Musik der Superlative

Eindrücke vom Abschluss des Enescu-Festivals

Publikum im Saal und Publikum auf der Bühne: Immerhin hatte auch Murray Perahia mit dem Klavier gerade genügend Platz, um zu spielen.
Foto: Agerpres

In der Früh am letzten Festivaltag herrschte zwischen Athenäum und dem Großen Saal des Palais Aufbruchstimmung. Um die fünfzig Zuhörer saßen noch vor der Bühne auf dem „Platz des Festivals“, manche von ihnen gemütlich mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Zu sehen war auf dem großen Bildschirm eine Konzertaufzeichnung mit Claudio Abbado am Dirigentenpult. Einige Verkaufsstände der Musikverlage räumten bereits ihre Regale, andere hielten noch im Sonderangebot eine Kollektion von CDs für ihre Käufer bereit: „Die Musik des Enescu-Festivals“, hieß es auf kleinen Werbeplakaten. Die Bürgersteige rund um den Enescu-Platz trugen noch die bunten Farben und die musikalischen Elemente, die sie im Rahmen des Street-Art-Projekts „Kreatives Bukarest“ erhalten hatten. Der sonnige Tag lud zum Verweilen, Genießen und Lauschen ein. 

Noch einmal füllte sich am Abend der Große Saal des Palais mit Tausenden von Musikfreunden. Das Royal Philharmonic Orchestra aus London konzertierte gemeinsam mit dem Akademischen Chor und dem Kinderchor des Rumänischen Rundfunks unter der Stabführung von Cristian Mandeal. Auf dem Programm stand in der Darbietung des Violinisten Dimitri Sitkovetsky das einzige konzertante Werk für Geige und Orchester von George Enescu – das „Capriccio“, das der Komponist etwa 1925 bis 1949 skizzierte, und der Klausenburger Tondichter Cornel Ţăranu ergänzte und orchestrierte. Abschließend erklang die monumentale, anderthalbstündige dritte Sinfonie von Gustav Mahler (Solistin: Jennifer Johnston). Aber nicht dieses majestätische Schlusskonzert, sondern andere zwei, die früher am selben Tag stattfanden, sollen hier beleuchtet werden.

Kammermusikalische Köstlichkeiten

Leider weniger gut besucht als das große sinfonische Konzert – obgleich auf mindestens ebenbürtigem Niveau – war im Athenäum die Matinee des „The Schubert Ensemble“, einer britischen Formation, die seit 30 Jahren besteht und seit 25 in der jetzigen Besetzung musiziert. Den langjährigen gemeinsamen Werdegang merkt man der Musik dieser Gruppe sofort an: Ein derart zusammengeschweißter Klang, ein solch ausgeglichener Dialog der Instrumente sind äußerst selten und Zeichen von kammermusikalischer Vollendung.

Das Ensemble spielte nicht Schubert-Werke: Es heißt „Schubert Ensemble“, weil es seit seinen Anfängen die Zusammensetzung des „Forellenquintetts“ behalten hat – nämlich Klavierquartett und Kontrabass, ohne eine zweite Geige. In Bukarest trat nur das Quartett auf: William Howard (Klavier), Simon Blendis (Geige), Jane Salmon (Cello) und Douglas Paterson (Bratsche). Das dargebotene Repertoire bestand aus drei etwa zur gleichen Zeit entstandenen Werken kontrastierenden Ausdrucks. In der Fantasie für Klavierquartett in fis-Moll von Frank Bridge, einem Generationskollegen Enescus, bewies das Ensemble vorbildliche Koordination von der ersten bis zur letzten Note, in den großzügigen Legatobögen wie in den spielerischen, kammermusikalisch heiklen Pizzicati und Flageoletts. Von Anstrengung keine Spur: Selbst das Atmen der vier Musiker schien perfekt synchronisiert zu sein, und der Klang war wie aus rotem Samt mit Gold genäht.

