Jahrhunderte, ja Jahrtausende – wenn wir auch die Daken und Traken und Wandervölker berücksichtigen – bildeten die Karpaten einen Lebensraum für durchziehende oder sich da niedergelassene Völker. Im Laufe der Zeit, durch die Wechselwirkung, haben die Berge die sich hier niedergelassenen Völker einerseits beeinflusst und eine zivilisierende Wirkung ausgeübt, andererseits aber haben die Völker einen bestimmenden Einfluss auf die sie umgebende Natur ausgeübt. Wir überspringen die Jahrhunderte, in denen die Wälder, die Schafwirtschaft, die Landwirtschaft und der Bergbau einen bestimmenden Einfluss auf die sich hier niedergelassenen Völker bewirkt haben. Die Ersten, die systematisch die die Berge durchstreifen waren sicher die Hirten mit ihren Schafherden, die Wege anlegten.
Ich beziehe mich nun direkt auf das 18. und 19. Jahrhundert, als die Berge begannen, die Neugier der Menschen zu wecken und diese begannen, in immer größerem Maße, ihre Freizeit mit dem Tourismus, als Sport zu verbringen. Die ersten in dieser Hinsicht waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Engländer. Es wurden Vereine gegründet die sich zum Ziel setzten, die Berge zu „erobern“, sie zu zivilisieren. Die Ersten waren im Jahre 1857 wieder die Engländer, mit einem Alpenverein. Es folgten schnell andere Nationen: 1862 die Österreicher, 1863 die Schweizer, 1869 die Deutschen (deren Deutscher Alpenverein 1873 mit dem Österreichischem Verein den Deutschen und Österreichischer Alpenverein bildeten). Und als Beweis, dass unsere Vorfahren zwar hinter den Wäldern – trans-silva – aber nicht hinter Gottes Angesicht lebten, zogen sie gleich und gründeten im Jahre 1872 in Kronstadt den Siebenbürgischen Alpenverein Kronstadt. Die Idee dazu kam einer kleinen Gruppe von Kronstädtern, als sie bei einem Ausflug auf die Hirtenspitze des Königsteins die Schönheit der Burzenländer Gebirge bewundern konnten. Der Ini-tiator dieser Gründung war der Kronstädter Julius Paul Römer (*1848, +1926, Gymnasialprofessor, Botaniker von europäischem Rang); nur so nebenbei bemerkt: von den 19 Gründungsmitgliedern waren zwei Rumänen, und zwar Nicolae Penciu, Richter und Iosif Pu{cariu, Rechtsanwalt, die auch Mitglieder des Vorstands des Vereins waren. Im ersten Jahr seiner Tätigkeit erreichte der Verein 58 Mitglieder, von denen 11 Rumänen waren, der wohl berühmteste unter ihnen der Gymnasialprofessor Dr. Ioan Me{ota, Absolvent des Honterus-Gymnasiums zu Kronstadt und späterer Direktor aller zentralen rumänischen Schulen (director al [coalelor Centrale Române), gestorben 1878 im Alter von nur 41 Jahren. In den Statuten des Vereins war vermerkt, dass „Mitglied jeder unbescholtene Bürger“ werden kann. Auf der Web-Seite des Grupul de Istorie Alpin˛ (GIA) war am 20. Dez. 2008 zu lesen: „Als der Moment der Geburt des Rumänischen Alpinismus kann das Jahr 1873 angesehen werden, als der Siebenbürgische Alpenverein Kronstadt (Clubul Alpin Ardelenesc Brașov) gegründet wurde.“ Im Internet-Forum der „Federa]ia Român˛ de Alpinism și Escaladă, Istoric Românesc“ war zu lesen: “Im Jahre 1873, nur 15 Jahre nach der Gründung des ersten alpinen Vereins (des englischen im Jahre 1857), wurde auf Initiative einer Gruppe von Sachsen in Kronstadt der Siebenbürgische Alpenverein Kronstadt gegründet“.
