Heimat, wo bist du?

Siebenbürgen hautnah

Einen Blick in Mutters Geburtshaus erhaschen

Studienarbeit über die Integration der Siebenbürger in Deutschland

Am Grabstein von Oma und Uroma

Die Platzordnung sieht mich ganz vorne, bei den Alten

Der Kirchturm in Törnen steht allein. Fotos: privat

Als Reiseschriftstellerin war ich in diesem Jahr auch schon in Spanien, in den USA, in Südfrankreich. Doch Siebenbürgen hat mich am meisten berührt. Warum? Zum ersten Mal war ich hier ein paar Tage allein unter-wegs und gönnte mir, auch andere Orte kennenzulernen als die, wo meine Eltern aufgewachsen waren: Mein Vater in Bußd/Boz bei Mühlbach/Sebe{, meine Mutter in Törnen/P²uca bei Hermannstadt/Sibiu. Ich fuhr zum ersten Mal bis Schäßburg/Sighi{oara und dann bis Kronstadt/Bra{ov. In jedem Ort auf dem Weg dorthin eine eigene Kirchenburg, staunte ich. Ich konnte nicht aufhören mit Fotografieren. Wie schön doch Siebenbürgen ist, habe ich mir mehrfach gedacht.

Manche Orte werden am Ortseingang noch immer mit zwei Tafeln angezeigt, so zum Beispiel Ru{i und Reussen, [oar{ und Scharosch, Sighi{oara und Schäßburg. Wie lange das wohl noch gerechtfertigt ist?

Als dann meine jüngere Schwester Anna drei Tage später am Flughafen ankam, war ich voller Vorfreude.

Welche Erinnerungen würden bei ihr aufploppen? Sie war fünfzig Jahre nicht mehr hier gewesen, zuletzt mit 13. Während ich das Hermannstadt und die Dörfer der Eltern bereits 2015 besucht hatte – mit unserer alten Mutter und meinen vier erwachsenen Kindern, nach 40 Jahren Abstand. Den der Alltag uns vorgegeben hatte:  Mit der Familie in München, wo ich 1956 geboren bin, wo ich natürlich auch bayrisch sozialisiert bin, wo Siebenbürgen nicht täglich präsent ist.

„Was ist an Eindrücken von damals noch bei dir da?“, fragte ich sie. „Was sollen unsere gemeinsamen Schwerpunkte für die kommenden Tage sein?“

Anna ist seit über vierzig Jahren im Allgäu verheiratet. Dort hatte sie mit Siebenbürgen überhaupt keine Verbindung. Sie hat ihren Stil gefunden, hat in ihrem Haus nichts Überflüssiges, ihre Möbel wirken klar und fast streng. Trotzdem durfte ich davon ausgehen, dass ihre aufgeschlossene Art auch ihr helfen würde, in dieser Landschaft der Erinnerungen ihre Wurzeln zu finden.

Die folkloristischen Gegenstände aus dem Bestand unserer Eltern waren bei mir geblieben: der Winterpelz unserer Mutter mit der im dicken Leder eingestickten Zahl 1942, da war sie 16 gewesen; die handgestickten Kissen mit „Siebenbürgen, süße Heimat“; die schweren, dicht gemusterten gewebten Leinendecken; und dann all die vielen vergilbten Unterlagen von ihr in einem abgegriffenen Ordner. Der Flüchtlingsausweis im Original. Ein in kyrillischer Handschrift verfasster fahlgelber Zettel, aus dem Lager in Krigoirov nach ihrer Deportation in die damalige Sowjetunion. Darauf war ihre Krankheit bestätigt worden: Gelbsucht. Glück oder Unglück? Man konnte sie im Lager jeden-falls nicht mehr brauchen. Das bezeugt der Entlassungsschein schon 1946 nach Thüringen; bald ihre illegale Flucht aus der Ostzone, was mit einer Flasche Schnaps an den Grenzbeamten erschwindelt wurde, wie sie mir erzählt hat  – sie wollte unbedingt weiter nach Garching bei München, wo sie ihren Vater aus der Deportation angekommen wusste, ebenfalls wegen Krankheit frühzeitig entlassen. In einem anderen abgenutzten Ordner, beschriftet mit seiner steilen ungelenken Handschrift: Unseres Vaters Stationen nach der amerikanischen Gefangenschaft; die vielen Krankenakten nach einer ungesunden Zeit, die ihn bis zum Schluss in Schach hielt.  

Und nun Anna und ich gemeinsam in Hermannstadt!

Das Große Sachsentreffen hatte zuerst mich zur Buchung von zehn Tagen veranlasst, und daraufhin hat auch sie sich drei Tage spontan aus dem Alltag herausgeschnitten.

„Vor allem will ich kapieren, wer sie eigentlich sind, die Siebenbürger Sachsen. Unsere Eltern sind schon mit jungen neunzehn Jahren hier weg, 1945, das war eine ganz andere Zeit. Über siebzig Jahre haben sie in Garching gelebt. In Bayern. Wie viel sie erzählt haben aus ihrer Heimat! Die Sitten, Gebräuche, das geregelte Miteinander in den Nachbarschaften, die vielen Verwandten in ihren Dörfern, die Sippennamen, mit denen sie sich identifizierten. Die Kirche. Und das Essen.
Ja, das Essen.

„Wie verrückt das ist! In den Restaurants hier kriegst du genau die Suppen, die unsere Mutter immer gekocht hat: Kümmelsuppe, Knoblauchsuppe, Krautsuppe, Salatsuppe.“

„Birträm Laawend“, fiel mir der Begriff im sächsischen Dialekt ein. „Die liebte ich! Mutter hat sich immer von Besuchern in Törnen Estragon für die Suppe mitbringen lassen, weil es das bei uns früher nicht gab.“

Anna lächelte und schüttelte sich gleichzeitig. „Die mochte ich nie! Und jetzt hier dasselbe! Aber schau mal dort!“ Sie war vor einer Bude am Großen Ring stehengeblieben und lachte laut.

„Cl²tite, steht hier! So hat doch unsere Mama bis zu ihrem Lebensende zu Pfannenkuchen gesagt! Also kennen wir damit zumindest ein rumänisches Gericht per Namen!“ Ja, da standen wir und staunten. Die Freude über die vertrauten Dinge spiegelten sich in ihren Augen wider.

Würden wir neue Erkenntnisse erhalten, wer diese Siebenbürger Sachsen eigentlich waren? Das war anscheinend nur mein Fokus.

Denn es ging nicht so ab wie erhofft. Während ich gemütlich die Orte Törnen und Bußd samt Kirchen und Friedhöfen besehen und aufmerksam die entstehenden Gefühle beobachten wollte, hatte Anna ein touristisches Eilverfahren im Hinterkopf. Eine halbe Stunde dem Trachtenzug zusehen („Das genügt, denn wir haben ja gestern schon einigen der Volkstanzgruppen auf der Bühne zugesehen“, sagt sie), dann mir zulieb eine Veranstaltung im Forumshaus besuchen, dann das Auto holen, wo steht das gleich wieder, und hurtig nach Törnen düsen, wo wir unsere Cousine Sinni zu Besuch wussten, dort uns vielleicht eilends noch den Hof unserer Großeltern zeigen lassen, mit Sinni kurz etwas zu Mittag essen, dann eine Stunde zurück nach Hermannstadt hetzen, erneut einen Parkplatz erhaschen und die 800-Jahresfeier der Andreanum-Urkunde mit dem Goldenen Freibrief für Siebenbürgen mitnehmen, dies abkürzen, weil ihr zu viel geredet wurde, lieber nochmal zum Huetplatz und rasch an einer Stadtführung teilnehmen, davon aber wieder abspringen und lieber auf dem kleinen Ring eine Bratwurst gegen den Hunger holen, dann sofort das Nationaltheater suchen und per Infotainment mehr über die Landler erfahren. Wer war denn das schon wieder? Als wir hier erfuhren, dass Großpold/Apoldu de Sus ein Landlerdorf war, staunten wir beide, denn auch dort wussten wir Verwandte. Früher.

Am Sonntag im Zuge des Großen Sachsentreffens um 10 Uhr den Gottesdienst in der Kirche in Hermannstadt mitnehmen, dann eine Kirchenburg, am besten eine mit einem guten Renommee, am besten Birthälm/Biertan, Bischofssitz! Die muss ja gut sein! „Du fährst ganz schön langsam!“, bemerkt sie. Dann Schässburg Oberstadt erledigen, weil ebenfalls UNESCO-Weltkulturerbe, dann zurück und nach Michelsberg/Cisn²dioara, um im Apfelhaus Essen zu gehen, weil das gute Bewertungen hat. Dann wieder rein nach Hermannstadt, einen der raren Parkplätze finden, zwischen all den Autos mit deutschem Kennzeichen, die extra wegen des Großen Sachsentreffens angefahren waren. Nun noch wenigstens die letzten Songs vom Peter-Maffey-Konzert mitkriegen und dann zwischen zehntausend anderen Siebenbürger Sachsen auf dem Großen Ring versumpfen.