Greifbare, lebendige musikalische Architektur brachten die vier auch in dem Klavierquartett Nr. 1 in c-Moll von Gabriel Fauré, dem Kompositionslehrer Enescus, zu Gehör. Hier zeigten sie eine atemberaubende Virtuosität und spätromantische Leidenschaft, die genauso gefeilt war, wie die raffinierten, kontemplativen Stellen. Und selbst wenn die Klangfarbe des Klaviers in einer Streicherformation automatisch hervorsticht, kam hier dem Tasteninstrument keine solistische Rolle zu – es blieb durchgehend integriert. Die Krönung des Konzerts war Enescus Klavierquartett Nr. 1 in D-Dur – zwar ist es in der Besetzung ein Quartett, doch klingt es vielmehr wie eine imposante Sinfonie für vier Virtuosen. Das Ensemble glich die gewaltigen Dimensionen des Werks mit Flexibilität und Aufmerksamkeit für Details aus – zum Beispiel mit geflüsterten Phrasenendungen, die sich im Nichts auflösten, oder mit feuriger Energie, die Enescu wohl aus den rumänischen Volkstänzen übernommen hatte, ohne auch deren Melodik zu zitieren.

Kurzum, der Auftritt des „Schubert Ensemble“ war eine Delikatesse für jene Zuhörer, die Kammermusik schätzen. Übrigens hat die Formation ihr diesjähriges 30. Jubiläum u. a. mit einem Enescu-Abend in London gefeiert und bisher bereits zwei Enescu-Platten eingespielt (die CDs umfassen die Klavierquartette Nr. 1 und 2, das Klaviertrio in a-Moll, das Klavierquintett Op. 29, sowie „Aria und Scherzino“ für Geige und Klaviersextett, aufgenommen unter Mitwirkung des rumänischen Geigers Remus Azoiţei).

„Üben und Liebe für die Musik“

Damit wären wir beim Klavierabend von Murray Perahia. Kann man diese Musik in Worte fassen? Der US-amerikanische Pianist spielte im Athenäum kein prätentiös anmutendes Repertoire, sondern in seiner bekannten, schlichten Art, eine Auswahl von Werken, die zur Essenz der Klassik gehören: eine bezaubernd lebendige und vielschichtige Französische Suite Nr. 4 von Bach, Beethovens Sonate Op. 57, aufbrausend vor Leidenschaft und zugleich makellos elegant, Schumanns bunt gefärbten „Faschingsschwank aus Wien“, sowie zum Schluss das Impromptu Nr. 2 und das Scherzo Nr. 2 von Chopin, stetig wechselnd zwischen glanz- und geheimnisvoll. Der längst überbesetzte Saal erzwang sich einige Zugaben, der Beifallssturm wollte nicht enden.

Kennzeichnend für Perahias Darbietungen ist eine Tiefgründigkeit, die aber nicht erst auf der Ebene der üblichen musikalischen „Expressivität“ entsteht, sondern – um mit Celibidache zu reden – den „inneren Gesetzmäßigkeiten der Partitur“ entspringt. Der Pianist bewegt sich nicht an der Oberfläche der Musik, sondern schenkt seinen Zuhörern das Ergebnis einer akribischen (auch analytischen) Arbeit, die es ermöglicht, dass selbst in der üppigsten Klanggirlande jeder einzelne Ton seinen berechtigten Platz findet und seine eigene Botschaft vermittelt. Gleichzeitig denkt (und fühlt) Perahia das Stück als ein unzertrennliches Ganzes, und baut es aus großen Phrasenbögen zusammen, bei denen die Spannung nie nachlässt. Seine Musik lacht, tanzt, sehnt sich oder trauert. Man entdeckt plötzlich neue polyphone Etagen, Stimmen, die man nie vernommen hat, obwohl man das Stück schon zum wiederholten Mal hört.

Die Sopranlinien sind in Licht getaucht, die Mittelstimmen weich und seidig, die Bässe murmeln und schnurren, alles lebt. Sein Klavierspiel ist derart vokal, als sei das Instrument unter seinen Händen aus Stimmbändern, nicht aus Hämmerchen gebaut. Und dort, wo andere Klavierspieler ihr absolutes Pianissimo erreicht haben, beginnt erst bei Perahia eine Welt von unzähligen Nuancen der Ruhe und Sanftheit. All das zeugt von seinem beeindruckenden künstlerischen Verantwortungsbewusstsein: Ein neu einstudiertes Werk führt er erst nach monatelanger Vorbereitung auf, wenn es vollkommen ausgereift ist. Man erlebt bei ihm kein Jagen nach Erfolgen, kein hochmütiges Auftreten, sondern pure Seelenkultur und hingebungsvolle Konzentriertheit auf seine Kunst. Sein Rezept fasst er schlicht zusammen: „Üben und Liebe für die Musik.“

Es bleibt zu hoffen, dass die 22. Auflage des Enescu-Festivals dieses Niveau wahrt. Das Eröffnungskonzert spielen am 29. August 2015 die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle.