Am 1. Oktober hat Ulla Wolcz nach langem Leiden und stillem Hoffen, das sie in den letzten Wochen und Monaten täglich mit sich trug, diese Welt verlassen. Für sie war es vorher viele Jahre hindurch ein stetiger Aufstieg in eine weite, farbige und grenzenlose Theaterwelt, von der sie anfangs durch ihren Vater Kurt Nussbächer geprägt wurde und die sie dann später jahrzehntelang selbst mitgestaltet hat – als Schauspielerin und Lebensgefährtin an der Seite ihres Mannes Niky Wolcz, dem bekannten Regisseur, Pantomimen und Choreographen, und schließlich als Professorin an der Columbia University in New York.
Als sie bereits aus den USA endgültig zurückgekehrt war, zitierte Ulla Wolcz 2018 in einem Klassenbuch ihrer ehemaligen Kronstädter Schulkolleginnen und -kollegen den französischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Patrick Modiano: „Die Kunst der Erinnerung ist das, was man verloren hat und zugleich bewahrt”. Und danach hielt sie eine kurze Rückschau in die Zeit ihres ersten „schauspielerischen Debüts“: „Meine Begeisterung fürs Theater hatte früh begonnen. Mit sieben Jahren (1957) spielte ich im Kronstädter deutschen Laientheater die Bärbel im Märchen ‘Bärbel und die Haulemännlein‘, und seither bin ich dem ‘Virus Theater‘ verfallen. Was unsere Schule, die Lehrer, die Eltern und wir damals auf die Beine stellten, war geprägt von unglaublichem Engagement und Gemeinschaftssinn. Es sind unvergessene Erinnerungen. Diese frühen Jahre bilden einen unerschöpflichen Fundus. Es liegt ein Zauber über dieser Zeit, den Menschen, dem Erlebten. Es gab kein Handy, kein Telefon, kein Auto und erst sehr spät einen Fernseher. Trotzdem war der Kontakt zu Freunden viel intensiver und direkter. Man klopfte einfach an, wenn man jemanden besuchen wollte – ohne Einladung, ohne Termin.“
Später verließ sie ihre Heimatstadt und studierte in Bukarest an der Theater- und Filmhochschule I. L. Caragiale, wo sie Niky Wolcz kennenlernte und 1974 heiratete. Niky Wolcz war damals dort als Lektor und Regisseur tätig. Ihr großes schauspielerisches Debüt hatte sie 1973 in der Hauptrolle der Braut im Film „Nunta de piatr²“ („Die steinerne Hochzeit“, nach einer Novelle von Ion Agârbiceanu, Regie: Dan Pița und Mircea Veroiu). 2012 wurde dieser Film – nun mit dem englischen Titel „Stone Wedding“ – auch im „Lincoln Center for the Performing Arts“ (New York) gezeigt und später als ein besonderes Kunstwerk („a remarkable work of cinematic folklore“) vom weltbekannten MoMA, dem Museum of Modern Art, angekauft.
Nachdem Ulla und Niky Wolcz ein Jahr lang (1974/75) am Temeswarer Deutschen Staatstheater tätig waren, siedelten sie in die BRD aus. Entgegen mancher negativer Prophezeiungen erhielt Ulla Wolcz schon nach drei Wochen ein festes Engagement am Essener Stadttheater. „Eigentlich wollte ich erst die Welt erleben und reisen, um Versäumtes nachzuholen, war aber schon in meiner ersten Spielzeit in sechs Produktionen eingespannt. Es waren schöne Rollen in klassischen und modernen Stücken. Ich lernte nette Kollegen und Regisseure kennen und versuchte, meinen ‘rumänischen Akzent‘ loszuwerden. Ich glaube, es ist mir nie ganz gelungen; es ging aber trotzdem weiter.“
Bald folgten neue Engagements in Bern und Frankfurt sowie zahlreiche Gastspiele, so in Basel, Zürich, Bochum, Stuttgart, Darmstadt, Hannover, Berlin, Bonn, Weimar, Seoul, Bukarest, Brno u. a. „Bald kamen auch andere internationale Angebote“, erinnerte sich Ulla Wolcz und erwähnte z. B. ihr Mitwirken in der 1968 in Buenos Aires gegründeten, internationalen Grupo Acción Instrumental, die aus Schauspielern, Sängern, Tänzern und Akrobaten bestand und deren Arbeit „erfrischend anders“ war: „Wir wurden nach Paris, Venedig, Amsterdam und Basel eingeladen“.
Als Ulla und Niky Wolcz 1995 – auf Empfehlung des rumänisch-amerikanischen Regisseurs und Professors Andrei Șerban – aus New York das Angebot erhielten, an der „Columbia University School of the Arts“ zu unterrichten, entschlossen sie sich, „für 2-3 Jahre diese neue ‘challenge‘ anzunehmen, doch schließlich wurden es 21 Jahre – eine unserer schönsten und fruchtbarsten Lebensabschnitte,“ wie sie sich später erinnerte. „Niky und ich waren bald „full time“ Professoren und konnten das junge Schauspielprogramm, das damals noch in den Kinderschuhen steckte, mitgestalten und mitprägen. Es war viel Arbeit, wir machten viele Überstunden, aber wir hatten auch viel Erfolg und bekamen auch viel Anerkennung. Wir unterrichteten Studenten aus aller Herren Länder in einer Stadt, die für mich immer noch sehr tolerant, vital, interessant und unerschöpflich ist.“
Im Sommer 2017 kehrten dann Ulla und Niky Wolcz – diesmal endgültig – in ihre schöne und geräumige Wohnung in einem Schloss-Nebengebäude von 1760 in Birstein (Vogelberg/Hessen) zurück, die sie vor 32 Jahren gekauft hatten. „Es war dort romantisch und ruhig, das genaue Gegenteil von New York, und es war immer wieder ein Rückzugsort gewesen, wenn die Theaterwelt uns zu laut wurde“, erinnerte sich Ulla Wolcz und zitierte dann einen ihrer Lieblingsautoren, Arthur Schnitzler: „Ein Abschied schmerzt immer, auch wenn man sich schon lange auf ihn freut”. Dass dieser Abschied drei Jahre später endgültig sein sollte, ahnte man damals noch nicht.
Aus der Flut von Briefen, die nach ihrem Ableben von Freunden und Kollegen und von ehemaligen Studenten aus den USA in Birstein eintrafen, sei hier abschließend Professor Brian Kulick, Schriftsteller und Produzent, zitiert, Leiter des „Graduate Theatre Program at Columbia University“, New York:
„Ich glaube, Ulla hatte drei große Lieben“, schreibt Prof. Kulick: „Das Theater, ihren Ehemann Niky und ihre Studenten. Sie scheint keinen dieser Drei bevorzugt zu haben, und ich vermute, sie hat alle gleich geliebt – tief, mutig und ohne jemanden zu favorisieren. Von ihr haben wir zwei wichtige Dinge gelernt: Als Künstler ständig an uns zu arbeiten und wie wir unser Leben gestalten sollen. In beidem war sie für uns ein wunderbares Vorbild gewesen und eine hervorragende Lehrmeisterin – für uns bleibt sie unvergesslich.“