Răzvan Roșu wurde 1990 in Sathmar/Satu Mare geboren. Er studierte Ethnologie und Anthropologie an der Babeș Bolyai Universität Klausenburg/Cluj und absolvierte seinen Master in Südosteuropastudien an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen auf der Erforschung ethnischer Gruppen in Siebenbürgen und anderen südosteuropäischen Regionen. Gegenwärtig fokussiert er sich bei seinen Forschungen auf die Sathmarer Schwaben. Zudem spielt er auch traditionelle Musikinstrumente wie Flöte, Dudelsack, Karpatenhorn (rum. tulnic) und Geige.
Im Spannungsfeld der Kulturen
Wenn man Răzvan Roșu zum ersten Mal begegnet und ihn mit seinem Hut (clop) und in seinem Hemd (chimeșe) sieht, merkt man, dass er die Blicke auf sich zieht. Die Kleidungskombination gehört zur Tracht der Motzen. Er trägt diese Tracht sehr oft und es ist eine Hommage an die Herkunft seiner eigenen Familie. Anfang der 1920er Jahren wurden Siedler aus dem Motzenland/Țara Moților), welches sich in einer Hochgebirgsregion im zentralen Siebenbürgen befindet, im Kreis Sathmar/Satu Mare angesiedelt. Durch diese Kolonisierung entstanden fünf sog. motzische Siedlungen: Marna, Ianculești, Horea, Scărișoara und Gelu im Kreis Sathmar. Die Großeltern von Răzvan Roșu lebten selbst im Dorf Marna, welches etwa sieben Kilometer von Großkarol/Carei entfernt liegt. Zudem befinden sich mit Petrifeld, Fienen, Stanislau und Terem mehrere schwäbisch geprägte Dörfer in der Nähe des Heimatdorfes seiner Großeltern. Das Interesse, sich mit Ethnologie und Kulturanthropologie zu beschäftigen, wurde genau dort geweckt. Als Kind wuchs er auch bei den Großeltern in Marna auf. Dabei stellte er fest, dass die Bewohner der schwäbischen Dörfer neben Rumänisch und Ungarisch auch eine weitere Sprache bzw. einen Dialekt sprachen. „Wie kann es sein, dass nur drei Kilometer von Marna entfernt, eine wesentlich andere Welt existiert?“, fragte sich Roșu bereits als kleiner Junge. Damals hörte und lernte er im sathmarschwäbischen Dorf Petrifeld seine ersten schwäbischen Wörter und Sätze. Als er sich später tiefer mit der Gruppe der Motzen beschäftigte, wurde er auch auf die langjährig bestehenden Beziehungen zwischen Schwaben und Motzen aufmerksam. So gerieten die Sathmarer Schwaben in seinen Forschungsfokus. „Ich habe dann besser Schwäbisch gelernt. So hat sich mein Interesse und die Liebe für die Sathmarer Schwaben entwickelt“, erinnert er sich zurück. Nach dem Abitur am renommierten Lyzeum „Mihai Eminescu“ in Sathmar, wo er auch Deutsch gelernt hatte, führte ihn seine erste akademische Station nach Klausenburg/Cluj-Napoca. Im Rahmen des Studiums wurde ihm ein Erasmus-Auslandsjahr an der Universität Wien ermöglicht. Während des Aufenthalts in der österreichischen Hauptstadt beschäftigte er sich tiefer mit der Disziplin der Kulturanthropologie. 2013 begann er, Südosteuropastudien an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena zu studieren. 2015 schloss er das Masterstudium mit der Arbeit „Das Enklavisierungsphänomen in der Großkaroler Gegend: Motzen und Schwaben“ ab. Nach seinem Abschluss führte ihn sein Weg wieder nach Wien, wo er als externes Mitglied des Doktoratkollegs Galizien fungierte. Seit 2017 ist er Mitglied des Doktoratskollegs für Mitteleuropäische Geschichte an der Andrássy Universität in Budapest. „Ich habe viel über Siebenbürgen und das Habsburgerreich geforscht, und ich habe mich auch ganz viel mit Dialektologie, Ethnomusikologie oder Identitätsfragen beschäftigt. Aber ich glaube, Feldforschung ist einer meiner Forschungsschwerpunkte. Wenn ich Interviews führe und interessante Menschen treffe, fühle ich mich wohl und man hat auch das Gefühl, dass es auch Neues und Originelles für die Studien bringen kann. Mündlich überlieferte Geschichte(n) in Siebenbürgen, aber auch in anderen Gebieten Mittel- und Südosteuropas sind bisher nur sehr wenig erforscht“, schildert Roșu seine Arbeit.