Im Jahre 1880 wurde in Hermannstadt, auf Initiative des angesehenen Volkswirtschaftlers und Politikers der Siebenbürger Sachsen, Dr. Karl Wolff, der Siebenbürgische Karpatenverein (SKV) ins Leben gerufen. 1880 wurde der Siebenbürgische Alpenverein Kronstadt aufgelöst und aus ihm wurde im Jahre 1881 eine Sektion des SKV. Gemäß den Statuten dieses ersten großflächig agierenden Bergsteigervereins auf dem Gebiet des zukünftigen Rumäniens waren seine Ziele „Erschließung der Siebenbürgischen Karpaten und ihrer angrenzenden Gebiete, die wissenschaftliche Erforschung dieser, die Beschreibung und Veröffentlichung der erlangten Kenntnisse, den Zugang zu allen interessanten Gebieten zu erleichtern, im Allgemeinen das Interesse für die Bergwelt zu wecken und zu verbreiten.“ Es soll hier nicht zu sehr in die Details gegangen werden, feststeht aber, dass durch den Bau von über 50 Schutzhütten durch den SKV in 65 Jahren seiner Existenz bis zu seiner widerrechtlichen Auflösung und Verstaatlichung (also Enteignung) des gesamten Besitzes im Jahre 1945, durch die über 1000 km von ihm gebauten und markierten Wanderwege, durch Einführung im Jahre 1904 des Rettungsdienstes in den Bergen und 1914 in Kronstadt der Bergwacht, mit der Aufgabe, „den Touristen Disziplin und Ordnung bei den Wanderungen in den Bergen und in den Schutzhütten abzuverlangen“, mit seinen über 6000 Mitgliedern in zeitweise über 16 territorialen Sektionen, ohne politische Einflussnahme, hat der SKV gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine entscheidende positive Rolle in der Beziehung Mensch – Natur gespielt. Wie schon erwähnt, waren die sächsischen Bergsteigervereine keine für andere Nationalitäten geschlossenen Vereine. Berühmte rumänische Persönlichkeiten wie der Biologe und Begründer der Bio-Speläologie Prof. Dr. E. Racovi]˛ (1868 -1947), der Klausenburger Akademiker Prof. Dr. Dan R˛dulescu (1884 - 1969), der Vorsitzende des 1927 in Bukarest gegründeten Rumänischen Touring-Clubs u.a.m. waren Ehrenmitglieder des SKV. Zeitweise bis zu 10 % der Mitglieder waren Rumänen oder anderer Nationalität. Was die rumänischen Bergwandervereine anbelangt, werden in der Fachliteratur aus dieser Zeit einige Versuche von Gründung solcher Vereine verzeichnet, die aber sehr bald ihre Tätigkeit eingestellt haben. Erster etwas länger aktiver Verein war die Societatea Carpatin˛ Sinaia (Karpaten-Gesellschaft Sinaia) gegründet 1893 und aktiv bis 1912. Die Gesellschaft für Gymnastik, Sport und Musik (Societatea de Gimnastică, Sport și Muzică) aus Iași (Jassy), mit einer Sektion für Tourismus/Alpinismus war aktiv in der Zeitspanne 1902-1936, die Societatea Turi{tilor din România (STR), (Gesellschaft der Rumänischen Touristen) in der Zeit von 1903 bis 1916. Im Jahre 1891 wird in Klausenburg der Ungarische Karpatenverein E.K.E. gegründet, der bis 1945, Zeitpunkt der Auflösung aller Sportvereine in Rumänien, aktiv war (und z.Z. wieder aktiv ist).
Und in dieser Zeit des Aufschwungs des Bergtourismus und Wiederentdeckung der Natur, wird im März 1894 in Törzburg / Bran Carl Lehmann geboren, den wir heute ehren. Sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren Förster. Vor allem mit seinem Großvater, dem Förster im Bucegi-Gebirge, durchstreifte der Junge Carl schon früh die Berge der Umgebung, und wurde so ein Kenner dieser und pflegte gleichzeitig seine Liebe für die Natur.
