Zu den berühmten deutschsprachigen Töchtern und Söhnen der Stadt Czernowitz, von denen unter den Schriftstellerinnen und Schriftstellern Paul Celan, Immanuel Weißglas, Rose Ausländer, Alfred Kittner, Selma Meerbaum-Eisinger und noch etliche andere zu nennen wären, zählt auch Gregor von Rezzori.
Der 1914 in der buchenländischen/bukowinischen Hauptstadt geborene und 1998 in der Toskana verstorbene deutschsprachige Schriftsteller, Journalist, Hörfunkmitarbeiter, Drehbuchautor und Filmschauspieler Gregor von Rezzori ist allen durch seine „Maghrebinischen Geschichten“ bekannt geworden, die in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts seinen Ruhm als Schriftsteller begründeten. Aber auch durch seine schillernde Persönlichkeit, durch sein Image als Salonlöwe und Lebemann, der mit Brigitte Bardot vor der Kamera stand und im „Playboy“ publizierte, ist der kosmopolitische Autor in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gedrungen.
Rechtzeitig zur Feier seines hundertsten Geburtstages am 13. Mai nächsten Jahres haben die Jassyer Germanisten Andrei Corbea-Hoişie und Cristina Spinei einen Studien- und Materialien-Band zu Gregor von Rezzori herausgegeben, der Beiträge einer internationalen Konferenz versammelt, die Anfang Mai vergangenen Jahres in Jassy/Iaşi stattgefunden hat. Das fast 600 Seiten starke Opus legt den Grundstein für eine intensivierte Beschäftigung mit dem facettenreichen Oeuvre Gregor von Rezzoris und wird die germanistische Rezzori-Forschung entscheidend vorantreiben.
Eröffnet wird die beeindruckende Aufsatzsammlung durch zwei persönliche Erinnerungen an Gregor von Rezzori: Von Dan Hăulică, dem ehemaligen Botschafter Rumäniens bei der UNESCO, und von Martin Pollack, dem österreichischen Journalisten und Autor, der sich publizistisch der versunkenen Literaturlandschaften Galiziens und der Bukowina angenommen hat. Beide Geleitworte würdigen den „Europäer ohne Komplexe“ Gregor von Rezzori schriftstellerisch als „Poeta doctus“ und zugleich menschlich als Erscheinung von „natürlicher Eleganz“ und „beinahe südländischer Leichtigkeit“.
Die vier Hauptkapitel des Sammelbandes umfassen jeweils sieben bis acht Aufsätze und tragen im Einzelnen die Überschriften: „Heimat & Landschaften“, „Identität & Masken“, „Geschichte & Fiktionen“ und „Diegesis & figurae“.
Das erste Kapitel betreibt im Celanschen Sinne „Toposforschung“ und begibt sich auf die historische Suche nach Gegenden, „in der Menschen und Bücher lebten“. Die „Überlagerung der wirklichen Landkarte durch eine imaginäre“ (Romani]a Constantinescu), das Changieren zwischen „realer Topografie“ und einer „Topografie der fiktionalen Orte“ (András F. Balogh) wird in diesem Kapitel ebenso beleuchtet wie Rezzoris Bukarest-Bild zwischen „Typisierung und Stereotypisierung“ (Raluca Rădulescu) und der bukowinische Raum als „symbolischer Bezugsrahmen“ (Cristina Spinei) des schriftstellerischen Gesamtwerkes von Gregor von Rezzori, zu dem nicht nur Romane und Märchen gehören, sondern ganz wesentlich auch Memoiren und autobiografische Studien.
Wie eng Toposforschung und Identitätssuche zusammengehören, macht das zweite Kapitel des Sammelbandes deutlich. Elisabeth Berger vergleicht Rezzoris autobiografische Porträtstudien „Blumen im Schnee“ mit der Autobiografie „Die gerettete Zunge“ des um etwa ein Jahrzehnt älteren Elias Canetti. Mariana L²z²rescu erläutert die Bedeutung seiner Kronstädter Jahre für Gregor von Rezzoris Entwicklung und macht in ihrem Beitrag dessen Matrikelblätter (Beste Noten im Freihandzeichnen!) vom dortigen „Honterus“-Gymnasium aus den Jahren 1924 bis 1926 zugänglich. Tetiana Basniak problematisiert Gregor von Rezzoris Haltung zur Psychoanalyse am Beispiel seines Romans „Ödipus siegt bei Stalingrad“ und Angela Checola befasst sich unter dem Titel „Erinnern und Erzählen“ mit der autobiografischen Selbstdarstellung des eloquenten Memoirenschreibers.
Im dritten Kapitel des Aufsatzbandes finden sich zwei Beiträge von Manfred Müller und Marie Lehmann zu Rezzoris Einschätzung des Nürnberger Prozesses 1945/46 gegen die Hauptkriegsverbrecher, den dieser sowohl literarisch als auch journalistisch (z. B. in einem Text aus dem Jahre 1946 mit dem Titel „Das Schlusswort von Rudolf Heß“) reflektierte. Die Problematisierung des Antisemitismus in Rezzoris Oeuvre wird in zwei Beiträgen von Ioana Crăciun und Péter Varga näher untersucht, und weitere Aufsätze, u. a. von Peter Rychlo, behandeln die Vielvölker- und Minderheitenproblematik in Rezzoris Werk im Zusammenhang diverser Nationalitätenbilder, wie zum Beispiel des Bildes der Deutschen.
Das vierte Kapitel des Aufsatzbandes versammelt Stiluntersuchungen, Beiträge zur Erzählforschung, poetologische Studien, Abhandlungen über Metafiktion und über das Märchenhafte in Rezzoris Oeuvre sowie Überlegungen zur filmischen Visualität in seinem literarischen Schaffen. Larissa Schippel gibt im fünften Kapitel des Sammelbandes einen aktuellen Überblick über die bisher publizierten Rezzori-Übersetzungen, und zwar nach Werken und Sprachen geordnet. Ins Rumänische übersetzt wurden bisher nur zwei Werke Rezzoris: „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“ (durch Catrinel Pleşu) und „Blumen im Schnee“ (durch Sanda Munteanu). Das sechste Kapitel präsentiert, ausgewählt von Andrei Corbea-Hoişie und Andrea Landolfi, Fragmente aus dem Nachlass von Gregor von Rezzori, und zwar zum Roman „Ein Hermelin in Tschernopol“, einem überaus lesenswerten Werk des buchenländischen Kosmopoliten. „Miscellanea“ (Kapitel 7) und „Rezensionen“ (Kapitel 8) schließen den germanistisch wertvollen und wissenschaftlich ertragreichen Sammelband ab, der neue Maßstäbe in der Rezzori-Forschung setzt, dessen einzelne Aufsätze gleichwohl auch von interessierten Laien mit Gewinn und Genuss gelesen werden können. Ästhetisch abgerundet wird das schöne Buch durch Fotos, Zeitdokumente, Faksimiles (darunter eines Briefes von Brigitte Bardot) und die Reproduktion eines Ölgemäldes von Constantin Flondor, das Gregor von Rezzoris Heimatstadt Czernowitz zeigt.
Gregor von Rezzori: „Auf der Suche nach einer größeren Heimat“. Studien und Materialien, hg. von Andrei Corbea-Hoişie und Cristina Spinei, Editura Universităţii „Alexandru Ioan Cuza“ Ia{i 2013 bzw. Hartung-Gorre Verlag Konstanz 2013, ISBN 978-973-703-921-7 bzw. 978-3-86628-468-5 ( = Jassyer Beiträge zur Germanistik XVII)