Für meine München-Reise im Spätherbst hatte ich mich im Internet schon lange vorher auf die Suche nach interessanten Kulturangeboten gemacht. Eines beeindruckte mich auf Anhieb: Am 27. November sollte in der Bayerischen Staatsoper mit den Topsängern Peter Seiffert und Anja Kampe Beethovens „Fidelio“ aufgeführt werden. Als ich noch dazu las: „Musikalische Leitung - Zubin Mehta“, zögerte ich keine Sekunde und kaufte die Karten.
Im prachtvollen Opernhaus der Bayerischen Hauptstadt wurde mir jedoch auf unangenehme Art und Weise klar, dass eines im Internet gefehlt hatte – der Vermerk „Hörplätze“. Wir kamen pünktlich an, fanden aber nicht gleich unsere Plätze und erkundigten uns bei der Platzanweiserin. Erst tat sie, als höre sie nicht, dann überprüfte sie uns herabschauend und schließlich sagte sie, die Plätze seien „drinnen“. Na so was, drinnen also! Das Entgegenkommen des Opernpersonals ist scheinbar auf Preiskategorien eingeteilt! Wir versuchten es erneut in Eigenregie; diesmal erfolgreich, denn genau unsere zwei Stühle waren „drinnen“ noch unbesetzt. Vor den „Hörplätzen“ befand sich eine Stehreihe, wo man – wie der Name sagt – zwar nicht sitzen, dafür aber etwas sehen konnte. Bei uns war das Gegenteil der Fall. Unsere Nachbarn, ebenfalls Ausländer oder mindestens Nicht-Münchener, hatten das gleiche Problem: „Wieso wird bei der Internet-Bestellung nicht vermerkt, dass das Hörplätze sind?“; „Wenn man ohne Vorwarnung kommt, rechnet man doch in aller Freude damit, dass man etwas sehen wird!“; „Wäre man informiert, so gäbe man für den visuellen Genuss gerne ein paar zusätzliche Euro aus. Man hat doch nicht jeden Tag die Gelegenheit, so einen ‘Fidelio’ zu sehen!“ Tatsächlich hätte ich sehr gerne die Inszenierung von Calixto Bieito gesehen, dessen Lebenslauf mich bei der Internet-Recherche beeindruckt hatte. Noch gespannter war ich auf die Kostüme, für die Ingo Krügler verantwortlich zeichnete, ein Modedesigner, der bei John Galliano und Jean-Paul Gaultier in Paris tätig war.
Egal! Verloren ist gewonnen!
Ich nahm mich zusammen: Für Mehta war ich gekommen, auf Mehta sollte ich mich also konzentrieren! Ich gewann wie nie zuvor in einer Opernvorführung die Einsicht, dass die Musik vollkommen reicht, wenn ein Topdirigent an seiner Seite fabelhafte Solisten und ein hervorragendes Orchester hat. Dermaßen lebendige, bildhafte und raffinierte Tonkunst hört man selten. Fast hätte man tanzen wollen, so viel Leben strahlten die Phrasen aus, so eine Fülle und Transparenz offenbarten die Details, so warm klang das Ensemble! Personen, Gefühle und Handlung konnte man schon allein in der Musik erkennen: Die Todesgefahr, in der sich Florestan befand, den Mut und die Treue Leonores, die Rachepläne des hinterlistigen Pizzaro. Schicksal, Hoffnung und Entsetzen mündeten dann musikalisch in die wieder hergestellte Gerechtigkeit, die triumphal bejubelt wurde. Zubin Mehta bewies noch einmal, dass er ein wunderbarer Begleiter ist, während das Orchester zeigte, dass es den Maestro schon lange kennt – von 1998 bis 2006 hat Mehta als musikalischer Leiter in der Bayerischen Staatsoper über 400 Vorstellungen dirigiert.
Fabelhaft ist auch die Akustik des Opernsaales – in einem guten Saal bleibt das vielleicht einer der wenigen Bereiche, wo es nicht nach Preiskategorien zugeht und alle Zuhörer gleich (exzellent) behandelt werden. Ich verstand also, was Zubin Mehta im September in Bukarest gemeint hatte, als er sich bei den rumänischen Behörden schriftlich für eine gründliche akustische Renovierung der Sala Palatului einsetzte.
Zubin Mehta und Rumänien
Der indische Musiker ist des öfteren zu Gast beim Enescu-Festival – voriges Jahr dirigierte er in Bukarest am 19. und 20. September das Israel Philharmonic Orchestra mit Vadim Repin (Violine) und Jefim Bronfman (Klavier) als Solisten. Selbstverständlich wieder in der Sala Palatului. Von rumänischer Seite hat man immer wieder versucht, die Akustik dieses Saales zu verbessern. Umfassendere Umbauprojekte wurden zwar vorgeschlagen, diskutiert und versprochen, dann aber im Zweijahrestakt doch wieder verschoben. Ioan Holender, der künstlerische Leiter des Festivals, hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich manch wichtiges Orchester der Welt unter dem Vorwand der schlechten Akustik weigert, nach Bukarest zu kommen. Auch Zubin Mehta beschwert sich nicht zum ersten Mal. In seinem Schreiben vom 20. September 2011 lobt er das hochkarätige Festival und das Bukarester Publikum. Eine Lösung für eine bessere Akustik sei eben deshalb von „dringender“ Notwendigkeit, betont er. „Der Umbau und die Sanierung der Sala Palatului können nicht mehr in die Länge gezogen werden, sollte das Kulturleben Rumäniens einen Schritt nach vorne machen.“
Der Mann, der das schreibt, ist einer der prominentesten Dirigenten weltweit. Im Jahre 1961, im Alter von 25, hatte er bereits die drei großen Orchester dirigiert, denen er bis heute verbunden bleibt: die Wiener und die Berliner Philharmoniker sowie das Israel Philharmonic Orchestra. Sein Debüt als Operndirigent gab er drei Jahre später. Er ist zurzeit Chefdirigent des Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino in Florenz, seit 1981 auf Lebenszeit Musikdirektor der israelischen Philharmonie. Er engagiert sich für den Frieden – stets mit unverkennbarer Eleganz und Zurückhaltung, ohne daraus ein Aushängeschild zu machen. Er blieb in Israel und dirigierte „seine“ Philharmoniker sogar während des Sechstagekrieges, des Jom-Kippur-Krieges oder des Golfkrieges. Auch für junge begabte Musiker hat der Dirigent ein offenes Ohr: über die „Mehli-Mehta“-Musikstiftung werden Kinder in Bombay mit der westlichen Klassik bekannt gemacht; die „Buchmann-Mehta“-Musikhochschule in Tel Aviv vergibt jährlich Vollstipendien für besonders talentierte Nachwuchsmusiker; auf Mehtas Initiative erhalten arabische Israelis in Shwaram und Nazareth musikalischen Unterricht von den Instrumentalisten der israelischen Philharmonie. Umso mehr freut man sich, dass der Maestro im September auch an der Musikuniversität Bukarest den Ehrendoktortitel erhalten hat.
Vor dem Enescu-Festival 2013 will ich Zubin Mehta unbedingt noch einmal dirigieren sehen. Oder vielleicht auch nur hören. Es wäre für mich „perfekt genug“.