Nach der Grundschule in seinem Heimatort besuchte er das Gymnasium und die Handelsschule in Kronstadt und wurde bei der bekannten Kronstädter Firma Kammner & Jekelius Facheisenhändler. Der Weltkrieg, der damals gerade anfing zu wüten, hat sein Leben bestimmend beeinflusst: im Oktober 1914 wird er zum ungarischen Militär einberufen und kam direkt an der Ostfront zum Einsatz. Im Mai 1915 gerät er in russische Gefangenschaft, Zeit, in der er hauptsächlich als Sanitäter, Kurier und Kartenzeichner eingesetzt wurde. Aber diese Zeit der Kriegsgefangenschaft artete für Carl Lehmann zu einer wahren Odyssee aus: in den Wirren des Krieges gelangte er zwischen die Fronten der Roten und Weißen Armee, die meiste Zeit war er im Kaukasus und im Gebiet zwischen Pamir und Afghanistan im Einsatz, gelangte auch nach Turkestan, Kirgisien, bis an die chinesische Grenze, durchquert die Wüste Gobi und die Turgai-Steppe und gelangt bis nach Sibirien. Während dieser ganzen Zeit führte er Tagebuch bebildert mit Zeichnungen, ernährt sich spartanisch, kocht sich selber, nahm von niemandem Essen an, Lebensweise die er auch nach seiner Rückkehr in die Heimat beibehielt. Im Jahre 1921 kehrt Lehmann über Petersburg, Danzig, Stettin, Berlin, Prag und Satu Mare kommend, zurück nach Kronstadt. Ab 1922 bis 1936 ist er wieder bei seinem ehemaligen Arbeitgeber als Eisenfachhändler beschäftigt. In dieser Zeit nimmt er seine alte Leidenschaft, das Bergsteigen, wieder auf, frönt aber auch einer neuen: dem Fotografieren. All seine Ersparnisse gab er für Anschaffung von Foto- und Bergsteigerausrüstung aus. Als SKV-Mitglied nahm er ehrenamtlich Teil am Wegebau und Markierungen in den Bergen, am Bau von Notunterkünften. Carl Lehmann war guter Freund von Julius E. Teutsch, Drogist, der von 1919 bis zu seinem Rücktritt im Jahre 1929 Obmann der Ortsgruppe Kronstadt des SKV war und in den Jahren 1931-1934, als Reorganisator der Alpinen Rettungsstelle in der Zeit, da er Obmann der Sektion, Obmann des Arbeitsausschusses für Rettungswesen war. Dank seiner Erfahrung in der Bergwelt wurde Carl Lehmann 1936 von dem neu gegründeten ONT (Oficiul National de Turism) angestellt. Hier wurde er zum ersten staatlich anerkannten Bergführer in Kronstadt und konnte selbst Bergführer ausbilden und ernennen. Mit Hilfe der Stadt und des ONT errichtete Lehmann im Jahre 1938 am Schuler, auf halber Höhe der neuen Abfahrtspiste, der Telefonschlucht, eine Unterkunft für die Bergrettung, genannt bis heute „das Lehmann-Haus“. Dies war mit allem Notwendigen ausgestattet, so im Sommer mit einer Trage, im Winter mit Schlitten auf Skiern. Die Unterkunft war bloß mit einem Riegel verschließbar – damals möglich – und für jeden zugänglich. Das Haus wurde 1951 und 1978 renoviert, als Zeichen der Wertschätzung, und soll in Bälde, auf Betreiben des SKV durch die Sorge des Bürgermeisteramtes von der Verwaltung der Wälder Kronstadt (Regia Pădurilor Kronstadt) wieder auf Vordermann gebracht werden.
