Der Brauch des Mărţişor, zu Deutsch Märzchen, ist eine bis in vorchristliche Zeiten zurückreichende Geschenktradition, die außer in Rumänien und in der Republik Moldau auch in Bulgarien und Griechenland gepflegt wird. Am 1. März erhalten vornehmlich Frauen, meist in Verbindung mit Blumen, und auch Kinder einen kleinen Anhänger mit rot-weißer Schnur, der als Talisman oder Glücksbringer dient und eine Zeitlang an einem Kleidungsstück befestigt getragen wird. Der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien, S.E. Cord Meier-Klodt, hat gemeinsam mit seiner Gattin diesen Märzchen-Brauch zum Anlass genommen, mit einem Konzert in seiner Residenz nicht nur die Damen, die tatsächlich am Eingang alle ein rumänisches Mărţişor erhielten, sondern auch die Herren gleicher-maßen mit einem musikalischen Angebinde zu beschenken.
In der festlich erleuchteten Botschafterresidenz, in der seit 1979 jahrzehntelang das Bukarester Goethe-Institut untergebracht war, mit ihren hohen Räumen und den schönen stuckverzierten Decken hatte Botschafter Meier-Klodt als Gastgeber seinen großen deutschen, rumänischen und internationalen Freundeskreis (auch der amerikanische Botschafter, S.E. Hans G. Klemm, zählte zu den geladenen Gästen) versammelt, um allen Anwesenden unter dem Motto „‚Eine kleine Sehnsucht…’: Berlin – Bucureşti“ ein ausgewähltes musikalisches Programm mit Tangos und Chansons aus den 20er und 30er Jahren zu präsentieren, vorgetragen von der in Deutschland lebenden rumänischen Sängerin Oana Chiţu.
In seiner Einführungsrede zu diesem Märzchen-Residenzkonzert berichtete Botschafter Meier-Klodt von seiner ersten Begegnung mit Oana Chiţu bei einem musikalischen Vortragsabend im Rumänischen Kulturinstitut in Berlin, die in ihm schon damals, noch ohne selbst je rumänischen Boden betreten zu haben, den Wunsch geweckt hatte, die Schlager- und Chansonwelt der rumänischen Zwischenkriegszeit wie der Goldenen Zwanziger Jahre in Deutschland auch auf seinem künftigen Botschafterposten in Bukarest einst zu Gehör bringen zu können. Ein Treffen mit der Sängerin im Café Einstein in Berlin befestigte diese wunderbare Idee, die dann im Mărţişor-Residenzkonzert beglückend Wirklichkeit wurde. Dass Botschafter Meier-Klodt in seine Begrüßungsansprache auch eine gesungene Chansonzeile en passant mit einfließen ließ – „Sub balcon eu ţi-am cântat o serenadă“ (Unter dem Balkon habe ich dir eine Serenade gesungen) –, ließ nicht nur eine schöne Singstimme hörbar werden, sondern machte zugleich deutlich, dass ihm selbst die Sangeskunst eine Herzensangelegenheit ist.
Das Residenzkonzert selbst begann dann in familiärer Atmosphäre, denn Oana Chiţu hatte aus Berlin auch ihre kleine Tochter Catinca mitgebracht, mit der gemeinsam sie das erste Chanson des Abends „Eine kleine Sehnsucht“ aus der Feder des deutschen Revue- und Filmkomponisten Friedrich Hollaender, begleitet von ihrem dreiköpfigen Ensemble, begeisternd und mitreißend vortrug. Der aus Serbien gebürtige Akkordeonist Dejan Jovanovic, der aus der Republik Moldau stammende Zymbal-Spieler Valeriu Ca{caval und der in Chişinău geborene Violinist Anton Slavici sorgten den ganzen Abend über für wunderbare musikalische Erlebnisse in verschiedenen Stilen wie Jazz oder Tango, aber auch mit deutlichem Bezug zur rumänischen Volksmusik, und dies alles gemäß den Versen dieses ersten Chansons „Eine kleine Sehnsucht braucht jeder zum Glücklichsein! Eine kleine Sehnsucht, ein Stückchen Sonnenschein.“
Darauf folgte ein weiteres Lied Friedrich Hollaenders, vielleicht sein bekanntestes, das er für Josef von Sternbergs Film „Der blaue Engel“ (nach dem Roman „Professor Unrat“ von Heinrich Mann) komponiert hatte und das im Film von Marlene Dietrich interpretiert wird, mit den berühmten Liedzeilen: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, denn das ist meine Welt, und sonst gar nichts.“ Im Gegensatz zu den bekannten Liedversionen deutscher oder österreichischer Chansonetten wie etwa Margot Werner oder Ute Lemper brachte Oana Chiţu eine weichere, geschmeidigere, intimere Fassung zu Gehör, die den Zynismus der femme fatale oder der belle dame sans merci ins Liebliche und Humane wendete.
