Ein Theaterstück, das auf der Münchener Theresienwiese zur Zeit des Oktoberfestes spielt, kann gar nichts anderes als ein Volksstück sein. So lässt Ödön von Horváth eine seiner Dramenfiguren, den Firmenbesitzer und Kommerzienrat Rauch, zu seinem Freund, dem Landgerichtsdirektor Speer, auf dem größten Volksfest der Welt sagen: „Da sitzt doch noch der Dienstmann neben dem Geheimrat, der Kaufmann neben dem Gewerbetreibenden, der Minister neben dem Arbeiter – so lob ich mir die Demokratie!“
Mindestens zwei Tatsachen lassen diese harmonische Gesellschaftsutopie der beiden Angehörigen der Oberschicht aus dem Volksstück „Kasimir und Karoline“ aber als durchaus fragwürdig erscheinen. Denn das Horváthsche Theaterstück entstand und spielt zu Beginn der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, zu einer Zeit also, in der Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit die Weimarer Demokratie bedrohten, in der sich der kaum mehr aufzuhaltende Aufstieg Hitlers vollzog und seine Machtergreifung unmittelbar bevorstand und in der das als idyllische Einheit beschworene Volk in ökonomische und gesellschaftliche Gewinner und Verlierer auseinanderdriftete. Eine zweite Tatsache, die den Begriff des Volkes selbst problematisiert, benennt Horváth in einer zur selben Zeit wie „Kasimir und Karoline“ entstandenen „Gebrauchsanweisung“ zum besseren Verständnis aller seiner Volksstücke. Dort heißt es: „Nun besteht aber Deutschland, wie alle übrigen europäischen Staaten, zu neunzig Prozent aus vollendeten oder verhinderten Kleinbürgern, auf alle Fälle aus Kleinbürgern. Will ich also das Volk schildern, darf ich natürlich nicht nur die zehn Prozent schildern, sondern als treuer Chronist meiner Zeit die große Masse.“
Kasimir, der männliche Protagonist des Horváthschen Stücks, ist solch ein vom Abstieg bedrohter Kleinbürger. Er hat gerade seinen Job als Chauffeur verloren und ihm ist deshalb nun gar nicht mehr nach Feiern zumute, während seine Braut Karoline sich auf dem Wiesn-Volksfest tüchtig amüsieren will. Daneben treten dann noch zwei weitere Kleinbürger auf, die die beiden ökonomischen Status symbolisieren, zwischen die Kasimir nun geraten ist: der des Zuschneiders Eugen Schürzinger, der noch in Lohn und Brot steht, und der des Arbeitslosen Franz Merkl, der mittlerweile auf die schiefe Bahn geraten ist und sich gemeinsam mit seiner Freundin Erna durch kleinere Diebstähle über Wasser hält. Während Erna jedoch jede Hoffnung auf Besserung aufgegeben hat, träumt Karoline noch vom gesellschaftlichen Aufstieg, den sie im Rahmen des im Stück gezeigten Oktoberfesttreibens gleich zweimal symbolisch durchlebt: zuerst, indem sie sich von Kasimir ab- und dem finanzstärkeren Eugen zuwendet; dann, indem sie von Schürzinger auf dessen Chef Rauch umschwenkt, der sie aber irgendwann brüsk und rüde fallen lässt. Am Ende bleibt ihr nur die desillusionierende Erkenntnis, die sie folgendermaßen formuliert: „Ich habe es mir halt eingebildet, dass ich mir einen rosigeren Blick in die Zukunft erringen könnte – und einige Momente habe ich mit allerhand Gedanken gespielt. Aber ich müsst so tief unter mich hinunter, damit ich höher hinauf kann.“
Der Warencharakter der Frau wird auch durch Elli und Maria unterstrichen, die in Stefan Puchers Inszenierung durch zwei männliche Darsteller (Daniel Gäfgen und Tristan Tornarolli) repräsentiert sind, vor allem aber durch die Titelfigur Karoline (Manja Kuhl), die als Poledance-Akrobatin ihren schönen Körper derart lasziv feilbietet, dass Rauch (Andreas Leupold) und Speer (Horst Kotterba) nichts anderes übrig bleibt, als Maulaffen feilzuhalten. Von der Ware Frau profitieren alle Männer des Stücks, auch solche, die scheinbar leer ausgehen: Schürzinger beispielsweise, der voller Berechnung auf Karoline verzichtet, hofft auf eine Beförderung in der Textilfabrik des Kommerzienrates Rauch, nachdem er seinem Chef für die Eroberung Karolines freie Bahn gelassen hat. Das Bühnenbild (Stéphane Laimé) macht dabei von vornherein deutlich, dass die Illusionen, die sich die kleinbürgerlichen Dramenfiguren von Beginn an machen, a priori bereits zerbrochen sind. Die Achterbahn, die schon in John Dos Passos’ Roman „Manhattan Transfer“ (1925) eine wichtige Rolle spielt und die bei Horváth Geld, Freiheit und Amüsement symbolisiert, wird auf der Bühne des Schauspiels Stuttgart als Ruine gestaltet, auf deren Versatzstücken sich die Opfer der Wirtschaftskrise niederlassen wie hungrige Vögel. Die Rutschen aus Plexiglas dienen nicht nur dem Jahrmarktsvergnügen, sondern zeigen beredt, wie der Kleinbürger jederzeit ins gesellschaftliche Nichts abrutschen kann.