Im Bereich des Wegebaus war Lehmann ein Pionier im Anlegen von Wegen, deren Markierung und Instandhaltung, sowie den Bau von Notunterkünften. Einige dieser Unterkünfte haben Menschenleben gerettet und bei ihrer Zerstörung durch Feuer, Lawinen, Unwetter oder Böswilligkeit, legte Lehmann zusammen mit anderen Bergbegeisterten immer wieder Hand an, um sie wieder nutzbar zu machen. Mit unbeugsamem Willen, ohne Schonung der eigenen Person, mit handwerklichem Kennen und Dank seiner Liebe für die Berge, hat sich Lehmann stets den Naturkräften und der menschlichen Böswilligkeit widersetzt. Ein beredtes Beispiel ist der Leiterweg auf den Hohenstein: nach jeder Beeinträchtigung der Leitern durch Lawinen und Eis setzte sich Lehmann für die Wiederinstandsetzung dieser ein, so das letzte Mal im Jahre 1983, in einem Alter von 89 Jahren, mit Beihilfe der Alpinisten. Viele Jahre nach seiner Verrentung (im Jahre 1956) hat der Gefeierte sein Wissen und sein Können mit Begeisterung, gegen eine bescheidene Entlohnung, Unternehmen und Behörden mit Kontakt zu den Bergen, zur Verfügung gestellt. Und welcher Kronstädter hat in den Straßen der Stadt bei jedem Wetter nicht schon - mit gezolltem Respekt - den Menschen schmächtiger Gestalt, in Kniebundhosen und Bergschuhen angetroffen, auf dem Weg zu oder von seiner Wohnung in der Schwarzgasse / Nicolae Bălcescu, wo drei Sprachen gesprochen wurden – für ein SKV-Mitglied Normalität?
Wenn man all dieses berücksichtigt und die vom Carl Lehmann, mit Pedanterie erstellte Statistik der Bergunfälle – um andere vor gleichem Schicksal zu bewahren – nicht vergisst; wenn man von den von ihm erstellten Karten und Orientierungstafeln, aufgestellt in der Natur an von ihm ermittelten kritischen Wegstellen weiß, Wegweiser dreisprachig, bis sie von den kommunistischen Machthabern nicht mehr erwünscht waren; wenn wir die wunderbare Ansammlung der von ihm erstellten, bearbeiteten und entwickelten herrlichen Schwarz-Weiß-Bildern unserer Karpaten in Betracht ziehen, die aber leider zum Teil – sehr zu Lehmanns Leid – in fremde Hände gelangten, und wenn wir in Carl Lehmann den hilfsbereiten Bergführer, der bedacht und sicheren Schrittes seinen Wanderern voran geht, erkennen, dann stellt sich von selbst die Frage: was war Carl Lehmann eigentlich: Fotograf, Maler von Orientierungstafeln und Markierungen, Alpinist, Topograf, Planer von Wanderwegen, Planer und Erbauer von Schutzhütten und Unterkünften, Statistiker meteorologischer Ereignisse und von Bergunfällen? Lehmann war in erster Reihe ein großer Liebhaber der Natur und der Berge, er hat in den Bergen für die Berge gelebt, gemäß seiner Überzeugung: „Die Berge brauchen uns nicht, wir aber die Berge sehr wohl!“ Wortkarg, aber nicht griesgrämig, ein freundlicher Charakter, hilfsbereit, ein Mensch mit vielen Freunden, die Panje Lehmann, oder Carolus, wie man ihn auch nannte, gerne bei ihm zu Hause besuchten. Mit seinen unübertroffenen Bildern wurden wiederholt bestaunte Ausstellungen organisiert, selbst in Deutschland.
Im Jahre 1989 wurde Lehmann von der Sektion Karpaten des DAV anlässlich ihrer Vollversammlung in Freiburg zu ihrem Ehrenmitglied ernannt und im Januar 1990 Ehrenmitglied des Clubul Alpin Român. In Kronstadt führt ihm zu Ehren eine Straße seinen Namen.
Carl Lehman starb nach einer kurzen Lungenentzündung am 1. Juni 1990 in Kronstadt.
Er war ein würdiges Beispiel für die Jugend. Ein Mensch wie Carl Lehmann – den wir heute anlässlich seines 130. Geburtstages ehrten – muss in den Erinnerungen aller wahrhaftigen Bergsteiger – unabhängig ihrer Nationalität – wach bleiben.