Wenn das Glück kommt...

ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher

„Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen“, Mirjam Pressler, Beltz Verlag, ISBN 978-3-407-78293-9, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/Pavilion, www.goethe.de/bukarest

„Wenn die Gedanken dunkel sind, kann es im Herzen nicht hell sein“, schreibt Halinka in ihr Gedankenbuch, das gut verborgen auf dem Kofferspeicher des Kinderheims liegt – ihr Geheimversteck. Aber auch:„Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen.“ Dass dir deine eigenen Gedanken Kraft geben können, das ist schon stark, denkt Halinka. Darauf wäre Huckleberry Finn bestimmt nicht gekommen...

Halinka ist zwölf und lebt im Kinderheim, doch Freundin hat sie dort keine. Und eigentlich will sie auch keine. Bisher schaut das Glück nur selten bei ihr vorbei. Etwa, wenn ein Brief von Tante Lou kommt. Den steckt sie dann unter ihren Rock und liest ihn heimlich im Klo. Oder wenn sie in Gedanken Abenteuer mit Huckleberry Finn erlebt: Floßfahrten auf dem Mississippi, Schätze in Höhlen entdecken, angeln und Fische braten am Lagerfeuer unter Sternen. Auf ihrem Nachttisch liegt das Buch, das sie schon zum wiederholten Male ausgeliehen hatte, wie gerne hätte sie ein eigenes gehabt! Doch viel Eigenes besitzt Halinka nicht. „Wer arm ist, braucht keine Angst vor Dieben zu haben“, würde Tante Lou jetzt trösten. Doch muss nicht gerade ein Armer Angst davor haben, dass man ihm das Wenige klaut? Dem Reichen kann es egal sein, er hat ja alles im Überfluss.

Halinka lebt schon seit einigen Jahren im Heim. Was davor war? Daran mag sie sich nicht erinnern. Heimlich hofft sie, dass Tante Lou bald einen Mann findet, damit sie sie endlich zu sich holen kann. „Ich hab dich sehr lieb“, hatte ihr Tante Lou einmal geschrieben, ganz am Anfang. Nein, „lib“ hatte sie geschrieben, ohne „e“. Lieb schreibt man mit „ie“, korrigierte Halinka und Tante Lou hatte zurückgeschrieben, das würde sie sich gut merken. „Lieb“ sei ein wichtiges Wort, das dürfe man nicht falsch schreiben!

Einschlafen kann Halinka erst, wenn die anderen Mädchen schon schlafen. Doch darauf muss sie lange warten. Rosemarie schleicht manchmal noch nachts aus dem Zimmer. Und Renate weint, wenn sie glaubt, dass es niemand hört. „Das ist jeden Abend das Schlimmste, weil ich dann schnell an irgendetwas sehr Schönes denken muss, sonst muss ich auch weinen“, meint Halinka. Dann denkt sie an Orchideen, obwohl sie noch nie welche gesehen hat. Oft ist es besser, an etwas zu denken, das man nicht kennt.

Ob Renate weint, weil ihre Mutter im Gefängnis sitzt? Dass sie sie lieb hat, kann sich Halinka gar nicht vorstellen. Einmal hatte sie Tante Lou gefragt, weshalb ihre eigene Mutter so gemein war - wo sie doch selbst genau gewusst hatte, wie das ist! Da hat Tante Lou ein trauriges Gesicht gemacht und sanft geantwortet: „Halinkale, Schläge treffen nicht nur von außen, sie treffen auch die Seele. Deine Mutter hatte eine kranke Seele.“ Nein, an früher will sie nicht denken. Doch warum nur macht es sie so wütend, wenn sie auf der Straße gut angezogene Kinder an der Hand ihrer Eltern sieht? „Wenn es in der Seele bitter ist, hilft im Mund kein Zucker“, schreibt Halinka in ihr Gedankenbuch.
Doch eines Tages hat die Heimleiterin eine seltsame Idee. Die Mädchen sollen für das Müttergenesungswerk sammeln. Für Mütter, die den ganzen Tag „machen und tun“ und sich mal erholen müssten. Komisch, denkt Halinka.

Sie kann sich nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals „gemacht und getan“ hätte. Trotzdem ist sie fest entschlossen, Sammelkönigin zu werden! Was wohl der versprochene Preis sein mag? Ein Buch? Wie gerne hätte sie einen eigenen „Huckleberry Finn“! Geld für eine Fahrkarte zu Tante Lou? Schokolade? „Von was träumt das Huhn? Von Hirse, immer nur von Hirse“, schreibt sie in ihr Gedankenbuch. Neidisch beäugen die anderen Mädchen ihre immer schwerere Büchse. Zur Vorsicht ritzt sie ein kleines „H“ in das Emaille. Nicht, dass die Büchsen heimlich vertauscht werden! Auf dem Kofferspeicher kommt ihr schließlich eine gewagte Idee...

Gewinnt Halinka den Wettbewerb? Und was ist der ersehnte Preis? Doch was passiert, wenn ihr kleines Geheimnis entdeckt wird? Unversehens nehmen die Geschehnisse Fahrt auf und Halinka sieht sich in einen Strudel ganz neuer Erfahrungen hineingezogen. Erst muss sie sich schmerzhaft behaupten – dann passiert etwas unerwartet Schönes. Scheinbar  nebenbei entdeckt sie den Wert von Freundschaft.

Eine zeitlose Geschichte, die Mut macht und das Herz berührt. Zum Schluss kommt Halinka zu einer wichtigen Erkenntnis. „Es stimmt nicht, Tante Lou, dass man sich alles vorstellen kann, wenn man nur richtig nachdenkt. Man kann sich nur Dinge vorstellen, von denen man weiß.“ Sie hat ihr kleines Glück am Schopf gepackt, als es zaghaft den Kopf durch den Türspalt streckte - und ihm bereitwillig einen Stuhl hingestellt. Von jetzt an lebt sie nicht mehr nur in der Phantasie. „Tante Lou, liebe Tante Lou, was braucht man Honig, wenn auch Zucker süß schmeckt“!

Mirjam Pressler (1940-2019) war das uneheliche Kind einer jüdischen Mutter und wuchs  selbst in einem Heim auf. Die mehrfach preisgekrönte Schriftstellerin verfasste über 40 Kinder- und Jugendbücher, darunter „Die Lebensgeschichte der Anne Frank“. Mit 78 Jahren starb sie in Landshut. Ihren literarischen Nachlass erhielt die Internationale Jugendbibliothek in München.
 

Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.