Partisanenlieder.“

Schundromane als Deutsch-Lehrbücher

„Aber ich bin ein Steinbock und stur und dachte, wenn ich schon deutsch bin, dann muss ich auch die deutsche Sprache erlernen“, lacht sie auf. Nach ihrer Lehre als Verkäuferin beschloss sie, nach Graz zu gehen. Das war damals möglich, trotz Kommunismus. „Aus Jugoslawien konnte man ausreisen, wenn man politisch nicht verfolgt war. Mir haben sie diese Arbeit ganz offiziell vermittelt.“ In Graz hatte ein größeres Kaufhaus für Kinderartikel gezielt nach einer slowenischen Verkäuferin gesucht, weil damals sehr viele reiche Jugoslawen zum Einkaufen über die Grenze fuhren.

Der Kulturschock war gleich doppelt: Zum einen, weil es solche Waren im damaligen Jugoslawien nicht gab: „Kinderspielzeug, Kinderkleider, Kinderausstattung... Das war 1968“, fügt sie an. Zum anderen, weil sie ja immer noch kein Wort Deutsch konnte: „Ich bin angekommen am ersten Tag und habe gar nichts verstanden! Gott sei Dank war da eine Dame aus Slowenien, die mich eingeführt hat.“ In der Mittagspause ging sie mit dem Wörterbuch ins Gasthaus. „Es war sehr schwer am Anfang, aber ich bin stur und nach drei Monaten hab ich eine eigene Abteilung gehabt für Legowürfel. Wir waren die beste Verkaufsstelle für Lego in ganz Österreich, weil so viele Jugoslawen hier einkauften.“

Die Abende verbrachte Veronika einsam über Deutschbüchern. Bis sie eine Österreicherin kennenlernte, die ihr ein Zimmer anbot. „Dort haben sie mich dann am Abend Deutsch gelehrt – und steyrischen Dialekt. Obwohl der Direktor in dem Warenhaus immer mit den Mädchen geschimpft hat, wenn sie Dialekt mit mir sprachen. Ich sollte doch Hochdeutsch lernen!“ Schmunzelnd gibt sie eine Kostprobe zum Besten: „Oachkatzelschwoaf (Eichhörnchenschwanz), wenn du das sagen kannst, kannst du schtoarisch, sagten sie immer. Oder: Fotzhobel (Mundharmonika)!“

„Und dann habe ich angefangen, Schundromane zu lesen, ‚Silvia‘ und so, die waren einfach geschrieben. Für mich war das keine Schundliteratur, sondern Lernbücher!“, lacht sie. Auch Boulevardblätter wie die Neue Post verschlang sie der Sprache wegen. Und staunte nicht schlecht, dass dort viel über Königshäuser berichtet wurde. „In Jugoslawien haben die Kommunisten alle Blaublüter vertrieben, das sei eine Schande für den Kommunismus. Und nun musste ich erfahren, wieviele Königshäuser es tatsächlich noch gibt. Das war eine neue Welt für mich!“

Bald begann sie, auch Geschichtsbücher zu lesen – „so hab ich die richtige Geschichte meines Landes und Europas kennengelernt. Dafür bin ich immer noch dankbar.“

Grenzgänger im Kommunismus

Nach einigen Jahren in Graz wurde sie von einem Kunden, Leiter einer Buchhandlung für Importbücher in Marburg, abgeworben. Das war eine spannende Zeit, meint sie, denn damals war alles Wissen noch in Zeitschriften oder Büchern, „es gab ja keine Computer“. In den 70er Jahren hatte sich Jugoslawien ein bisschen gegen den Westen geöffnet. Vor allem Fachbücher strömten auf den Markt. Und die meisten waren auf Deutsch. „Da hat er mich beredet, aber ich bin nicht deshalb zurückgekommen. Mein Wunsch war immer die mittlere Reife, nur dass meine Eltern  sich das damals nicht leisten konnten. Die Kommunisten haben jedem eine Ausbildung bezahlt, nur mir nicht, weil ich kein rotes Parteibuch hatte.“ Veronika Haring besuchte die Abendschule, die sie selbst bezahlte. Genützt hat es ihr wenig, denn mangels Parteibuch konnte sie später auch nicht Abteilungsleiterin werden. „Meine Abteilungsleiterin hatte nur sechs Jahre Grundschule. Aber ihr Vater war Partisane.“ Sie ist trotzdem geblieben, denn die Arbeit in der Buchbranche hat ihr gut gefallen. Vor allem die Fachausstellungen deutscher Bücher, die seit 1972 erlaubt waren. „Das war ganz neu, das erste Mal, in Marburg und Ljubljana. Danach hatten wir jedes Jahr eine solche Messe. Mit Büchern aus allen Bereichen: Medizin, Physik, Maschinenbau, Bauwesen.“ Offiziell wurde die deutsche Sprache unterdrückt, aber die Fachleute haben alle deutsch gesprochen, zumindest in den Städten. „Es gab ja noch kein Englisch.“

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – da war sie bereits 33 Jahre im Buchhandel beschäftigt – konnte sie endlich Abteilungsleiterin werden. Ob sie den Kommunismus generell als traumatisierend empfunden hat, will ich wissen. Sie lächelt: „Man kannte ja früher keinen Unterschied. Erst als ich aus Österreich zurückkam, ja, das war erniedrigend. Kleine Löhne. Nichts zu kaufen. Ich habe ein kleines Kind gehabt. Es gab keine Waschmittel, kein Obst. Auf ein Auto musste man lange warten. Schokolade? – Das waren bloß Zuckertafeln.“ Nur weil sie sich in ihrem Heimatort nie abgemeldet hatte und noch einen Grenzschein besaß, konnte sie gewisse Dinge zollfrei aus Österreich importieren. Auf dem Schein stand, wie oft man die Grenze queren durfte. In den 60er Jahren ist ihr Vater sogar von Montag bis Freitag zum Arbeiten nach Österreich gependelt, weil er vor Ort keinen Job fand.

