Als die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vor genau fünf Jahren, kurz vor der Pandemie, ihren 70. Geburtstag in Frankfurt am Main feierte, war die Welt noch eini-germaßen in Ordnung und die Feststellung „Die Zeitung ist der Kompass“ von Klaus-Dieter Frankenberger im Oktober 2019 berechtigt: „Seit ihrer (Wieder-)Gründung vor siebzig Jahren ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung das Fenster, durch das Leser in aller Welt auf Deutschland blickt...“
Sogar die Berliner „taz“ beglückwünschte zu diesem Geburtstag mit einem Aufmacher auf ihrer Seite eins. Die Vorgängerin der FAZ war die Frankfurter Zeitung (FZ), gegründet 1856 von dem jüdischen Bankier Leopold Sonnemann in Frankfurt am Main. Eine Gruppe kluger Journalisten hatte ein Ziel: Für ihre stets wachsende Leserschaft eine gute Zeitung zu erzeugen. Auch in der Zeit der Hitler-Diktatur hat sie versucht, mit „Schreiben zwischen den Zeilen“ als Tarnung zu überleben. Schriftsteller und Künstler wie Joseph Roth und sein Freund Arnold Zweig, Carl Zuckmayer, Alfred Döblin, Bert Brecht, Erich Kästner, Max Frisch, Robert Musil und Max Brod oder James Joyce, Ernest Hemingway, André Gide, Sándor Márai oder D.H. Lawrence u. a. wurden veröffentlicht.
Leider ist das Archiv der FZ, die 1943 von Hitler verboten wurde, abhanden gekommen und wertvolle Zeugnisse wie Briefe, Notizen und Zeitungsausgaben gingen verloren. Geblieben sind Erinnerungstexte, die Redakteure nach Kriegsende geschrieben haben. Günther Gillessen, Redakteur der FAZ, hat die Geschichte dieser damals wichtigsten deutschen Publikation im Buch „Auf verlorenem Posten“ (Siedler Verlag, Berlin1986) beschrieben. „Als die Frankfurter Zeitung in Deutschland eingestellt wurde, war es, als würde in einem halbdunklen Raum die letzte Kerze ausgeblasen“, so der Feuilletonist Benno Reifenberg (und später Herausgeber) an einen Freund (auf dem Buchdeckel zitiert). Aber die letzte Kerze leuchtete bereits nach sechs Jahren, vier Jahre nach Kriegsende, wieder auf.
Auferstehung nach dem Zweiten Weltkrieg
Die erste FAZ erschien am 1. November 1949. Erich Welter hat mit vier Kollegen – Paul Sethe, Karl Korn, Hans Baumgarten und Erich Dombrowski – die Zeitung neu gegründet und ihr Büro im Zentrum Frankfurts mit einem Dutzend Redakteuren eröffnet. Seitdem hat die FAZ mehrmals ihren Sitz gewechselt. Zuletzt zog sie Ende 2022 aus dem traditionsreichen Redaktionshaus (1988 erbaut) in der Hellerhofstraße des Frankfurter Gallusviertels in ein Hochhaus des Europaviertels. Welter von der alten FZ hatte 1949 nach der Aufhebung des Lizenzzwanges die Zeitung neu aufgestellt und für ihre ideologische, politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit gesorgt. Das Ziel war eine gepflegte Sprache, die Westbindung Deutschlands und das Einstehen für eine freiheitliche Ordnung. Heute noch steht er als Gründungsherausgeber im Impressum der FAZ. Es gab keine Chefredakteure, stattdessen bestimm(t)en die Herausgeber die „Haltung“ der Zeitung. Ende der vierziger Jahre hatte sie eine Auflage von 42.000 Exemplaren; 1955 bereits 150.000. Das Team der ersten vierzehn Redakteure (Hoeres) der Zeitung war auf hundert Journalisten angewachsen. 1954 bezog Jan Reifenberg die erste Korrespondentenstelle in Washington. Viele Anzeigen und ein gutes Vertriebsnetz sicherten der Zeitung eine steigende Auflage bis zu einer Viertelmillion, deren Umfang bis 1960 auf mehr als hundert Seiten angewachsen war, was für den Zeitungszusteller wie auch später um die Jahrtausendwende für Postboten eine wahre Zumutung war. 1990 erschien die erste regionale Sonntagszeitung und 2001 wurde daraus die überregionale Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS).