Und dann brachte ich sie Montagfrüh wieder zum Flughafen.

Sie war von unserem Besuch in Bußd sehr erschreckt gewesen, sagte sie während der Autofahrt dorthin. Nach Bußd waren wir am Freitag Nachmittag gefahren. Hatten fröhlich am Ortseingangsschild, auf dem nur noch „Boz“ steht, gemeinsame Selfies gemacht. Und suchten als erstes die Kirche, auf der bei ihrem letzten Besuch vor fünf Jahrzehnten ein Storchennest gethront hatte und die uns so mächtig vorgekommen war.

Hunde auf der Straße begrüßten uns laut bellend, die Menschen vor ihren Häusern bestaunten das fremde Auto mit den fremden Frauen drin. „Die fällt ja bald zusammen!“, bemerkte Anna entsetzt, als wir an der Kirche anhielten, um wenigstens ein paar Fotos mitzunehmen.

Das Haus unserer Großmutter stand nicht mehr, wusste ich schon von meinem letzten Besuch. Also wenigstens ihr Grab besuchen.

Wir hatten „evangelischer Friedhof“ von Google übersetzen lassen, um danach fragen zu können. „Cimitirul protestant?“, fragten wir unbeholfen. Die Menschen waren aus den Gruppen vor ihren Häusern nun an unserem Auto zusammengelaufen und zeigten große Hilfsbereitschaft. Doch nur Schulterzucken, Kopfschütteln. Als wir schon aufgeben wollten, war ein alter Mann mit weißem schütterem Haar am Stock herbeigehumpelt.

„Cimitirul protestant, da!“ Ja, er erinnere sich. Zeigte den Hügel drüben hoch. Ein jüngerer Mann konnte ein wenig Englisch. „Dort vorne ist eine Abzweigung“, übersetzte er den Alten. „Auf dem Asphalt den Hügel hochfahren, bis Straße ist weg.“ Er machte eine wellige Handbewegung. „Auf der linken Seite sind Büsche. Dazwischen altes Eisentor, da hinein. Ihr müsst gut schauen, viele Büsche!“

Genau so verlassen wie der Friedhof da lag, fühlten auch wir Nachkommen uns. Da standen mehrere Grabsteine mit unseren eigenen Geburtsnamen, mit denen unserer Vorfahren wie Platzner und Tonch. Viele von ihnen waren bereits umgefallen oder kurz davor. Es gebe noch zwei Siebenbürger Sächsinnen im Dorf, erfuhren wir später. Beide 96 Jahre alt. Man winkte uns beim Wegfahren an der Straße freundlich zu. Natürlich winkten wir zurück, so fröhlich wie möglich. Doch in Wirklichkeit waren wir nicht froh. Wir empfanden uns als Rest, als Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit.

 Ich hatte noch ein paar Tage Zeit, weil ich auf das Ortstreffen in Gergeschdorf/Ungurei gehen wollte, in diesem Dorf ist unser Großvater geboren. Fand dort mit Hilfe unseres Sippennamens „Fo-rresch“ noch Familienmitglieder – jetzt im Schwarzwald wohnend – die sie hier „Forrsch“ aussprachen. Genoss die herzliche Aufnahme und die herrschende Langsamkeit. Fand später stolz auf dem Friedhof das verwitterte Grab unseres Urgroßvaters. Ich besichtigte die dortige Kirche mit dem kecken spitzen Turm, sie war, wie der Friedhof auch, eigens für das Ortstreffen geöffnet worden. Mit Ehrfurcht und Neugier stellte ich mir die Plätze vor, wo vielleicht mein Urgroßvater gesessen hatte, seine Frau, ihre Kinder, also auch mein Opa, der mit uns in Garching gelebt hatte. Ich stieg auf die Galerie. Wer war hier gesessen, wo jetzt verstaubte Bänke übrig waren? Vielleicht spielte einer meiner Vorfahren die Orgel, deren Manual jetzt am Verrotten war? Auf meinem Weg zum Glockenturm – die Holztreppe schien gut renoviert und mich zu tragen – erschreckte ich zahlreiche Tauben. Neben einem Taubengerippe aber befand sich ein Nest mit frisch geschlüpften Jungen, die aufgeregt auf- und abatmeten und dabei fast Wärme versprühten.  

