Noch zu Lebzeiten Goethes komponierte der französische Komponist Hector Berlioz eine Schauspielmusik zu Goethes „Faust“, deren Partitur er an den über achtzig Jahre alten Weimarer Dichterfürsten übersandte in der Hoffnung, sie möge bei ihm Gefallen finden. Goethe gab die Partitur an seinen Freund, den über siebzig Jahre alten Komponisten Carl Friedrich Zelter, weiter, der sie aber mit wenig gnädigen Worten bedachte und damit Goethes Beschäftigung mit Berlioz’ Komposition einen Riegel vorschob.
Berlioz verlor daraufhin jedoch das Interesse an Goethes „Faust“, der ihm in der Übersetzung von Gérard de Nerval vorlag, in der Folgezeit nicht, sondern begann anderthalb Jahrzehnte danach mit der Komposition einer Faust-Oper, zu der er selbst, zusammen mit Almire Gandonnière, das Libretto verfasste. Am 6. Dezember 1846 gelangte das Werk in Paris unter Berlioz’ Leitung zur Uraufführung und wurde zu einem derartigen Misserfolg, dass es, nach einer zweiten ebenso missglückten Darbietung wenige Tage später, zu Berlioz’ Lebzeiten nicht mehr auf die Bühne gebracht wurde.
Einer der Gründe für diesen Misserfolg, der Berlioz in eine finanzielle wie künstlerische Krise stürzte, war die Modernität der Form von „Fausts Verdammnis“, einem musiktheatralischen Werk, das der Komponist selbst gar nicht als Oper, sondern als „Dramatische Legende in vier Teilen“ – so der Untertitel – bezeichnete. In der Tat sprengte dieses Werk, das seiner Gattung nach weder eine konzertante Oper noch ein Oratorium, weder eine Kantate noch eine Chorsinfonie ist, die damals herrschenden Begriffe von Operntheater und Bühnenmusik. Der Musikwissenschaftler und Berlioz-Kenner Wolfgang Dömling hat das Werk daher als eine Art „Traumoper“ bezeichnet, bei der der Eindruck entsteht, „als würden aus einer gigantischen imaginären Oper einige Ausschnitte vorgeführt.“
Mit diesen Worten lässt sich auch die „Faust“-Rezeption Berlioz’ charakterisieren: Aus der überbordenden Fülle von handelnden Personen und dramatischen Sequenzen wählt der komponierende Librettist relativ wenige und zum Teil nicht einmal zentrale Szenen aus, die er dann nach Art einer Collage zusammenfügt. So lässt er beispielsweise das Musikdrama weder auf dem Theater, im Himmel oder in einem hochgewölbten gotischen Zimmer beginnen, sondern in der ungarischen Puszta, und dies nur aus dem Grund, um seine Bearbeitung des ungarischen Rákóczi-Marsches in seiner Faust-Oper erklingen zu lassen. Ebenso wird die berühmte Wette zwischen Faust und Mephistopheles ausgespart: Nicht um des erfüllten Augenblicks willen, sondern um Gretchens Seele zu retten, verschreibt Faust seine Seele am Ende dem Teufel. Schließlich ist auch die Höllenfahrt Fausts eine Zutat Berlioz’, die man in Goethes „Faust I“ vergebens sucht.
Von dieser collagehaften und assoziativen Struktur des Berliozschen Musikdramas lässt sich auch die Regisseurin Andrea Moses leiten, die mit der Inszenierung von „Fausts Verdammnis“ ihre erste Opern-Regiearbeit in Stuttgart zeigt. Die erste Stuttgarter Neuproduktion der Saison 2011/2012, die am 30. Oktober Premiere hatte und im November und Dezember mehrfach gegeben wurde, ist zugleich die erste Neuproduktion auf dem Spielplan der Staatsoper Stuttgart unter der Intendanz von Jossi Wieler.
Die einzelnen Szenen des Berliozschen Musiktheaters werden für die neue Stuttgarter Chefregisseurin zu mentalen Sprungbrettern für ganz verschiedene Kontexte, in denen sich ihre dramatische Phantasie auf jeweils unterschiedliche Weise entfaltet. So entsteht zwar kein inszenatorisches Werk aus einem Guss, gleichwohl sind die einzelnen Teile thematisch durchaus miteinander verschweißt.