Vielseitigkeit und Reichweite
In den 75 Jahren ihres Erscheinens hat sich die FAZ natürlich gewandelt. Zahlreiche neue Produkte sind erschienen: Neben der FAS erschien eine Wochenbeilage „Die FAZ-Woche“ (heute eingestellt), ein „FAZ-Magazin“ (1980-1999, seit 2013 in veränderter Form), eine englische Ausgabe war zeitweise auf dem Markt, „Quarterly“ eine Monatszeitschrift für junge Leser u. a. Außerdem sind zahlreiche Bücher der FAZ im Laufe der Zeit vergrößert oder auch wieder verkleinert worden: „Bilder und Zeiten“, „Technik und Motor“, „Staat und Recht“, die Bildungsseiten, der Finanzteil, Sportzeitung, das Reiseblatt sowie weitere. Im Internet sind natürlich neue Produkte wie Blogs und Fotoserien, Live-Auftritte und andere neue Seiten der Internet-FAZ zu verfolgen. Auch eine Bezahlschranke wurde eingeführt, so dass zahlreiche Artikel und das Archiv nicht mehr kostenfrei anzuklicken sind wie in den ersten Jahren der Internet-FAZ. Die Auflage 2024 liegt bei 183.000 nach 264.000 Auflage der Süddeutschen und mehr als eine Million Auflage der Bild-Zeitung (de.statista.com) in Deutschland. Unabhängig davon ist aber die Reichweite einer Zeitung, die in der Wirtschaft oder Kultur von mehreren gelesen wird. So spricht man von einer Reichweite von 850.000 Lesern täglich. Die Internetpräsenz ist noch einmal ein eigenes Thema.
Qualität liefern, Intelligenz beliefern
Im Laufe der Zeit wurden dem Blatt und seinen Herausgebern zahlreiche Attribute zugeschrieben, wie etwa „zurückhaltende Öffentlichkeitspoetik“, das „Leitmedium“ Deutschlands, das Gremium der „Kurfürsten“, „Selbstdarstellungshandwerk“, „Staatszeitung“, „Qualitätsjournalismus“, die „Klostermentalität“, „vielfach tierisch ernst, zu steif gemessen, ungelenk und temperamentlos“ u. a. (zitiert aus dem Buch des Historikers Peter Hoeres „Zeitung für Deutschland“, München-Salzburg 2019). „Spricht man vom Stil der FAZ, so assoziiert man umgehend das seriöse Äußere, Fraktur und lange Texte, das gehobene Deutsch und die abgewogene Argumentation…
Die FAZler wollten immer Qualität liefern und Intelligenz beliefern. Wortwitz, Kalauer und Personalisierung drangen zwar ins Blatt ein, aber doch nur sehr zögerlich“, so Hoeres in „Stil der FAZ“ (S. 421). Eines konnte man der Zeitung jedoch nie absprechen, trotz aller Unterschiede, Intrigen und Neiddebatten, die öffentlich, halböffentlich oder versteckt in anderen Printmedien nachzulesen waren: Die FAZ war einzigartig nicht nur in ihrem Aufbau und Erscheinen, im Stil, im Konservatismus, in ihrer Beharrungskraft, sondern sie war stets wie eine große Familie. Und eine Familie hält zusammen und schirmt sich nach außen ab.