Danach traf ich an der Straße nochmal den Vorsitzenden der Heimatortsgemeinschaft, er fragte: „Wie war’s?“ Und ich antwortete: „Na ja, ganz schön verhaut.“ Er darauf, entschuldigend: „Ja, wir machen ja immer wieder ein wenig. Seit 1993 wurde ja nichts mehr an der Kirche gemacht. Wir versuchen bei jedem Besuch, jedes Jahr, wieder etwas anderes zu retten.“

Ich glaube, ich bin rot geworden. Hätte mir auf die Zunge beißen können. Krümmte mich innerlich. Fand aber keine Worte. Nur ein verlegenes Lächeln setzte sich auf meine Lippen. Komme hierher und will meinen Münchner Anspruch befriedigt haben! Ja, es gab einiges zu lernen auf meiner Reise. Heute vor allem Demut. Und großen Respekt vor den Menschen, die nach der Wende nicht nur dem gleichmachenden Sozialismus entkommen wollten. Sie waren ausgewandert, um die Geschichte ihrer Vorfahren weiterzuführen. Auch ihre Kinder sollten Deutsch sprechen, so wie es die Siebenbürger Sachsen über 800 Jahre geschafft hatten. Genau so sollte es weitergehen.

Ich besuchte nochmal Törnen, wo ich Zeit mit unserer Cousine verbringen durfte, eine Frucht von dem großen Pfefferbirnenbaum kosten konnte, den unser Großvater gepflanzt hatte. Doch erlebte ich, wie bei meiner Schwester, auch bei Cousine Sinni, die in Törnen aufgewachsen ist und dort ihr Elternhaus gekauft und aufgepeppt hat: Was willst du mit den Alten! Ich weiß nicht mal ihre Namen! Sie hat dann doch gerne den Schlüssel für die Törner Kirche besorgt, sie wusste, wer ihn behütet. Hat mir mit wachsendem Stolz die Kirche gezeigt, an deren Inneres ich mich nicht mehr erinnerte. Sie werde der Mittelpunkt der Welt genannt, erklärte sie mir lächelnd, weil diese Kirche keinen Wehrturm habe. Und sie zeigte nun sogar Begeisterung, als sie ihr Wissen weitergeben kann, indem sie mir die jeweiligen Feinheiten in der Bekleidungsvorschrift der Tracht erklärt und damit verknüpft die Sitzordnungen: Vorne nahe am Altar die alten Frauen, dann die Mütter, dann die jüngst Verheirateten ohne Kinder, dann die, die nächstes Jahr heiraten würden, dann … und dann … und rechts die Männer in ähnlicher Ordnung. So viel Ordnung überall, schoss es mir durch den Kopf. So haben sie über die Jahrhunderte ihre Kultur erhalten und damit den Zusammenhalt und so ihre Freiheit verteidigt.

Nach der Kirchenführung hat mich Sinni zum Friedhof begleitet. Ich hatte zusammen mit meiner Mutter schon mal die offiziellen Namen unserer Vorfahren in einer Ahnengalerie aufgeführt – wie gut, denn Sinni kannte nur den Sippennamen unserer Urgroßmutter. Schließlich haben wir ihr Grab gefunden. Während unsere Großmutter im Zuge der Familienzusammenführung 1966 nach Garching gekommen war und da bei unserem Opa begraben ist. Erst 1990, als Sinni nach Deutschland auswanderte, konnte sie es besuchen.

„Nächstes Mal bringe ich einen schwarzen Stift mit, um die Schrift wieder lesbar zu machen, für meine Kinder!“, sagte sie noch, wie zu sich selbst, als wir zurück zum Auto gingen.

Und meine Schwester? Ja, natürlich war auch sie berührt. Zum Abschied erklärte sie: „Ich bin als neugierige Touristin gekommen – aber hier war mehr!“

Und dann? Bin auch ich wieder in Deutschland. Wo sich meine Freunde wundern. Rumänien? Warum? Wegen den intensiven Gefühlen zur Heimat meiner Eltern! Wie soll ich das nur erklären?