„Mehrfachbelichtung“ lautet der Titel eines künstlerischen Gemeinschaftsprodukts, das vom Lese-Zeichen e.V. herausgegeben wurde und dank der Förderung durch die Kulturstiftung des Freistaats Thüringen in diesem Jahr erscheinen konnte.
Der Titel dieses 131 Seiten starken Buches spielt dabei nicht nur auf ein künstlerisches Verfahren in der Fotografie an, bei dem der fotografische Film mehrfach belichtet wird, um auf dem entwickelten Bild mehrere einander überlagernde Motive simultan und transparent sichtbar werden zu lassen. Der Titel dieser Anthologie macht zugleich deutlich, dass es sich um ein gemeinschaftlich entstandenes Werk handelt, das den Ertrag zweier Künstlerreisen nach Siebenbürgen und in die Bukowina in den Sommern 2009 und 2010 bildet.
„Doch wieso überhaupt Rumänien? Weil wir hofften, hier nachvollziehen zu können, wie sich das Gesicht Europas verändert hat und noch verändert. Weil die Narben von Krieg und Vertreibung, die das 20. Jahrhundert kennzeichneten, hier offen zutage liegen.“ Mit diesen Sätzen aus dem Vorwort wird der Leser und Betrachter auf den „melancholischen Grundton, der sich durch den ganzen Band zieht“, eingestimmt und zugleich auf die künstlerischen Resultate jener Mehrfachbelichtung neugierig gemacht.
Die Fotografien, die von Andreas Berner stammen und den Raum von gut einem Viertel des Buches einnehmen, sind ausnahmslos Schwarz-Weiß-Bilder und ordnen sich so dem historisierenden Grundzug dieser Publikation unter. Man sieht nicht das Rumänien der Gegenwart, sondern ein Rumänien, in dem die Zeit scheinbar stehen geblieben, in dem, wenn man so will, die Gegenwart noch nicht angekommen ist. Kaum ein Foto verrät das 21. Jahrhundert, man fühlt sich stattdessen in das Rumänien der Vorwendezeit zurückversetzt, in dem Armut, Hoffnungslosigkeit und Misere dominieren.
Die Bilder von dem Verfall preisgegebenen Kirchenburgen, verlassenen Gotteshäusern und unbespielbaren Orgeln erzeugen eine Grundstimmung der Trostlosigkeit, die auch nicht durch Porträts von Kindern und Bilder von Landschaft und Tierwelt aufgeheitert wird. Selbst die beiden Wiedergaben von Motiven aus den farbenprächtigen Fresken der Moldau-Klöster sind bewusst in Schwarz-Weiß gehalten. Ein Foto von einem Grabstein aus Siebenbürgen zeigt zwei übereinander angeordnete Wörter: „Vergiss mein“, das dritte Wort „nicht“ ist mit dem Putz abgeblättert.
Die literarischen Texte, die in dieser Anthologie versammelt sind, erscheinen auf mehrfache Weise disparat. Zum einen handelt es sich um Texte von Autoren, die in Rumänien geboren und nach Deutschland ausgewandert sind (Werner Söllner, Marius Koity, Daniela Boltres), zum anderen um Texte von Autoren, die Rumänien nur auf der Durchreise und besuchsweise kennengelernt haben.
Nancy Hünger zum Beispiel berichtet von ihrem Besuch in Birthälm: „Birthälm ist unser Dorf, das Dorf der vergessenen Tiere, der traurigen Kläffer. Einen haben wir uns ans Herz gefüttert, der schwirrt nun um uns, ein flohpelziger Engel, möcht’ ich meinen, ein rehäugiger Allerleihund.“
Friederike Kenneweg erzählt von touristischen Erlebnissen in und um das Dracula-Schloss in Bran sowie von Besuchen in Zigeunerdörfern: „In Rumänien nennt man Sinti und Roma meistens Zigeuner, ob das politisch korrekt ist, danach fragt man anscheinend nicht. Wir unsererseits sind gerade Deutsche in Rumänien, weil wir dort auf Reisen sind.“ Grit Bärenwald steuert zu der Anthologie sechs Miniaturen aus Birthälm und Hermannstadt bei, von denen die vierte, „Mirabellen in Biertan“ überschriebene, folgendermaßen lautet: „In der Mittagshitze, / am Bach, unter dem / Mirabellenbaum, / schmecke ich Kindheit. / Kleine Mädchen in / gelben Alleen, / ewig einen Kern / im Mund.“
Daniela Danz berichtet von einem literarischen Experiment im Hermannstädter Brukenthalgymnasium. Sie hat Schülern der 11. Klasse den Anfang eines Textes vorgegeben, den diese dann fortzusetzen hatten. Der Textanfang lautet: „Ein Engel kommt an die Pforte meines Vaterlandes. Er trägt eine leichte und eine schwere Last. Seine Flügel sind müde. Er fragt den Wärter:“. Der Gymnasiast Radu Roşian hat den Text folgendermaßen weitergeschrieben: „‚Ist dies der Weg, der mich zu einer Veränderung führt?’ Der Wächter sieht ihn an. Er hat den Sinn seines Lebens irgendwo auf dem Weg verloren. Er sieht ihn an.“
Martin Straub vergleicht in seinem Beitrag siebenbürgische Reiseerlebnisse mit literarischen Erfahrungen, vor allem in Auseinandersetzung mit Werken von Herta Müller und Imre Kertész, während der freischaffende Märchenerzähler Hansi von Märchenborn die Verdienste des berühmten Siebenbürger Märchensammlers Josef Haltrich herausstreicht und aus dessen Sammelwerk „Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen“ (1856) das Märchen „Das Hirsekorn“ hier erneut abdruckt, weil es „in einem sehr aktuellen Bezug zu der gegenwärtigen Situation in Rumänien/Siebenbürgen steht“.
Der bekannteste Beiträger zu dieser Anthologie, der seit 1982 in Deutschland lebende und mitt-lerweile sechzigjährige Werner Söllner, tritt mit vier Gedichten an die Öffentlichkeit, deren Rumänienbezug nicht auf der Hand liegt und allenfalls kryptisch zu erschließen ist. Der fünfundvierzigjährige Marius Koity berichtet von Einschüchterungsversuchen der rumänischen Securitate, die er in seinen Tagbüchern der Jahre 1982 bis 1992 festgehalten hat, und fügt diesen autobiografischen Ausführungen vier Gedichte an, die in den Jahren 1986 und 1987 in der vom rumänischen Schriftstellerverband herausgegebenen deutschsprachigen Literaturzeitschrift „Neue Literatur“ erschienen sind.
Die vierzigjährige Daniela Boltres schließlich, die auf Rumänisch, Deutsch und im siebenbürgisch-sächsischen Dialekt publiziert, veröffentlicht in diesem Band vier deutsche Gedichte und zwei Gedichte in rumänischer Sprache mit deutscher Übersetzung sowie einen kurzen Auszug aus ihrem Romanprojekt „Sakuska“, in dem neben den erwähnten Sprachen auch Ungarisch und Romani zum Zuge kommen. So erscheint die Mehrsprachigkeit Siebenbürgens als weitere Dimension des vielsagenden Titels der beachtenswerten Anthologie „Mehrfachbelichtung“.
„Mehrfachbelichtung. Rumänische Erkundungen“, hg. vom Lese-Zeichen e.V., 2011, 131 S., ISBN: 978-3-00-035745-9