Vom Grundsatz des „heiteren Hochmuts“
Diese Undurchsichtigkeit der Struktur der Zeitung, nämlich eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die einer Stiftung (Fazit) gehört(e) und sich nie in Abhängigkeit von großen Konzernen begab, war für manchen Außenbetrachter, aber auch für viele Leser ein Rätsel. Nicht nur, dass die Redakteure dem hohen Anspruch der Redaktion gerecht wurden, sie zählten, wie im Buch von Hoeres hervorgehoben, zu „den Besten“ und scherten sich wenig um die Konkurrenz. Als Korrespondenten wurden sie auch im Ausland stets privilegiert behandelt. Visa für schwierige Länder waren kein Thema. Der „eff-a-zett-ische“-Grundsatz des „heiteren Hochmuts“ sollte heißen, dass alle bei dieser Zeitung sind, weil sie gut sind, so Hoeres. Und so wollte man das schreiben, was Politiker und Kulturtreiber zu denken haben. Die Zeitung war das deutsche Leitmedium und das ergab sich nicht nur aus der hohen Auflage, die mehr als 400.000 erreichte um die Jahrtausendwende, als eine Wochenendausgabe einige Kilogramm wog, sondern auch aus der Zitiermeile in anderen Medien, wie TV, Radio und später Internet. Seit 1960 hatte die Zeitung das größte Korrespondentennetz deutscher Zeitungen in aller Welt. Um die Jahrtausendwende berichteten etwa 350 Journalisten aus 148 Ländern über Politik und Kultur. Heute sind es erheblich weniger, da die digitale Welt andere Bedingungen erzwang. Aber immer noch residieren in wichtigen Hauptstädten und Krisengebieten eigene Korrespondenten, die direkt ihre Berichte liefern.
Die FAZ stand immer schon für Qualität(sjourna-lismus). Welter gab kurz nach der Gründung die Losung aus, die als Untertitel bis heute in der Zeitung steht: „Zeitung für Deutschland“. Später wurde der Werbespruch „Dahinter steckt ein kluger Kopf“ von einer Agentur erfunden, die viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Prominente, Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer, Musiker, Sportler, Künstler, Literaten für die Werbung gewonnen hat. Auch Bundeskanzler Helmut Schmidt ließ sich wenige Jahre vor seinem Tod auf einem Werbeplakat zwischen Zigarettenrauch mit einer FAZ abbilden, da er (obwohl Herausgeber der „Zeit“) immer auch bekennender Leser und Leserbriefschreiber war. Der Luxemburger Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident, posierte indes mit der FAZ in einer Taverne an einem griechischen Strand!
Für Osteuropapolitik immer ein sicherer Platz
Dass man in der FAZ nicht nur einen Beruf und eine überaus interessante Beschäftigung fand, sondern auch eine Familie, habe ich auch bei meiner Einstellung 1990 sofort gespürt, als ich nach zwei Jahren freier Mitarbeit in der Vorstellungsrunde herzlich begrüßt wurde und trotz der Bedenken einiger eine Festeinstellung in der politischen Redaktion erhielt. Als Lehrerin in dem rumänischen Karpatendorf Wolfsberg hatte ich 1978 Johann Georg Reißmüller, den damaligen Mitherausgeber kennengelernt, der die Böhmendeutschen besuchte. Er war ein exzellenter Kenner des Balkans sowie Ostmittel- und Osteuropas und kam auf Einladung von Nikolaus Berwanger, Chefredakteur der Temeswarer Banater Zeitung. Die deutschen Minderheiten waren häufig Themen des promovierten Juristen Reißmüller, der zuvor als Korrespondent bis 1967 aus Jugoslawien berichtete. Die Osteuropapolitik hatte immer einen sicheren Platz auf den