Die Freiheit – ein hungriger Tiger

Den aus der Wojwodina stammenden Romanautor László Végel beschäftigt seit jeher das Leben am Rande Europas

Kurz nacheinander sind – dank der in Berlin lebenden Übersetzerin Christina Kunze – zwei Bücher im Klagenfurter Wieser Verlag erschienen, denen es gelingt, die wechselvolle Geschichte einer im deutschen Sprachraum kaum bekannten Region, der Wojwodina, anschaulich einzufangen. Dabei steht vor allem Novi Sad, die Kulturhauptstadt Europas 2022, im Fokus der beiden spannenden Romangeschehen. Autor ist der 1941 in der Wojwodina geborene, ungarische Schriftsteller Laszló Végel. Wie seinerzeit Aleksandar Tišma setzt er in seiner Prosa der Stadt, die seit Jahrzehnten sein Lebensmittelpunkt ist, ein literarisches Denkmal: Neoplanta – so der Name in der lateinisch verfassten Gründungsurkunde, die Maria Theresia höchstpersönlich unterschrieb. 

Bis heute erzählen sich die Chronisten, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen und Geschichtsklitterung verabscheuen, dass im Jahr 1748 Deutsche, Serben, Ungarn sowie die vielen anderen hier lebenden Nationalitäten ihre Ersparnisse zusammenlegten und nach Wien reisten, um den Titel einer Königlichen Freistadt für ihren Heimatort zu erwerben. Zwar hatten sie keinen Namen für ihre an der Donau gelegenen Stadt, doch auch das erwies sich als eine gute Fügung. Die österreichische Erzherzogin war von ihrem Zusammenhalt und ihrer Entschlossenheit so beeindruckt, dass sie den Namen selbst bestimmte: „Ihr Name sei Neoplanta, aber jedes Volk soll sie in seiner eigenen Sprache benennen.“ So kam es, dass die Deutschen den Ort „Neusatz“, die Serben ihn „Novi Sad“, die Ungarn ihn „Újvidék“ nannten. Ihre Majestät wünschte sich, die vielen Nationalitäten mögen weiterhin friedlich Seite an Seite leben. Neoplanta – ein Musterbeispiel für eine plurikulturelle, multiethnische Stadt im südöstlichen Europa. Doch leider folgten auf die guten Zeiten der Gründungsväter historische Epochen, die sich verhängnisvoll auf das Zusammenleben der vielen ethnischen Gruppen auswirkten und in der die dort gelebte „Vielfalt in Einheit“ oft bedroht war. Kränkungen, Kriege und Konflikte, ständige Macht- und Regimewechsel: Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sollte diese Region am Rande Europas nicht zur Ruhe kommen.

Lazos Geschichten 

Von den Verheerungen sowie dem Reigen aus Mord und Totschlag erzählt in Végels Stadtroman „Neoplanta“ der serbische Lohnkutscher Lazo Pavletic. Der Ich-Erzähler, ein vom Dorf stammender Gymnasiast ungarischer Abstammung, hört ihm aufmerksam zu. Kennengelernt haben sich die beiden im Restaurant des Hotels „Stern“, wo Lazo sein Erfrischungsgetränk „Cockta“ zu sich nahm und der Gymnasiast die von der Gewerkschaft kostenlos zugeteilte Essensration für seine Vermieter tagtäglich abholte. Die Bekanntschaft zwischen dem angehenden Schriftsteller und dem 1921 geborenen Lohnkutscher fing eines Tages „Anno 1958“ an – mit einer „Freifuhre“, denn das „schwächliche Jüngelchen“ sollte sehen, „mit wem er es zu tun hat“: mit einem Kutscher, der ihm zehn schwere Bände zur „Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild“ schenkte. Doch kostbarer als dieses Geschenk waren die vielen unerhörten Geschichten, die ihm sein neuer Freund, vor Lebendigkeit sprühend, erzählte. Lazo hoffte insge-heim, dass aus dem „Jüngelchen“ irgendwann ein berühmter Schriftsteller würde. Die einmaligen Fiaker-Geschichten durften nicht in Vergessenheit geraten! An Selbstbewusstsein mangelte es Lazo nicht: „Du kannst Dir nicht vorstellen, was für ein dankbares Thema ich bin.“

Als der Kutscher 1985 in Rente ging, wünschte er sich, dass sein Schriftstellerfreund „über ihn und seinen Vater so etwas zu Papier bringen möge, wie man einst über Franz Joseph geschrieben habe“ und spielte auf die zehnbändige Mo-narchie-Chronik an, die er von seinem aus Kroatien stammenden Vater serbischer Abstammung geerbt und seinem jungen Freund geschenkt hatte.

