Werfen wir einen Blick auf die Ergebnisse der ersten Wahlrunde zum Präsidentenamt im Jahr 2025: Fast überall dort, wo Rumänien nicht großstädtisch geprägt ist, wählten die Menschen mehrheitlich den „Anti-System“-Kandidaten George Simion (AUR). Der parteilose bisherige Bukarester Bürgermeister Nicușor Dan lag in all diesen Landeskreisen unter 15, teilweise sogar unter 10 Prozent. Die notwendigen Stimmen, um in die Stichwahl zu gelangen, sammelte er in der Hauptstadt und einigen anderen Großstädten, sowie zum Teil im Ausland (wo Simion bekanntlich noch erfolgreicher war).
Etwas vereinfacht könnte man sagen: Dan war der Kandidat des urbanen Rumäniens, Simion der vom Rest des Landes, abgesehen von einigen Crin-Antonescu-Inseln insbesondere in den ungarisch geprägten Gebieten.
Ein Land driftet auseinander
Natürlich relativieren die Resultate des zweiten Wahlgangs diese Diagnose ein wenig. Nicușor Dan erzielte landesweit über eine Million Stimmen mehr als George Simion, was auch mit der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung zusammenhing. Aber das Muster blieb ähnlich: Dan holte die meisten Stimmen in den Städten, Simion im ländlichen Raum. Allerdings: Die Gebiete, die in Runde Eins an Antonescu gegangen waren, entfielen jetzt sehr deutlich auf den Wahlsieger. Sein bestes Ergebnis auf Landeskreisebene erzielte der Bukarester Bürgermeister in Harghita (ca. 91 Prozent), gefolgt von Covasna (ca. 84 Prozent). Hier hatte eine äußerst erfolgreiche Mobilisierung des Ungarnverbandes (UDMR) für Dan stattgefunden.
Womit das Stadt-Land-Gefälle zu tun haben dürfte, zeigen die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung der Consultingfirma MKOR: 78 Prozent der Befragten mit abgeschlossenem Studium und 74 Prozent derjenigen mit hohem Einkommen gaben an, für Dan gestimmt zu haben. Personen, die diese Kriterien erfüllen, sind, wie Statistiken zeigen, ganz überwiegend in den Städten zu finden.
Die Wahlergebnisse spiegeln damit insgesamt einen gefährlichen Trend wider. Die regionalen Ungleichheiten in Rumänien nehmen in vielerlei Hinsicht weiter zu und haben inzwischen dramatische Ausmaße angenommen. Ein Beispiel aus dem letzten (neunten) EU-Bericht zur „ökonomischen, sozialen und regionalen Kohäsion“: Das Risiko, von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen zu sein, betrug 2022 in Rumänien in dünn besiedelten Regionen 48 Prozent, gegenüber 19 Prozent in Städten. Die Differenz von 29 Prozent zwischen beiden Kategorien war im EU-Vergleich mit Abstand am größten.
Extreme Unterschiede gibt es auch bei der Ausstattung mit Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie der Verkehrsinfrastruktur. Daraus resultieren weniger Chancen, einen gewissen Lebensstandard zu erreichen, bestimmte Berufsziele zu realisieren und ein gesundes Leben zu führen. All dies, gepaart mit der daraus folgenden Abwanderung ins Ausland insbesondere junger Menschen, dürfte bei Vielen zu einem Gefühl der Benachteiligung führen und die Wahlentscheidung beeinflusst haben.
Natürlich trifft es zu, dass die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land statistisch gesehen maßgeblich durch den extremen wirtschaftlichen Aufstieg Bukarests verursacht wurde. Das heißt, in den „abgehängten Regionen“ geht es nicht unbedingt bergab, aber eben viel langsamer voran und Unzufriedenheit entsteht bekanntlich über den Vergleich.
Nicușor Dans vorrangige Aufgabe wird es sein, von einem Kandidaten der Städter zu einem Präsidenten zu werden, der insbesondere die Lage in den schwächer entwickelten Gegenden im Blick hat und sich für eine Wiederannäherung der statistischen Parameter und – darauf aufbauend – politischen Auffassungen einsetzt.