Total schockiert hingegen war sie von den Zuständen in der DDR. Kurz vor der Wende durfte sie dorthin zu einer Buchmesse reisen. „Und ich dachte, Gott sei Dank, dass ich in Jugoslawien bin! Dieser deutsche Gehorsam und die Pünktlichkeit und dazu der Kommunismus – viel schlimmer als bei uns. Wie Roboter kamen mir die Ostdeutschen vor.“ Sie fragte sich, wenn die Deutschen schuldig seien, warum muss nur ein Teil dafür so böse bezahlen? Als die Berliner Mauer fiel, hat sie geweint.

Der verschollene Onkel in Warschau

Ein besonderes Erlebnis verbindet sie mit einer Buchmesse in Warschau. „Dort hab ich das erste Mal meinen Onkel besucht. Er war 17, als ihn die Deutschen sonntagmorgens um sechs Uhr aus dem Bett geholt haben, in die Armee gesteckt und – ab, an die russische Front.“ Beim Rückzug der Deutschen ist er dann in Polen geblieben. „Alle anderen hatten die Russen dort erschossen, aber ihn hat eine Polin versteckt, zwei Jahre lang.“ Er hat sie später geheiratet, hat seinen Aufenthalt legalisiert, doch nach Hause durfte er nicht. Erst in den 80er Jahren konnte er seine Familie einmal besuchen, da war die Großmutter nicht mehr am Leben. „Sie wollte den Ivan so gern wiedersehen! Briefkontakt gab es aber immer.“ In Warschau blieb sie eine ganze Woche, davon drei Tage bei Onkel Ivan und seiner Familie. „Das war ein Erlebnis! Schon als Kind hab ich mir immer gewünscht, den Onkel in Polen zu besuchen.“ Den sie ja gar nicht kannte…

Kulturarbeit zur Identitätsfindung

Im Jahr 2000, lange nach der Wende, ist Veronika Haring in ihrer Heimat einem 1990 gegründeten deutschen Verein beigetreten. „Doch die kümmerten sich nur um rechtliche Dinge, nicht um Kultur.“ Kurzerhand trat sie wieder aus und gründete selber einen Verein. Ihr war klar: „Wenn wir in dieser Umgebung unsere Identität behalten wollen, müssen wir mit Kultur anfangen.“

Vom Staat gibt es inzwi-schen Geld für die Minderheiten, doch konkurrieren acht deutsche Vereine darum, für jedes Vorhaben muss ein Projekt geschrieben werden. „Viele Projekte der anderen haben mit dem Deutschtum gar nichts zu tun, da wird Touristen gezeigt, wie man Obstmost macht oder es treffen sich die Feuerwehrleute, aber sie bekommen das Geld“, beklagt sie. Geld kommt aber auch von Partnerorganisationen aus Kärnten und der Steiermark. So lässt sich doch einiges organisieren, „nur das Planen ist schwer, weil wir nie wissen, womit wir rechnen können“.

Für das deutsche Jahrbuch ist es ihr immer irgendwie gelungen, das Geld für den Druck zusammenzukratzen. Ein anderes Projekt zielt auf die Wiederbelebung der Erinnerung an deutsche Musiker an, die einst in Marburg wirkten. „Robert Stolz zum Beispiel, seine erste Arbeitsstelle war dort von 1897 bis 1900, als Dirigent. Als 18-Jähriger wurde er herversetzt, aber es gab zu wenig Musiker – da hatte man Zigeuner engagiert. Nur, dass die keine Noten lesen konnten“, erklärt Veronika Haring. „Da hat er ihnen dann vorgespielt und sie haben nachgespielt. Für einen jungen Menschen aus der Großstadt sicher sehr traurig.“ „Marburg an der Drau, so grau, so grau“, zitiert sie den jungen Musiker, den ihr Verein in Musikateliers wieder aufleben lässt. „Wenn wir unsere Stücke aufführen, gibt es viele, die sagen, ‚wenn doch das meine Mutter oder Tante noch hätte erleben können – die deutsche Sprache wieder von der Bühne zu hören!‘“  

„Die Kommunisten haben die Deutschen nur nach den 1941er bis 44er Jahren gemessen“, beklagt Veronika Haring. „Was falsch ist, denn wir haben in tausend Jahren die ganze Geschichte, die Wirtschaft, die Kultur der Region gemeinsam aufgebaut. In der Steiermark waren alle Städte 80 Prozent deutsch und 20 Prozent slowenisch, auf dem Lande genau umgekehrt, und bei uns genauso.“

Die Zukunft sieht sie trotzdem nicht rosig für die deutsche Minderheit in Slowenien. Es gibt keine deutschen Schulen, nur Deutsch als Wahlfach, und für die Jugend ist Englisch interessanter. „Viele junge Leute gehen zum Studium nach England oder Amerika. Und die meisten bleiben dort.“