Musik entstehen lassen

Gespräch mit der Initiatorin des Celibidache Centers e.V. München, Agnès Blanche Marc

Agnès Blanche Marc bei der Eröffnung des Celibidache-Festes in München. Foto: Mathis Beutel/ Nexus-Group GmbH

Zu den Veranstaltungen anlässlich des diesjährigen Celibidache-Jubiläums zählte im Oktober auch ein glanzvolles Ereignis in München, das von dem Celibidache Center e.V.  unter dem Titel „100 Jahre Celibidache. Das Fest“ ausgetragen wurde. Treibende Kraft der dreitägigen Feier zu Ehren des rumänischen Dirigenten und Initiatorin des Münchner Centers ist Agnès Blanche Marc, eine ehemalige Schülerin Celibidaches. Sie studierte in Frankreich Blockflöte und Bratsche, bevor sie sich Anfang der neunziger Jahre entschloss, in die bayerische Hauptstadt zu übersiedeln und bei Celibidache Dirigieren und Phänomenologie der Musik zu lernen.

Diese Erfahrung prägte sie. Agnès Blanche Marc unterrichtet seit 1994 Blockflöte und Kammermusik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, gibt Pädagogik-Seminare und Meisterklassen in Deutschland und im Ausland, hält Vorträge über Sergiu Celibidache und dessen Lehre. Als Solistin und Dirigentin trat sie in Frankreich, Deutschland, Italien und der Schweiz auf. Ihr dreibändiges Lehrwerk „Meine Blockflöte und ich“ ist unlängst bei „Edition Delor“ erschienen. Mit Agnès Blanche Marc sprach ADZ-Redakteurin Christine Chiriac.



Wie kam es zu Ihrer Begegnung mit Sergiu Celibidache?

Ich hatte mein Flötenstudium in Paris abgeschlossen und studierte zusätzlich Bratsche. Musikerin wollte ich schon immer werden, aber das, was im Studium von mir verlangt wurde, war nicht, was ich suchte. Ich empfand vieles als willkürlich, musste trotzdem so spielen, wie der Lehrer es verlangte. Ich war sehr unglücklich – bis ich eines Tages einen Schüler von Celibidache traf, in der Person meines damaligen Kammermusiklehrers, Rudolf Kuhn.

Zu dieser Zeit wusste ich noch nichts über Celibidache, aber schon bei dem ersten Kammermusikunterricht merkte ich, dass der Lehrer so spricht, wie ich es immer erwartet und erhofft hatte. Es war für mich die Sternstunde.
Ein Jahr später entdeckte ich den Celibidache-Film von Jan Schmidt-Garré („Celibidache - Man will nichts, man lässt es entstehen“, 1992, Anm. d. Red.), der mich ebenfalls faszinierte. Ich sah den Film ein paar Dutzend mal.
Mit meinem damaligen Streichquartett reiste ich nach München, um Celibidache beim Proben zuzuhören und seinen Konzerten beizuwohnen.

Es traf mich wie der Blitz – ich war sprachlos. Zu meinen Quartettkollegen sagte ich, dass die wahre Musik nicht in Paris, sondern in München zu finden ist, und dass wir verrückt wären, weiterhin in Paris zu bleiben. Ein paar Monate später, im Sommer 1992, waren wir noch einmal für einen Kurs in München. Für mich stand es spätestens dann fest: am 1. September ziehe ich nach München um. Es war keine leichte Entscheidung, die Stelle am Pariser Konservatorium aufzugeben, den Kammermusikgruppen Adieu zu sagen, die Wohnung in Paris zu kündigen und innerhalb von zehn Tagen in München anzukommen. Doch im Bewusstsein, dass es die Chance meines Lebens war und dass ich keine Sekunde zögern durfte, überwand ich alle Ressentiments und Warnungen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis. Es erwies sich – musikalisch betrachtet – als die richtige Entscheidung, denn schließlich erlebte ich Sergiu Celibidache noch drei Jahre lang.

Hat es Ihnen jemals leid getan, auf Paris verzichtet zu haben?

Nie – obwohl ich in Paris eine ideale Stelle am Konservatorium hatte, sehr gut verdiente, und hier plötzlich „nur noch“ als Studentin galt. Trotzdem habe ich die Entscheidung keine einzige Sekunde bereut.

Wie war der Unterricht bei Celibidache?

Er war kein Lehrer, er war ein Maestro im wahrsten Sinne des Wortes. Er hat uns beigebracht, der Musik zu dienen. Im Laufe der Jahre hatte ich Unterricht bei vielen bekannten Lehrern, dennoch möchte ich nur Celibidache als „Maestro“ bezeichnen. Man konnte ihn nicht einfach „Herr Celibidache“ nennen.

Er hatte diesen seltenen universellen Geist, der alles zusammenschließt – nicht nur in musikalischer Hinsicht, sondern als umfassende Lebenseinstellung. Erst bei ihm verstand ich wirklich essenzielle Dinge in der Musik und gewann einen ganz anderen Blick, eine neue Perspektive auf die Welt. Ich verstand, dass Leben Musik ist.

Viele Menschen, die Celibidache persönlich kennengelernt haben, sprechen von einem außergewöhnlichen Charisma. Wie haben Sie ihn erlebt? Wie war er als Mensch?