Zeitungsseiten. Harry Hamm und Thomas Ross waren die ersten Korrespondenten, die aus Bukarest berichteten. Nach der Nominierung Nicolae Ceaușescus zum Parteivorsitzenden 1966 hat Ross in langen Beiträgen den jungen neuen Kommunisten an der Spitze Rumäniens analysiert. „Rumänien will seinen eigenen Weg gehen“ hieß es am 15. Mai 1966 in einem Korrespondentenbericht aus Bukarest. In „Rumäniens Schule des Patriotismus“ beschrieb er die außenpolitischen Ziele der neuen Regierung. Auch Harry Hamm beschrieb als „hervorstechendste Eigenschaft Ceaușescus seine Energie und Zielstrebigkeit“ in „Rumäniens nationalem Kommunismus“ am 4. Juni 1966 auf der Seite „Ereignisse und Gestalten“. Johann Georg Reißmüller analysierte die Lage Rumäniens nach seinem Besuch in Bukarest im Artikel vom 25. August 1969 „Der Geburtstag der Sozialistischen Republik Rumänien“. In all den Jahren seit ihrem Erscheinen hat die Zeitung jedoch nie ein Korrespondentenbüro in Bukarest eröffnet. Korrespondenten aus den Nachbarstaaten Jugoslawien, Ungarn, Österreich oder der Tschechoslowakei berichteten über Rumänien mit. Das kulturelle Leben des Landes kam in der Zeitung nicht vor, obwohl es ein gutes deutsches Theater in Temeswar wie auch in Hermannstadt/Sibiu und Bukarest in der Ceaușescu-Zeit gab, ebenso deutsche Zeitungen und einen deutschen Zeitschriften- und Buchverlag. Viktor Meier, der aus der Schweiz stammende Rumänien-Korrespondent, reiste häufig nach Rumänien und veröffentlichte viele Berichte über die zunehmend schwierige Lage im kommunistischen Rumänien, bis er in Misskredit fiel und kein Besuchsvisum mehr erhielt.
Mit Herta Müller in Rumänien angekommen
Nach der Wende von 1990 berichtete auch der jetzige Mitherausgeber Berthold Kohler aus Prag und Wien über die rumänische Szene. Später schrieb Matthias Rüb aus Budapest über die Lage des Landes, danach Karl-Peter Schwarz. Nach 1990 gelangte die Kultur- und Literaturszene Rumäniens in den Blick, da der damalige Mitherausgeber Frank Schirrmacher dafür ein Faible entwickelte. Mircea Dinescu und Ana Blandiana kamen zu Interviews und Lesungen nach Deutschland. In seinem 1990 von ihm herausgegebenen Buch „Im Osten erwacht die Geschichte“ (Stuttgart, 1990) sind neben eigenen Beiträgen Essays von Mircea Dinescu, Ana Blandiana und Werner Söllner enthalten.
Wirklich angekommen war die Literatur der Deutschen in Rumänien aber erst mit der Verleihung des Nobelpreises an Herta Müller 2009, nämlich als in den damaligen Novembertagen auf den Fluren der Zeitung bei der Ernennung der Ausruf widerhallte „Herta, wer?“! Man hatte eigentlich für einen anderen Autor eine Seite vorbereitet und war von der Ernennung der banatdeutschen Autorin völlig überrascht worden. Die Feuilletonchefin Felicitas von Lovenberg hatte aber wenige Monate davor den Roman „Atemschaukel“ als Buch des Jahres gelobt. Danach wurden Rumänien, das Banat und Siebenbürgen wieder häufiges Thema in Politik und Kultur. Als kurz danach Werner Söllner, der Leiter des Literaturbetriebs in Frankfurt, seine IM-Tätigkeit bekannt machte, folgten Repliken von Richard Wagner, Herta Müller, Ernest Wichner, Eginald Schlattner, Frieder Schuller und anderen, die die Einrichtung „Geheimdienst“-Securitate in Rumänien thematisierten. Auch zensierte Geschichten Herta Müllers aus ihrem ersten Erzählband „Niederungen“ wurden abgedruckt.