„Anti-System“ ist überall
Während George Simion in dem Sinne als „Anti-System“ gelten darf, dass er bzw. seine Parteiangehörigen bisher nicht in der Regierung bzw. wichtigen öffentlichen Ämtern vertreten sind und seine Äußerungen häufig radikal in Ton und Absicht daherkommen, sind spätestens nach der annullierten Wahl Ende 2024 auch inhaltlich gemäßigte Kandidaten auf den „Anti-System“-Zug aufgesprungen, namentlich Elena Lasconi und Nicușor Dan.
Ob aus echtem Frust über die verpasste Chance oder reiner Taktik – das ständige Schwadronieren über „Kandidaten des Systems“ oder die „Macht des Systems“ durch Personen, die selber öffentliche Ämter bekleiden, ist demokratietechnisch ein Problem. Es suggeriert das Wirken korrupter, undemokratischer Mächte im Verborgenen, ohne dieses jedoch genau zu benennen. Man bewegt sich nah am Rand der Verschwörungstheorien. Eine entsprechende Rhetorik stärkt letztlich diejenigen, die das demokratische System komplett über den Haufen werfen wollen.
Elena Lasconi (nach eigener Aussage die „einzige Anti-System-Kandidatin“) dürfte sich mit ihrer Rede vom System, das ihre Wahl verhindert habe, zudem keinen Gefallen getan haben. Stellte es doch – indem sie die Annullierung durch das Verfassungsgericht in eine gegen sie persönlich gerichtete Aktion ummünzte – diejenigen ihrer Wähler vor ein Dilemma, die die Entscheidung, Călin Georgescu zu stoppen, für grundsätzlich richtig hielten. War das nicht, wenn auch schlecht kommuniziert, genau die erforderliche Reaktion der demokratischen Institutionen auf einen Angriff von außen gewesen?
Der emeritierte Temeswarer Ökonomieprofessor Silviu Cerna hat sich in seinem Aufsatz „Der Kampf gegen das System“ unlängst mit dem Trend auseinander gesetzt und darauf hingewiesen, dass es neben den vielen „professionellen Kämpfern gegen das System“, auch „viele gewöhnliche Menschen gibt, die glauben, dass so etwas (ein gut organisiertes Netzwerk, das im Hintergrund die Fäden zieht, Erg. d. Aut.) existiert und dieselben Narrative übernehmen und weiterverbreiten“.
Seiner Einschätzung zufolge ist auch dieser Glaube auf die unbestreitbare Ungleichheit in der rumänischen Gesellschaft zurückzuführen. Zahlreiche Politiker und einflussreiche Personen, aber auch ganz allgemein Erwachsene in Rumänien würden einer Vorstellung aus sozialistischen Zeiten nachhängen, derzufolge der Staat für das Lebensniveau des Einzelnen und letztlich auch für eine gewisse Gleichheit zwischen den Bürgern verantwortlich sei. Das Nichterfüllen dieser Erwartung sei der Nährboden für diffuse Anti-System-Haltungen.
Nicușor Dan wird als neuer Präsident hoffentlich bedacht in seiner Systemkritik sein. Ihm wird die anspruchsvolle Aufgabe zuteil, die Reformierung (und damit vor allem Befreiung von Korruption und Vetternwirtschaft etc.) der staatlichen Institutionen voranzutreiben. Deren „gutes Funktionieren“ soll er schließlich gemäß Verfassung überwachen. Dabei muss er natürlich auch Missstände im politischen System benennen. Seine politische Ungebundenheit kann ihm dabei helfen. Gleichzeitig muss er sich gegen das erodierende Vertrauen der Rumänen in das demokratische System an sich stemmen und letzteres gegenüber seinen Kritikern verteidigen. Ansonsten droht, was einige Kommentatoren bereits an die Wand malen, bei den nächsten Wahlen ein Triumph des „echten“ Anti-System-Lagers.
Eine EU von rechts ist möglich
Der Wahlkampf war maximal aufgeladen. Dazu trugen die Vorgeschichte der geplatzten Präsidentschaftswahl im November und Dezember bei und nicht zuletzt das parallele Scheitern der Regierungskoalition im Parlament. Selbstverursachtes Scheitern muss man sagen, durch die Entscheidung der Regierungskoalition, ihr Schicksal an den Ausgang der Präsidentenwahl zu knüpfen und den Rücktritt Marcel Ciolacus (PSD) nach Antonescus Niederlage in der ersten Runde.
Dazu kam gerade in den letzten Wochen eine starke rhetorische Zuspitzung in der öffentlichen Debatte, vorangetrieben durch Politiker und Medienvertreter, derzufolge - um hier nur eine der gängigen Metaphern wiederzugeben, das gängige Attribut „historisch“ (siehe Titel) reiht sich in diese Rhetorik ein – Rumänien in der Stichwahl „am Scheideweg“ zwischen EU und Russland, bzw. zwischen Demokratie und Diktatur stand. Auch wenn man dies einerseits als legitimen und letztlich erfolgreichen Wachrüttler einstufen kann, kam in diesem Diskurs insgesamt zu kurz, was Simion eigentlich konkret vorschwebt.
In Bezug auf die EU ist das verschiedenen Aussagen aus der jüngeren Vergangenheit zufolge kein Austritt, sondern – und das ist in der Gesamtbetrachtung nicht unbedingt weniger gefährlich – eine Umgestaltung in eine primär ökonomische Gemeinschaft, die kurz zusammen gefasst weiterhin den Fluss an EU-Subventionen ins Land sichert, jedoch keine Umweltauflagen oder ähnliche Eingriffe aus Brüssel vorsieht. Gleichzeitig forderte Simion Medien gegenüber eine „rechte Politik der EU-Institutionen“. Seine erklärten Vorbilder in Bezug auf die EU-Politik sind Viktor Orban und Giorgia Meloni, wobei er allgemein bekanntlich Anhänger von Donald Trump und dessen MAGA-Bewegung (steht für Make America Great Again) ist, was sich auch mit einer Putin-freundlichen Haltung nicht ausschließt.
Der entscheidende Punkt ist jedoch: Vieles spricht dafür, dass Simion alles daran setzen würde, in Allianz mit gleichgesinnten Regierungen oder Staatsoberhäuptern, die EU in eine ultrakonservative rechte Wertegemeinschaft umzuformen, welche Migranten, Minderheiten, Menschen nichtchristlichen Glaubens, solchen, die anderen Lebensformen als der Ehe von Mann und Frau nachgehen bzw. sich nicht einem Geschlecht zuordnen oder dieses wechseln wollen, das Leben schwer machen möchte.
Dass Simion diese Form der Gesellschaftspolitik als europäisches Projekt ansieht, hat er mehr als deutlich demonstriert, indem er in der entscheidenden Phase des Wahlkampfs nach Polen, Italien und Frankreich reiste, um dort Bündnisse zu schmieden und in den Medien die Heilung des Kontinents von Osten her anzukündigen. Das kann man einerseits im Rückblick als größenwahnsinniges Gefasel abtun, andererseits als realistisches Szenario im Kopf behalten, sollten zukünftig mehr und mehr Mitgliedsländer dem Rechtsruck anheimfallen und auf eine ähnliche Linie einschwenken. Es dürfte in Zukunft kaum noch ausreichen, darauf hinzuweisen, dass die große Mehrheit der Rumänen pro EU sei, denn die entscheidende Frage lautet: Was für eine EU wollen die Menschen eigentlich?
Fazit
Rumäniens demokratisches System ist im Zuge der Präsidentenwahl, mit all ihren Wendungen und Facetten, ordentlich ins Wanken geraten. Die Bedrohungen sind weder abgewendet noch verschwunden. Umso wichtiger ist es, entsprechende Lehren zu ziehen. In diesem Text wurden diesbezüglich drei kritische Punkte besprochen, ohne Frage hätte es zahlreiche mehr gegeben.
Rumäniens Demokratie steht vor vielen Herausforderungen. Die Reduzierung der regionalen Ungleichheiten, die Verteidigung und gleichzeitig Reformierung der demokratischen Institutionen sowie die Mitgestaltung einer fortschrittlich wertebasierten Europäischen Union, die das Leben der europäischen Bürger weiterhin positiv beeinflusst, gehören zu denjenigen, bei welchen der Präsident direkt oder indirekt eine wichtige Rolle spielen kann. Es wird spannend sein, zu beobachten, welche Schwerpunkte Nicușor Dan setzt und für welche Projekte er Unterstützung einsammeln kann. Denn diese wird er brauchen, aus Parteien und Zivilgesellschaft.