„Ein Kind ist kein Unfall“

Gespräch mit Dr. Cristina Valea, der Vorsitzenden der Stiftung Pro Vita Medica

Ärztin Cristina Valea (rechts) hat Claudia beraten, die bereits zwei Kinder hatte und kein drittes mehr bekommen wollte. Heute ist Claudia stolze dreifache Mutter. Foto: provitamedica.com

Rumänien ist ein Land, in dem Familienpolitik eine eher nebesächliche Rolle spielt. Der rumänische Staat stellt jungen Müttern wenig Pflegegeld und unzureichend Mutterschaftsurlaub zur Verfügung. Dies führt oft dazu, dass sich viele schwangere Frauen für die Abtreibung entscheiden. Die Stiftung Pro Vita Medica, 1998 in Temeswar/Timişoara ins Leben gerufen, unterstützt junge Mütter bei der Erfüllung des Kinderwunsches. Die BZ-Redakteurin Raluca Nelepcu traf die Leiterin der Stiftung, Dr. Cristina Valea, und sprach mit ihr über das Tabu-Thema Abtreibung und den damit verbundenen Risiken.

 

Welche sind die Ziele der Stiftung Pro Vita Medica?

 

Pro Vita Medica ist entstanden, um Frauen in Not zu helfen, die in einem ungünstigen Moment schwanger geblieben sind und abtreiben wollen. Ihr erster Gedanke ist Abtreibung. Ein erstes Anliegen von uns ist die Beratung im Krankenhaus. Sie findet im Dumitru-Popescu-Krankenhaus (Anm. D. Red.: ehemaliges Odobescu-Spital) und in der Bega-Entbindungsklinik statt. Wir gehen jeden Tag dorthin und sprechen mit den Frauen, die vor einer Abtreibung stehen. Das Ziel ist, diesen Frauen vor der Abtreibung klar zu machen, welches die Risiken eines Schwangerschaftsabbruchs sind, was mit dem Baby im Bauch ist und dass es eine Alternative gibt, dass wir helfen können.

 

Was für Frauen sind das, die sich für die Abtreibung entscheiden?

 

Es sind allerlei Frauen, aber in letzter Zeit kommen immer mehr junge Frauen. Die meisten sind zwischen 19 und 22 Jahre alt, haben vielleicht die Schule aufgegeben und sind nach einem oder zwei Jahren schwanger geworden. Es gibt aber auch Frauen, die verheiratet sind oder eine freie Beziehung haben und trotzdem abtreiben wollen.

 

Rumänien belegt europaweit einen der Spitzenplätze, was die Zahl der Abtreibungen betrifft. Woran liegt das wohl?

 

Einer der Gründe ist auf den Kommunismus zurückzuführen. Damals waren nämlich Familienplanung und Abtreibung verboten. Das erste Gesetz, das nach dem Fall des Diktators verabschiedet wurde, war das Abtreibungsgesetz. Gleich danach wurden sehr viele Abtreibungen in Rumänien verzeichnet. Nach der Revolution 1989 waren es etwa eine Million Abtreibungen im Jahr. Inzwischen ist diese Zahl gesunken, aber sie ist immer noch hoch. Ich denke, ungefähr zwei Drittel aller schwangeren Frauen entscheiden sich für eine Abtreibung, so die inoffiziellen Daten. Offiziell kennen wir nur die Daten von den staatlichen Krankenhäusern.

 

Welche Risiken bringt eine Abtreibung mit sich?

 

Die ersten Risiken, die bereits bei der Prozedur auftauchen können, sind zum Beispiel Blutungen, Infektionen oder die Perforierung der Gebärmutter. Die anderen kommen später. Man muss auch Unfruchtbarkeit in Betracht ziehen. Wenn eine andere Schwangerschaft kommt, wird das Embryo nicht gut implantiert und es kann zur rektopischen Schwangerschaft kommen, zu Blutungen oder zur Frühgeburt. Oder aber auch eine große Prädisposition zu Gebärmutterkrebs oder Brustkrebs. Das sind die ärztlichen oder physischen Risiken. Es gibt aber auch solche psychischer Natur, wie Depression, Angst oder Frustration. Nach einer Abtreibung fühlt sich die Frau sehr unwohl, sie hat seelische Probleme. Sie hat das sogenannte „Post-Abtreibungs-Syndrom“. Es ist eine Sache, wenn man ein Objekt verliert, wie zum Beispiel einen Ausweis oder ein Mobiltelefon, und etwas ganz anderes, wenn man sein eigenes Kind verliert und dazu durch die eigene Entscheidung beigetragen hat.

 

Wie läuft die Beratung vor der Abtreibung?

