Menschen hören Musik, um aus der Realität zu flüchten. Wir wollen mit der Musik unsere Alltagssorgen vergessen und in eine andere Welt flüchten. Allerdings bedarf es Konzentration, wie beim Meditieren. Diese Konzentration zu erlangen, ist bei Konzerten besonders schwer. Ein gutes Konzert braucht die Perfektion der Interpreten, die daraus resultierende Konzentration des Publikums und eine räumlich angenehme Atmosphäre. Erst unter diesen Umständen kann man sich vollständig auf die Musik konzentrieren und sich in ihr verlieren.
Ich habe nicht viele Konzerte erlebt, in denen mir es so gut gelang wie an einem Konzertabend in der evangelischen Kirche zu Bukarest. Die Musiker waren sechs Männer, die a capella die kleine Kirche akustisch zum Strahlen gebracht haben. „A Filetta“ heißt das Ensemble, das mit traditionellem polyphonen Gesang aus Korsika schon viele Zuhörer begeistert hat. Unprätentiös, nahezu asketisch standen sie in schlichtem Schwarz gekleidet im Altarraum der renovierten Kirche.
Warm war nicht nur der Klang ihrer Stimmen, sondern auch ihr Umgang untereinander. Während des Singens bildeten sie einen engen Halbkreis, teilweise legten sie die Arme um die anderen Sänger. Somit hörten sie nicht nur aufeinander, sondern sie fühlten sich auch. Gleichzeitig hielten sie eine Hand an ihrem Ohr, um sich selbst in den Einklang mit den Harmonien der anderen zu bringen. Die menschliche Stimme ist die ursprünglichste und emotionalste Ausdrucksweise. Das Musikinstrument ist der eigene Körper. Um rein und klar singen zu können braucht es vor allem Vertrauen in sich selbst, Ruhe und Konzentration. Und dies strahlten die korsischen Sänger durch ihre glasklare Intonation auch aus. Im Vertrauen auf die Kirchenakkustik fuhren sie ihre Stimmen nie bis an die maximale Lautstärke aus, um die Verständlichkeit der Worte zu bewahren. Fernab von synthetischen Stimmen aus der Popmusik oder tönendem Operngesang erklangen die Stimmen wie aus einer anderen Welt.
Die Musik klang vertraut und doch ist es schwer zu sagen woher. Sie hatte Anleihen an den gregorianischen Gesang, der sich durch eine fließende, ruhige Melodie auszeichnet und das Textverständnis in den Vordergrund stellt. Die Gesänge der Korsikaner aber waren viel leidenschaftlicher und wärmer als von mittelalterlicher Musik gewohnt. Es ist im Gegensatz zur gregorianischen Tradition ein polyphoner Gesang mit den Stimmgruppen Bassu, Terza und Seconda. Bei „A Filetta“ wurde die tragende tiefe Stimme, der Bassu, gleich dreifach besetzt. Meist begleiteten sie mit langgehaltenen Borduntönen den Gesang des Sängers Jean-Claude Acquaviva. Der Sänger setzte sich dabei nicht durch gehobene Lautstärke oder viel umschlungener Melodie ab. Es war viel mehr der erzählerische Gestus beim Singen, der die klare Trennung von Solo und Begleitung ausmachte und mich ab und zu an die einfühlsame Stimme von Popsänger Sting erinnerte. Nicht nur der Text der Lieder erzählte eine Geschichte, sondern auch die Gestik und Mimik von Acquaviva. Mit seinen Händen dirigierte er sanft und unaufgeregt den kleinen Chor. Das Mitglied Jean-Luc Geronimi sang eine Paghjella, die in der korsischen Vokalpolyphonie den Gesang voll zur Geltung bringen soll. Die Melodie der Paghjella ist mit reichen Melismen geschmückt, die Assoziationen zur orientalischen Musik hervorriefen. Hier drückte nicht der Text, sondern der ausgeschmückte Gesang selbst die Klagen aus. Der musikalische Ausdruck wird über den sprachlichen gestellt. Mit dieser Rangordnung ist der ältere korsische Gesang der gregorianischen um Jahrhunderte voraus.
Vielleicht war es weniger das musikalische Material, das mir vertraut war, als die Stimmung, die diese Musik hatte: Eine Hingabe an die Hoffnung, nie traurig, aber immer sehnsuchtsvoll. So wie ein Zitat von Fernando Pessoa, das einen im Konzert mit an die Hand gegeben wurde: „Ich bin nichts. Ich werde immer nichts sein. Ich kann nur wollen, nichts zu sein. Und dennoch habe ich alle Träume der Welt in mir.“ Sehnsucht hatte ich auch am Ende des Konzerts. Völlig eingetaucht in die Welt dieser Musik, wünschte ich mich an die Ursprünge dieser Klänge. Sie erinnerten an die Schönheit und Wärme des Mittelmeeres. An Menschen, die gottesfürchtig und bescheiden ihre Lieder in den Kirchen sangen. An eine Welt, in der Ruhe und Konzentration und nicht Hektik und Zerstreutheit die Menschen prägte.