Es ist sicher ein etwas seltsames Gefühl, wenn man ein Gebäude betritt, von dem die Geschichte von mindestens 400.000 Menschen vor dreihundert Jahren ihren Ausgang genommen hat. Allerdings muss man sich auch immer wieder fragen, wie viele unter denjenigen, die dieses Gebäude betreten, sich auch der Qual und Last der geschichtlichen Erinnerung – vor allem für sie persönlich, für die Gruppe, der sie angehören, für die Ortschaft, die das Gebäude birgt – bewusst sind, wenn sie einen solchen Bau betreten.
In Sathmar/Satu Mare ist dies ein Gebäude im Stadtzentrum, wo heute das Kunstmuseum der Stadt untergebracht ist. An dieser Stelle – damals waren hier Stallungen für Pferde – wurde im Jahr 1712, also vor rund dreihundert Jahren, der Friede von Sathmar unterzeichnet. Die aufständischen ungarischen Adligen, bekannt als Kuruzen (von daher und ob der von ihnen angerichteten Verwüstungen der schwäbisch-deutsche Fluchwort „Kruzitürken“, schwäbisch: „Kruzitherke!“!), angeführt von Franz/Ferencz Rákóczi, hatten nach jahrelangem Krieg und steigendem Finanzierungsnotstand für ihre Kriegshandlungen (sie prägten sogar eine „Kuruzenwährung“) erkannt, dass sie um einen Friedensschluss mit ihrem (Ungarn)König Karl III., besser bekannt als Habsburgerkaiser Karl VI., nicht herumkommen.
Aufräumen mit der Populärwissenschaft
Die Kuruzenkriege hinterließen ein weiträumig verwüstetes historisches Ungarreich und selbst die ungarische Ständeversammlung in Pressburg/Bratislava kann nicht umhin, 1723 dem Beispiel der habsburgischen „Impopulationspatente“ zu folgen und die Kolonisierung der Wüstungen zu empfehlen – durch ein eigenes Impopulationspatent, das ziemlich genau dem Geist und teils auch dem Wortlaut der habsburgischen Ansiedlungspatente vom Ende des 17. und vom Anfang des 18. Jahrhunderts folgt.
Die Ausstellung, die bis Frühsommer 2013 in Rumänien – über die Stationen Sathmar, Arad, Temeswar/Timişoara und Reschitza – zu sehen sein wird, räumt erstmals mit den durch populärwissenschaftliche (Heimatkunde und Ortsmonografien) und Geschichtsforschungen des 19.-20. Jahrhunderts tief verankerten Meinung auf, dass die Ansiedlung der Deutschen im 18. Jahrhundert eine ausschließlich staatlich geförderte Migrationsbewegung nach Osten war (die „karolinischen, theresianischen und josephinischen Schwabenzüge“). Sie klärt auf, dass durch die „Schwabenzüge“ rund 150.000 deutsche Siedler im 18.-19. Jahrhundert in den Mittleren Donauraum kamen, aber dass über private Kolonisierungsinitiativen im selben Zeitraum (allerdings oft unter viel prekäreren Bedingungen) rund 250.000 Siedler in diesen Raum gekommen sind. Durchwegs auf Initiative von ungarischen Adligen, die sich durch deutsche Untertanen höhere Einkünfte von ihren Gütern (zurecht, wie sich herausstellte – manche Besitztümer haben binnen einer Generation ihre Einkünfte vermannigfacht) erhofften.
Relativierende Randerkenntnisse
Vorreiter und konsequente Veranstalter solcher privater Kolonisierungen waren die Grafen Károlyi aus Großkarol/Carei im Sathmarer Land. Die Ausstellung würdigt – beispielhaft objektiv – den Grafen Sándor Károlyi, einen ehemaligen Kuruzengeneral, der rechtzeitig die Aussichtslosigkeit der Kuruzenbewegung erkannt hatte und ausgestiegen war und der am 16. Juni 1712, nach seinem Privatfrieden mit dem König und Kaiser Karl, von Pressburg aus den ersten Schwabenzug in den Sathmarer Raum organisiert hatte. In 30 Jahren besiedelt Graf Sándor acht Dörfer im Sathmarer Land mit 600 römisch-katholischen Familien, alle aus Oberschwaben, und bis 1838 gelingt es den Károlyis, 2072 schwäbische Familien im Raum Sathmar sesshaft zu machen.
Durch solche akribisch dokumentierte Beispiele (die Ausstellung wurde durch Christian Glass, Andrea Vándor, Leni Perencevic und Henrike Hampe mit Hilfe der Partnermuseen aus Fünfkirchen/Pécs, Neusatz an der Donau/Novi Sad, Sathmar, Arad, Temeswar und Reschitza konzipiert und erstmals im Mai 2012 in Ulm anlässlich der Eröffnung des Jubiläumsjahrs des Beginns der Migration der Deutschen in den Donauraum, als Teil der Ulmer Festlichkeiten zum 300.Jubiläum, gezeigt), aber auch durch viele relativierende Randbemerkungen (Neuwertung der Rolle der Türken im Spätmittelalter in Mitteleuropa, bis zur Belagerung von Wien 1683, frühes Zusammenleben zwischen Siedlern und Neusiedlern im keinesfalls als sich selber überlassenen Naturraum vorgefundenen Großraum des Pannonischen Beckens, Landschafts- und Lebensgestaltung durch die Kolonisten und deren Ausstrahlung auf die Ursiedler, Ummodelung und Wiederentdeckung der Bewirtschaftung des Agrarlands, nach der Wanderviehzucht der Türkenzeit sowie Ummodelung des Naturraums nach den Prinzipien des mitteleuropäischen Merkantilismus, usw.).