Seine Ausstrahlung war unglaublich. Von Natur aus bin ich überhaupt nicht schüchtern, aber als ich zum ersten Mal unmittelbar vor Celibidache stand und ihm vorgestellt wurde, wurde ich plötzlich rot und konnte meinen Namen nicht mehr sagen. Mein Kollege Patrick Lang erklärte lächelnd an meiner Stelle: „Das ist Agnès, Maestro“. Ich war verstummt. Celibidache hatte nicht nur Charisma, er strahlte pure menschliche Liebe aus.

Man sagt ihm nach, wie hart, streng, „tyrannisch“ er war – aber er verstand sich als Diener der Musik und deswegen duldete er keine Kompromisse. Hätte er Kompromisse geduldet, hätte er das, was er erreicht hat, gar nicht erreichen können.

Um Zugang zu allen Konzerten in der Münchner Philharmonie zu bekommen, nahm ich den Job der Platzanweiserin an. Es war schon sehr erstaunlich, wie unterschiedlich das Orchester von einem Tag auf den anderen klingen konnte, je nachdem, wer es dirigierte. Bei vielen Gastdirigenten klang das Ensemble plötzlich „getrennt“ – die Flöten spielten „flötistisch“, die Geiger „geigerisch“ usw. Das Orchester war zersplittert. Bei Celibidache war alles eine Einheit. Er veränderte die Menschen, mit denen er arbeitete. In „seinem“ Klang war auch deshalb eine einmalige Wärme, die man gar nicht in Worte fassen kann. Und wenn Musik entstand, konnten wir die Ewigkeit erleben. Absolute Freiheit.

Wie kam es zur Gründung des Celibidache Centers?

Sergiu Celibidache hat uns einen großen Schatz an erlebtem Wissen, an Erfahrung hinterlassen. Ein einmaliges musikalisches und menschliches „Sich-öffnen-können“, das nicht verloren gehen darf. Dieses Weltkulturerbe wollen wir gerne weiter geben, und deshalb haben wir im November letzten Jahres das Celibidache Center gegründet – zum hundertjährigen Jubiläum Sergiu Celibidaches. Bei der Veranstaltung der Jubiläumsfeier „100 Jahre Celibidache. Das Fest“ war es mir wichtig, dass ehemalige Schüler, Studenten und Mitarbeiter von Celibidache eine Gelegenheit bekommen, etwas im Zeichen der Dankbarkeit „zurückzugeben“. Denn ein Geschenk möchte man teilen, und ein Fest wird nicht allein gefeiert. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass das Jubiläum fast ausschließlich durch private Mittel finanziert wurde.

Welches sind die Pläne des Centers für die nächsten Monate?

Die einzigartige Fotografie-Ausstellung, welche im Rahmen des Jubiläums gezeigt wurde, ist jetzt auf unserer Website (www.celibidache-center.org) zu sehen. Die Exponate werden in limitierter Auflage zum Verkauf angeboten. Jeder, der ein Bild erwirbt, trägt zur Verbreitung des musikalischen Erbes Sergiu Celibidaches bei. Wir planen als nächstes die Veröffentlichung eines Buchs mit weiteren wunderbaren Fotografien, Interviews und Texten von, bzw. über Celibidache. Für die Realisierung dieser Publikation werden wir ein eigenes Spendenkonto einrichten. Alle Spender werden im Buch namentlich erwähnt. Pläne und Ideen haben wir darüber hinaus viele, aber für ihre Realisierung brauchen wir finanzielle Unterstützer: Menschen oder Unternehmen, die sich für die Idee des Celibidache Center begeistern und finanzielle Mittel bereithalten, damit das Werk Celibidaches lückenlos dokumentiert und seine wichtigen Erkenntnisse an die nächsten Generationen vermittelt werden können.

Celibidache hat zeit seines Lebens gerne unterrichtet und sich mit Hingabe um Musiknachwuchs gekümmert. Was wünschen Sie sich für die junge Musikergeneration?

Celibidache hatte eine Art zu musizieren und zu leben, die meines Erachtens noch sehr viele Generationen von Musikern inspirieren kann. Wir brauchen solche Leuchttürme in der heutigen Gesellschaft dringender denn je. In einem Moment, in dem sich scheinbar alles nur um Geld und Karriere dreht, in dem der Rest „egal“ ist und Werte mit Füßen getreten werden, ist es äußerst wichtig, Zugriff auf das musikalische Erbe Sergiu Celibidaches zu schaffen. Die Relevanz seiner Erkenntnisse für die nächste Generation drückt sich meiner Meinung nach in folgendem Satz am besten aus: „Wenn Du eine Gesellschaft ändern willst, musst Du ihre Musik ändern.“

Zu oft wird heute nach dem Motto „laut, schnell, virtuos, perfekt“ gearbeitet. Jeder strengt sich an, „der Beste“ zu sein, die Stimmung ist die eines Kampfes – aber im Endeffekt klingt alles glatt und seelenlos. Damit wahre Musik entsteht, muss man jedoch diese Ambitionen weglassen, was aber nicht bedeutet, dass man auf die Karriere verzichtet und schon gar nicht auf die Qualität. Celibidache hat selber eine wunderbare Karriere gemacht. Die Karriere kommt nicht auf Bestellung, weil man sie will. Vielleicht entsteht sie, vielleicht nicht, aber sie ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist zu musizieren, die Musik entstehen zu lassen.