Mission: Sprachen und Dialekte für die Nachwelt retten
Zwischen 1950 und 2010 starben laut „UNESCO Atlas für gefährdete Sprachen“ 230 Sprachen aus. Aktuell hat ein Drittel der weltweiten Sprachen weniger als tausend Sprecher. Alle zwei Wochen stirbt eine Sprache zusammen mit ihrem letzten verbliebenen Sprecher. Bis zum Jahr 2100 werden Schätzungen zufolge 50 bis 90 Prozent verschwinden.
Über seinen Betreuer Prof. Thede Kahl kam Răzvan Roșu zum Projekt „Vanishing Languages and Cultural Heritage“ (kurz: VLACH). Die Kommission „Vanishing Languages and Cultural Heritage“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde im September 2016 mit dem Ziel gegründet, die weltweit schwindende sprachliche und kulturelle Vielfalt zu dokumentieren und zu analysieren. Mitglieder, Projektleiter und wissenschaftliche Mitarbeiter der Kommission sind bestrebt, ein Erbe zu schaffen, das über die Dokumentation, Analyse und Langzeitarchivierung des sprachlichen und kulturellen Erbes hinausgeht. Bisher wurden im Rahmen des Projektes Sammlungen zu verschiedenen, vom Aussterben gefährdeten Sprachen und Dialekten erstellt, die über die Webseite des Projektes zugänglich sind. Neben seiner Tätigkeit für das Kreismuseum Sathmar, dokumentiert Răzvan Roșu seit 2019 als Mitarbeiter im Rahmen des VLACH-Projektes u. a. auch den schwäbischen Dialekt und das Kulturerbe der Sathmarer Schwaben. Er sammelt dabei mündliche Überlieferungen, Geschichten, Lieder sowie weiteres Kulturgut, welches er über Interviews und Videoaufnahmen aufzeichnet. Anschließend werden die Texte dialektologisch transkribiert und auch ins Englische übersetzt. Die erstellten Videos werden so mit englischen und schwäbischen Untertiteln versehen. Die Aufnahmen sollen langfristig auf der Webseite der Kommission in einer Sammlung zugänglich gemacht und dadurch auch archiviert werden. Über die Webseite www.oeaw.ac.at/vlach/collections/sathmar-swabian können Interessierte bereits Erzählungen und Lieder in sathmarschwäbischer Mundart in Videoform finden. Ebenso gehören Fotos zur Architektur im Sathmarland sowie zu typisch schwäbischen Artefakten zur Sammlung.
Forschung zur sathmarschwäbischen Mundart und Identität
Seit Anfang August befindet sich der Forscher in Tübingen, um dort am Institut für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde zu forschen. Neben diesen Forschungen hat er sich zum Ziel gesetzt, in den kommenden Monaten vor allem in Baden-Württemberg lebende Sathmarer Schwaben, die den sathmar-schwäbischen Dialekt noch sprechen, für seine Forschungen zu interviewen und ihre Geschichten und vor allem die Mundart aufzuzeichnen. „Momentan forsche ich auch zur Identität der Sathmarer Schwaben. Ich suche nach Erklärungsmodellen, warum man bei den Sathmarer Schwaben auf verschiedene Identitätsformen trifft. Geschwister aus einer Familie, die verschiedene Identitäten annehmen und zu Ungarn und Schwaben bzw. Deutschen werden. Angehörige der gleichen Familie mit deutschen und ungarischen Namen, Personen, die sich als Deutsche bezeichnen, aber kein Wort Deutsch sprechen oder verstehen. All dies sind Bilder einer paradoxen Situation, wie man sie im Sathmarer Raum finden kann“, beschreibt Roșu seine Forschungen. Die Forschungsvorhaben beschäftigten sich mit Aspekten der heutigen (diffusen) Identität der Sathmarer Schwaben. Dabei lässt sich feststellen, dass sich die Identitätsmuster der Sathmarer Schwaben in der Positionierung des Einzelnen offenbar zwischen proungarischen und prodeutschen/schwäbischen Identitätsmustern und Gefühlen bewegen und sich im-plizit auf die jeweilige Konfliktsituation beziehen.
Der Fall der Sathmarer Schwaben hat nicht nur für die Geschichte der Donauschwaben Relevanz, sondern auch für die Entwicklung der traditionellen Gesellschaften in Südosteuropa. Es gibt eine Reihe von ethnischen Minderheiten, die aus ihrer ursprünglichen Heimat ausgewandert sind und mit diesem kulturellen Milieu fast keinen Kontakt mehr pflegen, so auch die Beispiele der Megleno-Rumänen in Griechenland und Nord-Mazedonien, der Vlachen im Timoktal oder der Tschangos in der Moldau.