Des Kutschers Vater war übrigens auch nicht irgendwer: Bis zu seinem Tod sah er sich als „Befreier“ der Stadt. Nach der „Befreiung“ der serbischen Brüder und Schwestern aus der Wojwodina im Jahr 1918 ließ er sich mit einem Straßenfundstück, einer heruntergekommenen Kutsche ohne Pferd, in einem verlassenen Haus nieder. Wer wagt, gewinnt: Er besorgte sich einen Gaul und begann ein neues Leben als Kutscher. Die fremde Umgebung schien ihm wie das „Gelobte Land“. Hier lernte er seine Frau, eine Kellnerin aus dem berühmten Kaffeehaus „Dornstädter“ (später in „Moskva“, dann in „Zagreb“ umbenannt) kennen. Hier kam sein Sohn Lazo zur Welt, der wie sein Vater stolzer Kutscher wurde. Doch das „Gelobte Land“ entpuppte sich nach nicht einmal zwei Jahrzehnten als trauriger Tragödienschauplatz. 1990 berichtet Lazo seinem Freund: „In dieser Stadt ist allerlei Volk versammelt (…), nichts ist mehr so wie 1918, als mein Vater sie befreit hat. (…) Über diese Misere, diesen Fluch musst du schreiben (…). Alle hier verstellen sich! (…) Früher hat alle Welt rote Fahnen flattern lassen, die sie später versteckt und verbannt haben. (…) Heutzutage fuchteln alle mit Nationalfahnen.“ 
Das Vaterland
Das Leben erteilte dem Kutscher die wichtigste Lektion – pragmatisch denken, flexibel bleiben, niemals aufgeben, denn: „Das Vaterland ist da, mein Junge, wo du die Chance hast, dich zu beweisen (…). Wenn es sich anders entwickelt, dann packst du deine Siebensachen und suchst dir ein anderes Vaterland.“ Doch gerade Lazo hat sich kein anderes Vaterland gesucht, obwohl die Entwicklungen in und nach dem Zweiten Weltkrieg verheerend waren. Menschen verschwanden spurlos oder verstummten für immer. Menschen verrieten, ja ermordeten sich gegenseitig, um zu überleben. Lazo blieb nicht verschont: Gezwungen, während des Zweiten Weltkriegs in der ungarischen Armee zu dienen, schloss er im Schützengraben an der Ostfront mit den beiden Kutschern aus seiner Heimatstadt, dem Do-nauschwaben Otto Oswald und dem Ungarn János Novák, Freundschaft. Nach dem Zusammenbruch der Front irrten sie umher, bis sie endlich in ihr „Gelobtes Land“ zurückfanden. Keiner der drei wollte ein anderes Vaterland: Otto wollte nach Neusatz, János wollte nach Újvidék, Lazo wollte nach Novi Sad. Jeder hatte auf seine Weise „von genau so einer Stadt“ an der russischen Front geträumt und „davor gezittert, nie wieder nach Hause zu kommen“. Die drei Kutscher werden zwar noch die Gelegenheit haben, in Lazos Haus in Novi Sad ihre geglückte Rückkehr zu feiern, doch wird in dieser schicksalsträchtigen Nacht der serbische Kutscher den anderen beiden die Grube graben und der einzige Überlebende sein. Was Wunder, dass Lazos letzter Wunsch lautet, er möge bei den beiden Freunden auf dem katholischen Friedhof begraben werden – und nicht auf dem orthodoxen Friedhof, wie es sich für einen Serben gehört hätte.

Der angehende Schriftsteller lernt von seinem Kutscher-Freund das, was für ein Leben in diesen Breitengraden unerlässlich ist: „Ich bin Teil der Geschichte geworden, Teil der sardonischen Donau-Lüge, die mich umgibt wie der Strudel den Ertrinkenden. (…) Aus der Droschke habe ich den größten Fluss Europas entsetzt angestarrt, dieses dunkle, kalte, riesige Massengrab. (…) am Limes morden wir einander ja auch mit heiligem Eifer, nur dass wir darüber weise schweigen. Wir behandeln diese Sache als Tabu. Wir sind alle Enkel oder zumindest Erben von Mördern.“