Eines der Grundthemen ist die Gewalt, die bereits in der ersten Szene urplötzlich und eruptiv hervorbricht. Eine Hochzeitsgesellschaft, der ethnischen Zugehörigkeit nach Sinti und Roma, wird von ungarischen Mitgliedern einer paramilitärisch-fremdenfeindlichen Truppe erbarmungslos niedergeknüppelt. In einem beeindruckenden Bild (Bühne: Christian Wiehle) versinken nicht nur die reich gedeckten Tafeln der Festgemeinde im Bühnenboden, sondern auch, als handle es sich um die Titanic, deren Wohnwagen als Symbol von Heimat bei aller Unbehaustheit. Auch in den Szenen der Studenten, die sich martialisch als Angehörige einer schlagenden Verbindung präsentieren, in den Auftritten der Soldaten und schließlich im Erscheinen der Höllenmonsterhorden manifestiert sich das Thema der Gewalt, die sich vor allem an der sozialen Bruchstelle zwischen Individuum und Kollektiv entzündet.
Fausts Konsequenz aus diesem latent aggressiven Gegeneinander von Einzelnem und Masse ist seine Flucht in seine Träume. Er ist bei Berlioz nicht der Gelehrte, sondern der Künstler, von Andrea Moses als Videoartist mit der Handkamera in Szene gesetzt. Da er als Dokufilmer gesellschaftliche Realität letztlich nicht verändern kann, wird er zum Cybernauten, der wenigstens in seiner Traumwelt Konflikte löst und virtuell Erfüllung findet. Besonders gelungen ist diejenige Szene, in der Fausts Profil, einem Scherenschnitt gleich, zur Projektionsfläche von bewegten psychedelischen Bildern wird, deren letztes unbewegtes das Gesicht von Gretchen alias Marguerite zeigt.
Die Gretchen-Handlung dominiert dann auch die zweite Hälfte der Oper, die Teile 3 und 4 nebst Epilog. Faust (Jean-Noël Briend/Pavel Cernoch) hält sich versteckt, während Marguerite (Maria Riccarda Wesseling) die Ballade vom König in Thule anstimmt. Obwohl die Kumpane des zynischen Mephistopheles (Robert Hayward) den Liebenden mit einer gespenstischen Serenade die Stimmung verderben wollen, finden diese dennoch zusammen und genießen ihr gemeinsames Liebesglück, das allerdings nur von kurzer Dauer ist. Faust verlässt Marguerite und muss sich von Mephistopheles vorhalten lassen, er habe ihre Mutter auf dem Gewissen, die an einer Überdosis des von ihm überreichten Schlaftrunks gestorben sei, und darüber hinaus halte er selbst auch noch das Seelenheil Marguerites in Händen. Um seine Geliebte zu retten, verschreibt Faust schließlich seine eigene Seele dem Teufel und wird am Ende ungläubiger Zeuge der Verklärung Marguerites unter dem Offizium des Mephistopheles in der Maske eines katholischen Priesters.
Neben der Regie, dem in permanenter Verwandlung befindlichen Bühnenbild und den Videosequenzen (Timo Schierhorn) sind an dieser Inszenierung vor allem die Leistungen der Gesangssolisten und die meisterhafte musikalische Gesamtleitung (Kwamé Ryan) ausdrücklich zu würdigen. Das größte Lob gehört aber dem Stuttgarter Staatsopernchor (Leitung: Michael Alber), der in den zahlreichen Massenszenen in immer wieder neuen Metamorphosen, in immer wieder neuen Kostümen, sich proteushaft ständig verwandelnd auftritt und dem dabei immer wieder neue und ungehörte klangliche und stimmliche Differenzierungen gelingen. Völlig zu Recht wurde der Staatsopernchor Stuttgart in diesem Jahr im Rahmen der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Opernwelt“ bereits zum achten Mal als „Opernchor des Jahres“ ausgezeichnet. Nicht zuletzt dieser beeindruckende Chor macht den Besuch von „Fausts Verdammnis“ in Stuttgart zu einem ganz besonderen Erlebnis.