Die Stuttgarter Inszenierung von Stefan Pucher verzichtet konsequent auf die Festzeltklänge bayerischer Trachtenkapellen – nur einmal gestattet sich die Musik (Christopher Uhe) ein kurzes Zitat! –, verzichtet aber auch auf das von Ödön von Horváth genau vorgeschriebene Potpourri aus Märschen, Walzern, Operettenmelodien und Volksliedern, darunter auch auf das von Franz Schubert vertonte siebenbürgische Volkslied mit der Anfangszeile „Ich schieß den Hirsch im wilden Forst“ und dem Titel „Jägers Liebeslied“. Vielmehr begleitet eine Live-Combo (Klarinette, Saxophon, Cello, Gesang, Keyboard, Synthesizer), bestehend aus Meike Boltersdorf, Réka Csiszér und Ekkehard Rössle, permanent das dramatische Geschehen des Volksstücks, sei es, indem sie in den Kulissen links und rechts über der Bühne thront, sei es, indem sie sich selbst mitten ins Bühnengeschehen hineinbegibt. Videoprojektionen (Meika Dresenkamp) sorgen für die zeitgeschichtliche Verortung des Horváthschen Volksstücks, wobei auch diejenige Person mehrfach gezeigt wird, deren Namen Horváth aus der Endfassung von „Kasimir und Karoline“ bewusst getilgt hat: Adolf Hitler. In einer früheren Fassung des Volksstücks hatte der arbeitslose Chauffeur nämlich noch dezidiert erklärt, bisher sozialdemokratisch gewählt zu haben, bald aber kommunistisch wählen zu wollen „oder gar den Hitler“.
Schön ist auch in der Stuttgarter Neuinszenierung von „Kasimir und Karoline“, dass die Sprache dieses Volksstücks, auf die Horváth explizit besonderen Wert gelegt hatte, dort exzellent zur Geltung kommt, so unter anderem bei der Behandlung des Dialekts. Horváth hatte in der bereits zitierten „Gebrauchsanweisung“ zu seinen Volksstücken hierzu Folgendes angemerkt: „Es darf kein Wort im Dialekt gesprochen werden! Jedes Wort muss hochdeutsch gesprochen werden, allerdings so, wie jemand der sonst nur Dialekt spricht und sich nun zwingt, hochdeutsch zu reden.“ Diese innere Verfremdung der Sprache kommt in der Stuttgarter Inszenierung wunderbar zum Tragen, unterstützt durch weitere sprachliche Verfremdungen wie die gestelzten Dozierversuche Schürzingers (Paul Grill) oder die Schreiattacken von Kasimir (Peer Oscar Musinowski) und Franz (Felix Mühlen). Auch die Kostüme (Marysol del Castillo) halten Distanz zu einer folkloristischen Vereinnahmung des Dramengeschehens. Die einzige Bühnengestalt, die eine zünftige Krachlederne tragen darf, ist ein ‚Reingeschmeckter’, der aus dem Norden Deutschlands stammende Landgerichtsdirektor Speer. Kruder Realismus sprengt mitunter störend den Rahmen, wenn etwa der misshandelten Erna, die von Sandra Gerling großartig verkörpert wird, das rote Blut in Strömen aus dem Mund fließt. Insgesamt aber eine rundum gelungene Premiere am Abend des 13. Mai, die vom Publikum zu Recht mit reichem Applaus bedacht wurde!