Der Schriftsteller wird die bittere Lektion seines Lehrmeisters zu Papier bringen – und am Ende Lazos Meinung teilen: Nichts als Verstellung und Täuschung, denn auch in der Jetztzeit gibt es „keine Heldentaten“ – „alles ist verlogen, nichts hat mehr Folgen, weder die Lüge noch die Wahrheit: Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen den beiden. Ein und dasselbe kann dieses sein und jenes auch.“ Es heißt zwar, dass endlich nach dem Sturz des Kommunismus eine „schönere Zukunft“ den Menschen beschert sei. Doch vom alten Kutscher weiß er: „Die Freiheit bricht über den Platz der Freiheit herein wie ein hungriger Tiger, der mit funkelnden Augen darauf lauert, wen er als Vorspeise verschlingen soll.“ Der Reigen geht weiter – und ist nicht aufzuhalten: Schon wieder will jemand im Namen irgendeiner Herrschaft oder Idee die Stadt befreien. Es ist ein in einer „sonderbaren Mischsprache“ sprechender Mensch, der am Ende des Romans seinen Auftritt hat. Er zieht die Kutsche des verstorbenen Lazo mit den vielen mehrsprachigen Stadtplänen von der Bildfläche und verschwindet: „Offenbar bildete er sich ein, er wäre ein Held, der uns eines schönen Tages befreien wird.“ 

Überleben

Auch in seinem 2023 erschienenen Roman „Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard“ gelingt es László Végel, die Stadtgeschichte von Neusatz/Novi Sad/Újvidék in Literatur zu überführen und das Leben der einfachen, an der Peripherie Europas lebenden Menschen zu beleuchten. Hier ist es ein von allen in der Stadt geschätzter „Universalhandwerker“, der Fahrräder, Bügeleisen, Tiefkühlschränke und alles, was kaputtgegangen ist, repariert. Er fertigt auch Wappen an – diese heißbegehrten Schmiedearbeiten sichern ihm ein Zubrot. Die Auftraggeber sind mit ihm zufrieden, denn er langweilt sie nicht mit seinen Überzeugungen – er macht, was man von ihm verlangt: ungarische, königlich-serbische, sozialistische Wappen, völlig egal. Denn er will wie sein Großvater, die einzige Bezugsperson in seiner zersplitterten Familie, einfach nur überleben.

Nichts interessiert László Végel mehr als die existenzielle Frage: Wie überlebt ein Mensch die vielen Katastrophen, die mit den unvorhersehbaren Macht-, Regierungs- und Regimewechsel einhergehen? Großvater und Enkel bieten in diesem Roman einen gangbaren Weg an: Sie passen ihren Namen den äußeren Umständen an. Der Großvater heißt: Johann Schlemihl, János Slemil, Jovan Šlemil. Sein Enkel: Franz Schlemihl, Ferenc Slemil, Franjo Šlemil. Welcher Name der richtige ist, welche Haltung die moralisch-korrekte ist – wen kümmert’s, wenn es ums blanke Überleben geht! In einer gebeutelten und umkämpften Region wie der Wojwodina scheint es lebensklug zu sein, wenn im Kleinen das große Geschehen kopiert wird: Wies unter den Habsburgern ein großes dreisprachiges Schild den Platz im pulsierenden Herzen der Stadt als „Hauptplatz/Fötér/Glavni trg“ und etwas später als „Franz-Joseph-Platz/Ferenc József tér/Trg Franca Jozefa“ aus, so hieß derselbige im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen später im Königreich Jugoslawien einsprachig „Trg oslobodjenja“ (Platz der Befreiung). 1941 marschierten die Ungarn als Verbündete des nationalsozialistischen Deutschlands in der Wojwodina ein und benannten den Platz – ebenfalls einsprachig – in „Országház tér“ (Platz des Landtags) um. Als die Partisanen im Oktober 1944 die Region befreiten, nannten sie den Platz „Trg slobode“ (Platz der Freiheit). Der einst so florierende Handelsknotenpunkt Neoplanta, diese ethnisch bunte Stadt, die auch Griechen, Juden und Armenier als ihr Zuhause betrachteten, versank im Strudel der Geschichte. Den Stadtchronisten László Végel geht es jedoch nicht um die Zeitläufe: Ihn interessiert das Schicksal des einzelnen Menschen, der gezwungen ist, im Schatten der heroischen Eroberungen, Befreiungen und Umbenennungszeremonien sein Leben zu fristen. Er will überleben, auch wenn er seinen Schatten mehrfach verkaufen muss.

Wie können wir uns den Stadtchronisten, der unent-wegt über die endlosen menschlichen Torheiten und Tragödien reflektiert, vorstellen? Himmelhoch jauchzend – gewiss nicht. Zu Tode betrübt – wohl eher. Doch an Witz und Ironie gebricht es ihm nicht. Der Schalk sitzt ihm im Nacken, wenn er in seiner „Balkanschönheit“ die Nachbarn über den sonderbaren Schlemihl/Slemil/Šlemil sagen lässt: „Er war kein Ungar, sondern ein Deutscher, der sich für einen Serben ausgegeben hat.“