Geschichts-Vermenschlichung
Sehr lebendig und berührend wird die Ausstellung durch die Darstellung historisch dokumentierter persönlicher Schicksale von Siedlern (die Einheimischen kommen etwas zu kurz, waren aber auch nicht Hauptgegenstand der Forschungen, können jedoch von jedem Museum mit eigenen Sequenzen vervollständigt werden...), durch Briefe an die Zurückgebliebenen, durch Nachzeichnung von Erbschaftstrassen, durch die Demontage der (vor allem aus Ungarn kommenden) Vorurteile über den Besitzstand der Siedler (geschätztes Durchschnittsvermögen der 400.000 Siedler: 200 Gulden), durch die Nachzeichnung kurzer Familiengeschichten, von Erfolgen und Siedlerflops.
Fakt bleibt: Wer wirklich ein Interesse hat, die ins Rumänische übersetzten Ausstellungstexte und die entsprechenden Illustrationen/Nachweise sich genau anzusehen, der müsste dafür schon mindestens zwei Stunden aufbringen, wenn er sich tatsächlich ein (möglichst eigenes) Bild von der größtem Migrationsbewegung des 18. Jahrhunderts und deren Folgen für Mitteleuropa machen will.
Das Rahmenprogramm des auch über die EU (90.000 der Gesamtkosten von 200.000 Euro kommen aus Brüssel) geförderten Projekts umfasste auch eine Tagung der Partnermuseen zur Frage: „Was nun?“ Denn neben der Ausstellung möchten die Partner des MI-DANU (so das in Brüssel angegebene Projektkürzel) auch, jedes für seinen räumlichen Zuständigkeitsbereich, Mini-Reiseleiter herausgeben, die zum Besuch heutiger Zeugnisse der Umgestaltung Mitteleuropas durch die Migrationsbewegungen von Deutschen im 18.-19. Jahrhundert führen sollen.
Ausstellung als ReiseanregungDas wären etwa Spazierfahrten auf dem 1754 fertiggestellten Bega-Kanal von Temeswar in Richtung Theiß und Donau oder zu den Reißbrettsiedlungen Charlottenburg und Altringen in Richtung Marosch-Tal, zum Besuch des Schlosses der Grafen von Károlyi im Stadtpark von Carei/Großkarol, zum Besuch der Weingegend im Arader Hügelland oder zum Besuch von Steierdorf/Anina und seinen industriellen Reliquien.
Wie kompliziert – und gleichzeitig faszinierend – eine Ausstellung und ein gemeinsames Projekt sein kann, das nicht nur über Grenzen und Sprachen hinweg, sondern auch in Aufarbeitung und Überwindung von Mentalitäten und Einkommensbarrieren hinweg zustande kommen soll (eine viel und lang diskutierte Frage war in Sathmar beispielsweise, wie die Zusatz- und ausbildungsfremde Mehrarbeit von Museologen honoriert werden kann, die plötzlich Reiseführer ausarbeiten sollen – während gleichzeitig kein grundsätzliches Problem darin gefunden wurde, die Beiträge von Fotografen zum selben Projekt per Honorar zu bezahlen), das sind Dinge, die man als Außenstehender und Interessent so gar nicht mitbekommt. Aber sie sind real (die Frage aus dem Raum: „Was kann denn die EU schon Grundsätzliches dagegen haben, wenn einem Museumskustos, der in Serbien, Rumänien oder Ungarn seine kargen 150-200 Euro verdient, für die Zusatzarbeit eines Reiseführers im Rahmen eines EU-Projekts 200 Euro bezahlt werden, bei einem Gesamtetat von 200.000 Euro?“) und sie sind meist „unüberwindlich“, so lange kein Plazet-Signal aus Brüssel kommt. Leider. Und umso höher muss das Begeisterungspotenzial eingeschätzt werden, das durch solche Projekte geweckt werden kann, jenseits von enormen Einkommensschwellen bei vergleichsweise gleichem Wissens- und Informationsstand (das Grundkonzept der Ausstellung hat beispielsweise der Direktor des Museums des Banater Montangebiets, Dr. Dumitru }eicu, geliefert, die Hauptarbeit zum Zustandekommen der Ausstellung, sowie viele der alte Konzepte relativierenden Schlüsselideen erbrachte Andrea Vándor, die eigentlich eine „Leihmusologin“ vom Janus Pannonius-Museum aus Pécs ist, die für ein Jahr am Donauschwäbischen Zentralmuseum in Ulm arbeitet).
Im Sathmarer Haus, wo 1712 der Frieden zwischen den Kuruzen und den Heeren Kaiser Karl VI. unterzeichnet wurde, ist die Ausstellung bis Ende Dezember zu besichtigen. Zwischen dem 16. Januar – 24. Februar 2013 ist die Ausstellung in Arad zu sehen, zwischen dem 7.März und dem 15.April des kommenden Jahres in Temeswar (in der Bastei), vom 23.April bis 2.Juni 2013 im Museum des Banater Montangebiets, über Sommer 2013 (13. Juni-1. September) in Pécs und vom 12. September bis am 27. Oktober 2013 im städtischen Museum in Novi-Sad. Spätestens bis zum Abbau der Ausstellung in Pécs sollen auch die Reiseführer fertig sein, die ein wichtiges Begleitmaterial der Ausstellung sind. Zur Feinarbeit dazu wird sicher noch mindestens eine Projektbegegnung nötig sein.