“Warum kehren wir eigentlich an die Orte unserer Vergangenheit zurück? Ist es Nostalgie, Erinnerung, Neugierde, und was erwarten wir uns davon für die Zukunft? Als wir noch dort lebten, hatten wir eine Sehnsucht, ein Ziel, das uns Kraft und Durchhaltevermögen gab. Nachdem wir dann unser Ziel erreicht hatten, blieb an der Stelle unserer Sehnsucht eine Leere, die die Freude nicht ganz ersetzen konnte. Wollen wir unsere Erinnerung, unsere damalige Sehnsucht an der Wirklichkeit messen?“ Mit diesen Worten beginnt der kürzlich erschienene Band „Kronstadt zwischen altvertraut und fremd. Fünfzig Jahre Reisen in die Vergangenheit“ von Alfred Schadt. In 15 kurzen Kapiteln nimmt uns der Autor mit auf eine Reise durch die Kronstädter Stadtgeschichte im Wandel der Zeit. Denn die historischen und politischen Ereignisse beeinflussen nicht nur das Leben der Menschen, sondern auch das Stadtbild.
Die Veränderung der Beziehung zu der Stadt
Alfred Schadt wurde nach Rückkehr seiner Eltern aus der Russland-Deportation in Bartholomae geboren und wuchs in der Stalinstadt der 50er Jahre auf. Nach dem Besuch der deutschen Abteilung des [aguna-Lyzeums folgte ein Studium deutscher und rumänischer Philologie in Hermannstadt. 1972 erfolgte die Auswanderung nach Deutschland und ein Studium der Germanistik und Anglistik in Konstanz und Bristol. Nach mehreren Jahrzehnten als Lehrer an der Evangelischen Internatsschule Schloss Gaienhofen zog er 2015 nach Berlin und leitet heute die Redaktion der Neuen Kronstädter Zeitung. „Kronstadt zwischen altvertraut und fremd“ ist der zweite autobiographische Erzählband von Schadt, dessen 2020 erschienenes Buch „Verba volant. Scripta manent. Erinnerungen“ von einem bewegten Leben zwischen zwei Welten erzählt: Siebenbürgen und Deutschland. Im neuen Buch geht es um Erfahrungen, die nicht nur seinen Lebensweg vom Studenten zum Rentner beschreiben, sondern auch die Veränderungen Rumäniens von der kommunistischen Diktatur zu der Demokratie. Während seiner Heimatbesuche in Kronstadt während der letzten 50 Jahre haben sich nicht nur die Stadt und das Land verändert, sondern auch das Verhältnis des Autors zu ihnen. Auch wenn seine Erlebnisse individuell waren, werden sich sicherlich viele Leser in den Erfahrungen wiederfinden.
Fotos von damals und heute
Nicht nur die vielen Erinnerungen an die Kronstadt-Besuche, die der Autor nach seiner Ausreise nach Deutschland unternommen hat, sind ein wichtiges Zeitdokument, sondern auch die Fotos. Wie die Schwarz-Weiß-Aufnahme vom Hotel ARO aus den 50er Jahren, das damals Carpa]i hieß. Zwei Trolleybusse fahren vorbei, man sieht Spaziergänger im gegen-überliegenden Park. Auf der Zinne steht noch die Inschrift „Stalin“. Beim Sporthotel in der Schulerau ist heute ein Parkplatz, wo früher eine mit Blumen bewachsene Grünfläche war. Oder die Farb-Aufnahme vom Hidromecanica-Werk im Jahr 1964. Heute wundert man sich, wie leer die Straßen waren. Man sieht nur einen rotweißen Trolleybus vorbeifahren und ein paar Menschen spazieren gehen. Heute steht man hier an Stoßzeiten im Stau und anstelle der Fabrik gibt es den AFI-Konsumtempel, zu dem die Kronstädter täglich in Massen pilgern. Nostalgie erweckt das Foto vom Bartholomäer Strandbad in den 1960er Jahren. Man sieht junge Leute an einem Sommernachmittag unbeschwert im Schwimmbad plantschen, mit dem Ball spielen und auf dem Gras plaudern. Gleich darunter ist ein zweites Foto abgebildet, was das einst beliebte Strandbad im Jahr 2016 zeigt. Oder besser gesagt das, dass davon noch geblieben ist. Jetzt sind an seiner Stelle Autos geparkt. Ebenfalls traurig stimmt das Foto vom Wirtshaus am Salomonfelsen, das heute dem Verfall nahe steht. Etwas fröhlicher stimmt ein Farbfoto von 1993, das aus einem Zimmer des Aro-Hotels aufgenommen wurde und einen Blick auf den Rudolfsring zeigt. Man sieht viele weiße und cremefarbene Dacias… und gleich daneben weiden ein paar Kühe.
Die Erinnerung ist heute unsere Heimat
Auch die Berichterstattung von einem Besuch am Anfang der 1990er Jahre in Kronstadt liest sich besonders spannend und viele Leser werden sich an die Atmosphäre der Aufbruchzeit erinnern: „Häuser und Straßen hatten das Grau der letzten Jahrzehnte noch nicht abgelegt, dafür versuchten sich die Menschen in der neuen Welt zurechtzufinden. (…) Beim Rundgang durch die Innenstadt konnte man noch die Spuren der Kämpfe während der Revolution sehen, die Gebäude der Präfektur bis zur Purzengasse waren gespickt mit Einschusslöchern. (...)Überall war eine Aufbruchstimmung spürbar, Wohnungen im Erdgeschoss wurden zu kleinen Supermärkten umfunktioniert, an jeder Ecke gab es Stände mit Kürtöskalács, in Hinterhöfen entstanden Autowerkstätten“.
Der Autor erinnert sich an Studienfahrten, Schüleraustausche und Familienbesuche während der letzten Jahrzehnte. In Erinnerung bleibt ein Besuch in Klausenburg, als man die Erwartung hatte, die Innenstadt zu besichtigen, aber man stattdessen zu einer Shoppingmall gefahren wurde. Doch nicht nur das Moderne und die Erneuerung der Infrastruktur konnte der Autor erleben. Während seiner Reisen ins Heimatland wurden oft auch die Wunden des Exodus der Siebenbürger Sachsen deutlich, wie etwa in Geisterdörfern, wo die Häuser verlassen und verfallen waren. „Aufschwung und Untergang lagen so nah beieinander, fremd und befremdlich“, bemerkt Schadt. Auch die Beziehung zu Kronstadt verändert sich während der Jahre. In der Stadt gibt es viele altvertraute Orte, die zugleich fremd auf den Autor wirken.
„Wenn man früher durch die Straßen ging, traf man Bekannte, besuchte spontan Freunde, wenn man vorbeikam. Gehe ich heute durch die Straßen der Innenstadt, erwarte ich manchmal immer noch in all dem Menschengewühl ein bekanntes Gesicht zu sehen. Jedoch meistens vergebens. Erst dieser Verlust des Selbstverständlichen macht deutlich, was man besessen hat. Unser Kronstadt von früher gibt es nicht mehr und wird es auch nicht mehr geben. Diese Erinnerung ist heute unsere Heimat“.