Heute war ein toller Tag. Ich bin mit bester Laune aufgestanden. Dann habe ich ausgiebig geduscht, ein nahrhaftes und vielseitiges Frühstück genossen, bin mit meinem Auto zur Arbeit geflogen und die Kollegen haben mich gefragt: „Wie machst du das nur, immer so gelassen hier anzukommen?“
So oder so ähnlich spielen sich wohl die morgendlichen Fantasien der desaströs genervten Autofahrer im Bukarester Straßenverkehr ab. „Mit dem Auto zur Arbeit fliegen, das wäre wunderschön!” Grund für diese verzweifelt nach neuer Technologie schreienden Utopie ist das jüngste Kunstwerk auf dem Platz vor dem Pressehaus. Auf dem Sockel, der bis März 1990 noch Lenin zu Füßen lag, thront jetzt ein recht simpel designtes Auto, das den Anschein hat, von Luftballons in die Höhe getragen zu werden.
Der Künstler Virgil Scripcariu geht regelmäßig an dem ehemaligen Lenin-Sockel vorbei. Nachdem die Verantwortlichen des „Projekt 1990“ ihn gebeten hatten, eine Statue für den mit Granitplatten belegten Fuß zu entwerfen, habe er lange überlegt, was er wählen solle. „Es ist schwierig, für einen solchen Ort eine gute Lösung zu finden. Der Platz ist stark aufgeladen mit Geschichte, voller schlechter Erinnerungen und schwerer Gefühle.”, resümiert Scripcariu seinen gedanklichen Weg zur Idee des schwebenden Autos. „Ich dachte mir, es sollte kein klassisches Werk sein, sondern etwas, das kontrastiert.“
Die Darstellung des Autos erinnert mich an die Fahrzeuge, die ich im Kindergartenalter gezeichnet habe und wahrscheinlich heute noch so zeichnen würde. Da ich aber nicht zu den Leuten gehöre, die Kunst nach dem Prinzip definieren: „Kunst ist, was ich nicht kann”, will ich dem Werk seine Existenz als Kunst nicht aberkennen. Vielmehr will ich wissen, was dahinter steckt. Wie viele verschiedene Interpretationen kann man dieser Statue abgewinnen?
Das fliegende – oder eher schwebende – Auto als Fluchtgedanke aus dem zähflüssigen Berufsverkehr der Innenstadt war Interpretation Nummer eins. Mir fällt auf, dass der Wagen eine zusätzliche D-Säule besitzt, also eine Limousine ist. Und wer fährt in Limousinen? Natürlich ganz furchtbar wichtige Menschen mit viel Geld und mehr Bedeutung für die Gesellschaft als die Gesellschaft für die Gesellschaft. Solche dürfen selbstverständlich nicht durch dichten Verkehr in ihren täglichen Unternehmungen gedrosselt werden. „Chauffeur, nehmen Sie die Abkürzung!”, kommandiert der Bonze mit einem Zwinkern, „Sie wissen schon, DIE Abkürzung“.
Ein Knopfdruck und innerhalb von zwölf Sekunden haben die im Kofferraum verstauten Heliumflaschen sechs bunte Luftballons prall mit Gas befüllt. Bereit zum Abheben.
Demzufolge könnte das Kunstwerk also eine Kritik an der Sozialschere sein, an der Elitenbevorzugung, an der Macht des Geldes, ohne wirklich etwas mit dem Straßenverkehr zu tun zu haben. Und damit komme ich der Intention des Künstlers ziemlich nah.
Virgil Scripcariu erklärt: „Meine Absicht ist, ein gut bekanntes post-kommunistisches, soziales Phänomen bloßzustellen: Eine Riege von Leuten, die schnell und auf geheimnisvolle Weise reich geworden ist und all ihre Energie darauf verwendet, ihren Luxus zu preisen und zu zeigen. Das ist es, wofür sie leben, was ihnen Freude bereitet, was sie zeigen wollen, weshalb sie auf einen Sockel klettern.“
Unter dem Fahrzeugabbild steht übrigens die Inschrift „NINEL”, wobei das L am Schluss vertikal gespiegelt ist. Versteht man das als Wink mit dem Zaunpfahl und liest das Wort einmal von rechts nach links, dann steht dort was? Na, „Lenin” natürlich. Der hatte zwar seinerzeit einen bevorzugten Stand in der Gesellschaft, in einer Limousine fuhr er jedoch nicht. Er war vielmehr für seinen geradezu asketisch bescheidenen Lebensstil bekannt. Genau das lässt noch eine weitere Interpretation zu. Lenins Name steht UNTER dem Prollmobil, wendet sich – da verkehrt herum geschrieben – symbolisch von ihm ab und lässt es gleichgültig in die Höhen entschwinden, als wäre es nichts wert. Demnach ist der Wagen für Lenin so leicht an Bedeutung, dass schon sechs Luftballons ihn tragen können.
Hierin sieht der Künstler jedoch eine andere Bedeutung: „Ninel ist einer dieser leichten Spitznamen, die solche Charaktere sich gern selbst geben und auf ihre großen Häuser schreiben. ‘Ninel’ ist gewissermaßen auch eine Konsequenz aus ‘Lenin’. Der Kommunismus zielte direkt darauf ab, den Sinn der Leute für Besitz aufzulösen, für geistiges Leben und Glauben. Bestimmten Personengruppen sollten die Gehirne gewaschen werden, um ihre Seelen fast vollständig zu leeren. Direkt nach dem Kommunismus kam der Materialismus und verhalf Ninel zum Aufstieg. Er freut sich über sein Glück und ist nicht imstande und nicht gewillt, Geschichte zu schreiben. Alles was er will, ist sein Glück den anderen zu zeigen, um es legitim erscheinen zu lassen. Ninel ist farbenfroh, simpel, aber empfindlich wie ein Luftballon.“