Das Feuilleton revolutioniert
Als Frank Schirrmacher jedoch 2014 überraschend starb, nahm sein innovatives, debattenreiches Feuilleton eine andere Richtung. Schirrmacher hatte als Literaturchef und Herausgeber mit den von ihm initiierten Debatten im Feuilleton immer wieder neue Themen angeschnitten, die von anderen Medien aufgegriffen wurden. Obwohl er anfangs Angriffspunkte wegen seiner Dissertation von 1987 bot, revolutionierte er nach und nach das Feuilleton. Er führte einige aufsehenerregende Debatten wie jene um Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ 2001, wo er Reich-Ranicki als Protagonisten des Buches erkannt hat, oder nach einer Enthüllung über Günter Grass im Interview 2006 zu „Die Häutung der Zwiebel“, die Rechtschreibreformdebatte, die Genomdebatte u. a. Auftritte in Fernsehen und Funk, Rezensionen seiner Bücher „Methusalem-Komplott“, „Ego“, „Payback“ und „Minimum“ wurden kontrovers diskutiert und brachten der Zeitung eine weitverbreitete Resonanz. Unvergessen ist Schirrmachers Feuilleton mit sechs Seiten Entschlüsselung des menschlichen Genoms vom 27. Juni 2000. Sein Förderer Joachim Fest, der seit 1974 das Feuilleton von ehemals drei Seiten ausgebaut und 1980 trotz vieler Widerstände Marcel Reich-Ranicki zum Feuilletonchef ernannt hatte, vertraute 1994 dem 37 Jahre jungen Schirrmacher die Kultur-Herausgeberschaft als Nachfolger an. Schirrmachers Tod war ein großer Verlust für die FAZ-Kulturseiten. Obwohl als „Hochstapler“ tituliert, war sein Witz, seine Originalität und sein Feuilleton herausragend, so Hoeres. All diese Aufmerksamkeiten für einen Feuilletonchef widerspiegelten sich dann auch in Büchern über ihn, so in Thomas Steinfelds „Der Sturm“, in „Jahre später“ von Angelika Klüssendorf oder in Gerhard Stadelmaiers Roman „Umbruch“.
Aus Rumänien stammende Autoren veröffentlichten zuweilen auch: ausgewogene Berichte erschienen von dem Banater Heinrich Lauer in der „Gegenwart“ sowie von Franz Heinz im Literatur- und Reiseteil der Zeitung. Auch Mircea Dinescu und Ana Blandiana, Horia Patapievici, Norman Manea, Werner Söllner, Frieder Schuller, Richard Wagner, Herta Müller und König Michael verfassten Beiträge unter „Fremde Federn“. Aus Rumänien stammende Mitarbeiter hatte die Redaktion bisher nur noch den Siebenbürger Konrad Schuller zu verzeichnen, der nach einer Korrespondentenstelle in Polen nun für die FAS schreibt.
Eine Konstante: Leserbriefe
Heute sitzt die Redaktion in einem Hochhaus des Europaviertels in Frankfurt, nachdem Zeitung und Verlag das 1988 bezogene Haus in der Hellerhofstraße verlassen haben, welches dem Boden gleich gemacht wurde. Die Herausgeberzahl wurde nach Schirrmachers Tod auf vier reduziert (derzeit Gerald Braunberger, Jürgen Kaube, Carsten Knop, Berthold Kohler). Eine Frau ist und war nie davor darunter, was häufig Anlass zu Debatten in anderen Zeitungen gab. In den letzten Jahren gelangten allerdings auch Frauen in verantwortungsvolle Posten. Die Ordnungskategorie des politischen Rechts-Links wurde häufig aufgebrochen und ist heute nicht mehr ausschlaggebend. Die nicht mehr ganz so konservativen Politikseiten stehen/standen oft im Widerspruch zum eher linksliberalen Feuilleton und zu den ordoliberalen Wirtschaftsseiten. Gelegentliche redaktionell-thematisch-personelle Dissonanzen ließen die Zeitung bisweilen Thema in anderen Medien sein. Herausgeberwechsel (Hugo Müller-Vogg, Holger Steltzner) oder Wechsel von Verantwortlichen Redakteuren in Politik und Feuilleton gaben nicht selten Gelegenheit zu Spekulationen in anderen Zeitungen.