Petre Andreescus bereits erwähntes Lied „Sub balcon eu ţi-am cântat o serenadă“ setzte dann die Darbietung fort und der diesem Lied entstammende Vers „Sus pe cer se-oprise luna să mă vadă“ (Oben am Himmel hatte der Mond innegehalten, um mir zuzusehen) gab gleichsam das Stichwort für das nächste Chanson mit dem Titel „Pe boltă când apare luna“ (Am Himmel, wenn der Mond erscheint) von Ionel Fernic, der sich seinerzeit nicht nur als Komponist, sondern auch als Pilot und Fallschirmspringer einen Namen gemacht hatte.
Das erste Lied des Abends aus dem Schatz der rumänischen Volksmusik, das auch von Maria Tănase oft und gerne gesungen wurde, war dann das Trinklied „Bun îi vinul ghiurghiului“ (Gut mundet der Rotwein), wobei das Instrumentalensemble, das die Sängerin Oana Chiţu begleitete, in den Zwischenspielen sich durchaus die Freiheit zu musikalischen Ausflügen in andere und modernere Stilgefilde nahm.
Darauf folgten dann wieder zwei deutsche Schlager: das Liebesabschiedslied „Geh schlafen, mein Junge“ (Kurt Radeke / Hans Fritz Beckmann) und das einst auch von Marlene Dietrich gesungene Chanson „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre“ von Friedrich Hollaender und Robert Liebmann, der als einer der erfolgreichsten Lieddichter und Drehbuchautoren der Weimarer Republik 1942 im Konzentrationslager Auschwitz umgebracht wurde.
Das berühmte rumänische Lied „Mână, bîrjar!“ (Auf, Kutscher!), das man aus den Versionen von Jean Moscopol oder Gică Petrescu kennt, wurde dann durch den Song „Ich möcht’ so gerne wissen, ob sich die Fische küssen“ des großen Musik- und Schauspielstars der Weimarer Republik Max Hansen fortgesetzt, der es mit seinem gewagten Spottchanson „War’n Sie schon mal in mich verliebt?“ sogar gewagt hatte, Adolf Hitler modo cantandi eine homosexuelle Affäre mit einem Juden anzudichten, was erklärt, dass er nach der Machtergreifung des Diktators über Österreich nach Dänemark fliehen musste, wo er dank eines gefälschten Ariernachweises das Dritte Reich überleben konnte.
Im Anschluss daran wurde in der Residenz des Botschafters ein weiteres Lied dargeboten: das berühmte Liebeslied „Vrei să ne-ntâlnim sâmbătă seară“ (Willst du, dass wir uns Samstagabend treffen), das mit Bedacht für den letzten Tag der Woche als geeigneten Rendezvouszeitpunkt optiert, weil man am darauf folgenden Sonntag ausschlafen kann: „Că duminică putem dormi.“
Den Abschluss des Konzertabends bildete dann das berühmte und weltweit bekannte Soldatenlied „Lili Marleen“, wobei die Sängerin des Residenzkonzertes in ihren moderierenden Zwischentexten weniger auf zeitgeschichtliche Bezüge einging als vielmehr auf die eigenen und ganz persönlichen Dimensionen der einzelnen Lieder und Liedtexte. So hatte Oana Chiţus Vater dieses Soldatenlied in ihrem Elternhaus im Dorf Humuleşti, aus dem auch der berühmte rumänische Erzähler Ion Creang² stammt, im Kreise der Familie immer gerne gesungen, insbesondere nach dem Genuss eines Gläschens Wein, was der Mutter wiederum weniger gefiel.
So klang der Abend in der Residenz des deutschen Botschafters in familiärer und freundschaftlicher Atmosphäre aus, zwischen Bukarest und Berlin, zwischen Rumänien und Deutschland, wie „Eine kleine Sehnsucht, ein flüchtiges Traumgebild’! Eine Sehnsucht, die sich niemals erfüllt!“ Oder vielleicht hier gerade doch!