Heutzutage noch eine wissenschaftliche Arbeit über Paul Celans Dichtung in den öffentlichen Diskussionsraum der Fachleute stellen, das braucht Mut und Schlagfertigkeit und wenigstens einen Anflug von dichterischer Begabung und langjährige Erfahrung in Sachen Metaphorologie und Sprachtheorie und Poetologie und ästhetische Theorie – und natürlich vor allem auch einen kundig-innovativen Umgang mit dem aktuellen Stand der Forschung. Unter diesen Voraussetzungen macht sich Markus Fischer systematisch zielgerecht daran, Celans Werk in all der Vielschichtigkeit des Celanschen Gedankenguts aus den Gegebenheiten seiner sprachschöpferischen und literarhistorischen Bezüge herauszulesen, zu analysieren, zu interpretieren, um in Erfahrung zu bringen (und in möglichst klarer Sprache verständlich zu erläutern), wie der Dichter semantischen Mehrwert schafft, umsetzt, transponiert.
Ein breit angelegter und kulturwissenschaftlich komplex untermauerter Hauptteil des hierin diskutierten Bandes bedenkt das Themenkonglomerat „Poetologie und Poesie in Paul Celans Büchner-Preis-Rede”, wobei in Abhebung zu bereits bestehenden Meridian-Studien ein ganz besonderes Augenmerk u. a. eben auch dem formalen Aspekt der Rede zuteil wird. Dadurch will der Autor eine Lücke füllen und neue Forschungsrichtungen erschließen.
Wer Meridian sagt, muss auch Büchner sagen. Eine vorzügliche Beherrschung der literarischen Landschaft, durch die Celan (nicht nur) im Rahmen seiner Preisrede geht, eine überzeugende intertextuelle und kunsttheoretische Einbettung der von Celan entworfenen oder eben „nur“ zurechtgemeißelten Sprachbilder, ein nachweislich gut geschulter Blick auf Celans Jugendjahre und auf deren linguistische und extra-linguistische Umgebung, dies alles steckt in dem schlicht als „Celan-Lektüren“ verpackten wissenschaftlichen Band, der sich stets bewusst und programmatisch an der Grenze seiner selbst bewegt, um die Begrifflichkeit einer Dichterwelt mithilfe des Modus Operandi und des Handapparats eines gewieften Literaturwissenschaftlers so sinnvoll wie anregend zu beschatten, zu reflektieren, zu potenzieren. Zusammenhängende poetologische Verortungen, haargenaue literarhistorische Ermittlungen, tiefgreifende interdisziplinäre Erwägungen, die wie beiläufig auch markante philosophische Überlegungen in ansprechender und zugleich in anspruchsvoller Art und Weise auf das Themengebiet abstimmen und dialogisch für eine bekömmliche Celan-Diskussion zubereiten sowie auch die im close reading einzelner Texte gezeitigte Bedeutungsdämmerung Celanscher Abgründe darf der Leser des von Markus Fischer in vorbildhaftem Forschungsdrang erstellten wissenschaftlichen Bandes ruhig erwarten.
Der zweite Teil der Studie bedenkt „das literarische Wander-Motiv von Lenau und Büchner bis Weißglas und Celan”. Wie kein zweiter versteht sich der Autor darauf, souverän durch die Dünungen der Primär- und Sekundärliteratur zu wandern, zu jagen, zu führen, wobei er es erfreulicherweise schafft, die ungemeine Dichte seiner aus rumänischer, deutscher und rumäniendeutscher bzw. altösterreichischer Perspektive in Angriff genommenen Thematik insofern begrifflich aufzulockern, als der Leser ohne allzu große Anstrengung etwas mit der poetischen Sprache anfangen kann, die nicht aus dem dumpfen Echo einer fremd wirkenden Vergangenheit in das Hier und Jetzt der unsagbaren Geworfenheit zeitloser Metapher-Einlösung gerückt wird, nicht als Produkt eines bestehenden Übermaßes an Verwissenschaftlichung, sondern als bei all seiner meist todernsten intertextuellen Eingebundenheit frisch angeeignetes, frisch reflektiertes, frisch in angemessen zugeschnittene Begriffe gekleidetes Spracherlebnis wahrgenommen wird. Das in Lehre und Forschung oft gerne als gleichsam in einer erdrückenden Todesstarre der akademischen Unbehaglichkeit und der Kanon-Bekräftigung gehandelte Vorzeigestück meisterhaften Könnens nicht so sehr des Dichters, sondern vielmehr des Interpreten bleibt hier aus.