 

Alle Frauen sind offen für die Beratung, denn sie wollen sich aussprechen. Sie haben so viele Probleme und niemand ist bereit, ihnen zuzuhören – der Mann hört ihnen nicht zu, die Mutter auch nicht und der Gynäkologe hat keine Zeit dafür. Wir laden dann die Frauen in unser kleines Büro ein, zu einem Gespräch vor der Abtreibung. Sie bedanken sich bei uns, obwohl die meisten die Abtreibung dann doch machen lassen. Es gibt aber auch solche, die sich für das Baby entscheiden und dann wollen sie noch mehr  mit uns sprechen, sie kommen zur Stiftung und, haben sie eine völlig andere Einstellung zum Kind, sie erwarten es mit Freude.

 

Es gibt auch viele konkrete Situationen, in denen sich Frauen schließlich gegen die Abtreibung entschieden haben. Welcher Fall hat Sie besonders beeindruckt?

 

Es gibt viele Erfolgsgeschichten und jedes Kind ist wertvoll. Mit fällt aber immer die eine Geschichte ein. Vor einigen Jahren gab es zwei junge Menschen, die zusammenlebten. Er hatte schon das Lyzeum fertig und arbeitete irgendwo - dazu besuchte er auch eine postlyzeale Schule. Sie war Schülerin der zwölften Klasse. Sie hatten sich für die Abtreibung entschieden. Wir haben dann mit ihnen gesprochen und er hat gesagt, dass er sie unterstützt, wenn sie sich für das Baby entscheidet. Insbesondere ihre Eltern waren dagegen, aber die beiden waren zusammen sehr mutig und haben sich für das Baby entschieden. Sie hat die Schule beendet und sie haben dann auch geheiratet. Die Großeltern waren dann völlig überrascht und froh über das Kind - das Kind hat praktisch alle wieder zusammengebracht. Nachher hat sie die Fakultät abgeschlossen und inzwischen hat sie noch ein zweites Kind und sie sind überglücklich. Die junge Frau sagt auch heute: „Das Kind war nicht gegen meine Karriere“, es kam einfach mit. Der Mann hat ihr aber auch viel geholfen.

 

Viele junge Mädchen im Schulzeitalter treiben ab. Woran liegt es?

 

Die Eltern sind immer gegen eine Freundschaft, aber dann hat das Mädchen doch einen Freund und bleibt schwanger. Die Eltern sagen dann: „Wenn du schwanger bist, dann raus!“. Es fehlt an Aufklärung. Das Kind hat ja keine Schuld und jedes Kind will leben. Sein Wert hängt nicht ab vom Alter der Mutter, ob sie verheiratet ist oder nicht, ob es das erste ist oder nicht. Jedes Kind ist einzigartig. 

 

Gibt es Situationen, wo Abtreibung dann doch als einzige Lösung betrachtet werden kann?

 

Armut ist so ein Wort. Wo einer wächst, dort wächst auch der zweite, wo zwei sind, dort wächst auch der dritte. Wenn ein Kind infolge eines Missbrauchs gezeugt wird, ist es aber immer noch nicht schuld an dem, was geschehen ist. Es ist nicht schuld daran, wie es konzipiert wurde, mit Liebe oder Aggression. Warum soll das Kind mit seinem Leben dafür bezahlen, dass sein Vater seine Mutter vergewaltigt hat? Man hat festgestellt: Wenn die Mutter das Kind selbst erzieht, wird sie durch die Liebe des Kindes geheilt.

 

Wie viele von den Frauen, die Sie beraten haben, entscheiden sich, das Kind zu behalten?

 

Es sind ungefähr zehn Prozent, nicht so viele, obwohl wir sehr viele Frauen beraten haben. Die Frauen, die dorthin kommen, haben bereits für die Abtreibung bezahlt, sich einen freien Tag von der Arbeit genommen und bereits alles mit dem Doktor geklärt. Viele sagen: „Wenn ich schon auf diesem Wege bin, werde ich mich nicht mehr umentscheiden“. In Deutschland oder in der Schweiz ist die Beratung obligatorisch. Wenn eine Frau feststellt, dass sie schwanger ist, muss sie zuerst zur Beratung und danach zum Gynäkologen.

 

Was motiviert Sie, weiterzumachen?

 

Das Leben des Kindes motiviert uns. Dort ist ein Kind, das leben will, und die Mutter und ihre Familie aber auch die Gesellschaft sind dagegen, dass es lebt. Wir wollen die Frauen ermutigen, das Kind zu behalten. Natürlich wäre es am besten, eine bessere Beratung in der Schule zu bekommen und über den besserer Umgang mit der eigenen Fruchtbarkeit informiert zu werden. Viele Paare verhüten nicht und sagen dann, es war ein Unfall. Ein Kind ist kein Unfall. Ein Unfall ist etwas Schlechtes - Kinder sind Menschen. Wir haben auch bemerkt, dass sich alle Frauen verändern, wenn sie Mütter werden. Sie haben mehr Kraft, mehr Selbstvertrauen und sie wissen, wie sie das Kind großziehen müssen. Keine von uns beratene Frau, die sich für das Kind und somit gegen die Abtreibung entschieden hat, hat es im Krankenhaus zurückgelassen.