Internet-Auftritte und andere Veränderungen sind/werden zeitaktuell angepasst, doch eine Konstante weist die Zeitung stets auf: die Leserbriefe, „Briefe an die Herausgeber“. 30 Jahre lang habe ich in dieser Redaktion mitgearbeitet und war auch die Beauftragte für Briefe, deren Veröffentlichung, Layout und die Korrektur der Seite, eine wirkliche Traditionsseite, die wohl dem Motto des einstigen Feuilletonisten der FZ Joseph Roth entspricht, dass die Leser die Würde einer Zeitung bestimmen. Wie im von Johann Georg Reißmüller herausgegebenen Buch „Dazu möchte ich bemerken…“– Leserbriefe in der FAZ aus 50 Jahren“ (München, 1999) zitiert, „an der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts mitgeschrieben“ haben. Die Briefe-Seite erschien bis 2003 als eine ganze Seite (mit Werbung) und wurde nach der Wirtschaftskrise gekürzt und erhielt dann noch 2-3 Spalten in einem der Bücher der Zeitung. Politiker nahe-zu aller Parteien, aber auch Autoren wie Jürgen Habermas, Theodor W. Adorno, Heinrich Mann, Ernst Nolte, Uwe Tellkamp, Alfred Hrdlicka, Stephan Hermlin, Alice Schwarzer, Elke Heidenreich, Thilo Bode, Herbert Hupka, Johannes Rau, Helmut Schmidt, Wolfgang Schäuble, Thilo Sarrazin u. a. zählen zu den Leserbriefschreibern. Wie all die Jahre beobachtet, schrieben immer mehr Männer als Frauen, nämlich geschätzte 80 Prozent. Trotzdem war die Seite stets kritisch und bunt und mischte eifrig mit bei Debatten wie die um den Paragrafen 218, die Rechtschreibreform oder das erste Foto auf der FAZ-Titelseite, respektive „Farbe in der Zeitung“ usw. Nach der Wende trafen täglich mehrere hundert Zuschriften ein. Eine Auswahl war immer schwer zu treffen, da der Platz beschränkt war und nur etwa zehn Prozent der Leserbrief-Schreiber darin zu Wort kamen. Es gab Dauerschreiber oder Vielschreiber, die regelmäßig ihre Zuschriften an die Zeitung richteten. Lob und Tadel standen immer beieinander. Faire und objektive Berichte wurden gelobt, Legenden angeprangert, Sprachschlampereien angemerkt, Ungenauigkeiten bemerkt bzw. Zeitzeugenergänzungen, Berichtigungen und zu Korrekturen gemahnt. Ein Spiegel der Zeit und der Bildung der FAZ-Leser waren/sind die „Briefe an die Herausgeber“ allemal.
Die ganze Geschichte...
Die umfangreiche und ganze Geschichte der Zeitung kann hier nicht erzählt werden. Wer mehr erfahren möchte über diese Zeitung und ihre Leser, kann das in den genannten Büchern von Peter Hoeres und Johann Georg Reißmüller nachlesen. Und wer auch den bisweilen humoristischen Impetus der Zeitung ermessen will, der greife zu „Fraktur“ (Frankfurt am Main, 2017, 2021, 2023), der Buchreihe von Berthold Kohler. Greser und Lenz, die beiden Cartoonisten der FAZ, deren Cartoons oft bissig, humorvoll und witzig sind, bescheinigen dem Herausgeber und der Zeitung, dass die „Bedeutung von Witz, Satire und Ironie als unverzichtbarer Bestandteil journalistischer Meinungsbildung“ zählt. In diesem Sinne seien der für viele Leser unverzichtbaren FAZ noch weitere erfolgreiche Jahre gewünscht!
(Redaktionelle Anpassung: Nina May)