Des Weiteren widmet sich der Autor der akribischen Analyse im Kontext sinngemäß ausgewählter Gedichte von Paul Celan, um schließlich am Ende auch auf Celans Übertragungen rumänischer Gedichte (von Tudor Arghezi, Gellu Naum, Virgil Teodorescu und Nina Cassian) ins Deutsche zu sprechen zu kommen, wobei sich eine argumentative und detaillierte zweisprachige bzw. dreisprachige (deutsch-rumänisch-französische) komparatistische Analyse ergibt. Die wenigen unter verstärktem Einsatz des Arsenals der Translationswissenschaft gestalteten Schluss-Seiten rücken nicht nur sachlich gefeilte und im jeweiligen Kontext wie im breiteren Zusammenhang kulturwissenschaftlich verankerte übersetzungstechnische Überlegungen in den Mittelpunkt der Betrachtungen, sondern sie erfüllen im Rahmen der Studie eine wesentliche Funktion, was die Verständlichkeit des semantischen Transfers der Celanschen Sprachwelt anbelangt, aus dem die Kunst dieses Wort-Wanderers schöpft, der sich selber im dunklen Spalt zwischen Sein und Kaum-Sein als Klage des Nichtssagenkönnens und zugleich als Verkündung eines neuartigen Umgangs des Menschen mit seiner Sprache freisetzt.
Wo Celans Worte herkommen, wie er sie sich aneignet, was er daraus macht und was die Leser heute noch damit anfangen können, das sind lauter schwerwiegende Fragen, mit denen sich die Forschung nicht leicht tut; die vorliegenden „Celan-Lektüren” bringen die Antwort gewiss einen Schritt näher. Die Präsentation des Bandes ist zusammenhängend und informativ gestaltet, reicht dabei jedoch freilich der überzeugenden Leistung seines Verfassers nicht ganz zur Genüge. Der Klappentext etwa beginnt – kurz und bündig – mit einer Binsenwahrheit: „Paul Celans Œuvre ist vielschichtig.” Und dann heißt es gleich, dass im vorliegenden Band u. a. dessen „dichterisch-interpretatorischen und poetisch-translatorischen Aspekte” analysiert werden, was sich sozusagen viel umständlicher und gequälter anhört als die Studie selbst.
Ein Celankopf thront auf dem Umschlag, genauer gesagt: Celans Kopf, so wie er auf seinem Denkmal in Czernowitz bildhauerisch verewigt wurde. Faltige Stirn, trauriger Blick. Zu diesen Augen passt vieles von dem, was innerhalb des Umschlags mit scharfer Zunge und den adäquat gebrauchten Mitteln der Literaturwissenschaft, der Translationswissenschaft, der Komparatistik nahegebracht wird.
Dazu passt auch die Celansche Passage durch Zeiten, Welten und Worte – von Lenau, Büchner, Brecht, Kafka, Nietzsche, Adorno und Heidegger bis … ja bis wohin? Der Urheber dieser schlüssigen Celan-Vergegenwärtigung, der Vermittler dieser paradigmatisch in der Geworfenheit eines phänomenologischen Offenbarungsaktes inszenierten Celan-Verlebendigung scheint es nicht zu wissen. Und was bemerkenswert ist: Er verliert sich nie in gängigen Verallgemeinerungen oder in den dank der Bemühungen der Branche in der anschwellenden Sekundärliteratur jederzeit großzügig bereit liegenden Vereinnahmungstriebe und Werturteile zu „unserem” Celan. Sein Celan ist nicht sein Celan und nicht unser Celan, sondern ein metalinguistisches ontologisches Konstrukt, von dem sich unter Umständen selbst heute noch mehr Sein ableiten lässt. Um es mit unserem Celan zu sagen (ja, trotzdem), der es in seiner eigenwilligen Übersetzung des Gedichtes „Între două nopţi” / „Zwischen zwei Nächten” mit Arghezi so sagt:
„Da wollt ich ihn erklimmen,
den Berg, und oben sein.
Es war ein Stern am Himmel.
Die Himmelszeit vorbei.”