„Musik gibt mir Energie“

Daniel Barenboim – eine Legende / Pressegespräch anlässlich des Enescu-Festivals in Bukarest

Daniel Barenboim begeisterte das Bukarester Publikum.

Die Bukarester Musikuniversität verlieh dem Meisterdirigenten die Ehrendoktorwürde. In unserem Bild: Daniel Barenboim (r.) und der Komponist Dan Dediu, Rektor der Bukarester Musikuniversität
Foto: Christine Chiriac

Eine der prominentesten Präsenzen im diesjährigen Enescu-Festival war mit Sicherheit der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim. Zusammen mit der Staatskapelle Berlin führte er am 13. und 14. September die Klavierkonzerte KV 491 und KV 482 von Mozart, die 7. Sinfonie von Bruckner und die Dante-Sinfonie von Liszt auf. Am 12. September erhielt er seitens der Nationalen Musikuniversität Bukarest den Ehrendoktortitel – anlässlich der Zeremonie sprach er über seine Bewunderung für George Enescu, Dinu Lipatti, Clara Haskil. „Als Sergiu Celibidache in München dirigierte, habe ich in jeder Konzertsaison unter seiner Stabführung gespielt, und nie habe ich München verlassen, ohne etwas gelernt zu haben“, sagte Barenboim. „Er war und bleibt eine große Inspirationsquelle für mich: oft kommt es vor, dass ich mich beim Einstudieren einer Partitur frage, was Celibidache aus dieser oder jener musikalischen Phrase gemacht hätte.“ Schließlich lernte Barenboim vor 41 Jahren Radu Lupu kennen. Den rumänischen Klaviervirtuosen zählt er nicht nur zu den besten Pianisten der Welt, sondern ebenso zu seinen besten Freunden.

Doch wer ist der argentinische Musiker, den die Publikation „The Times“ als „legendär“ beschrieb? Daniel Barenboim wurde 1942 in Buenos Aires geboren und zog 1952 gemeinsam mit seinen Eltern, die auch seine einzigen Klavierlehrer waren, nach Israel. Bald gab er sein erstes internationales Konzert, dem regelmäßige Auftritte und Tourneen weltweit folgten. Er nahm Dirigierunterricht bei Igor Markevitch und studierte Harmonielehre und Komposition bei Nadia Boulanger.

Barenboim war als Dirigent in London, Berlin, New York, Paris und Chicago tätig. 1973 dirigierte er erstmals eine Opernaufführung (Mozarts „Don Giovanni“), später debütierte er mit Wagners „Tristan und Isolde“ im Rahmen der Bayreuther Festspiele, die er fortan 18 Jahre lang mitgestaltete. Seit 1991 ist er Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra, seit 1992 künstlerischer Leiter und Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Im Herbst 2000 wählte ihn die Staatskapelle Berlin zum Chefdirigenten auf Lebenszeit. Kammermusik und Liedbegleitung gehören ebenso zu seinem Wirken wie die Einspielungen der wichtigsten Werke der Klavierliteratur. Als Pianist und Dirigent widmete er sich stets auch zeitgenössischer Musik. 

Daniel Barenboim wurde nicht nur für seine musikalischen Verdienste mit zahlreichen hohen Preisen auszeichnet, sondern ebenso für sein Engagement im Sinne der Völkerverständigung. 1999 rief er gemeinsam mit dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said (1935-2003) das West-Eastern Divan Orchestra (WEDO) ins Leben, welches junge Musiker aus Israel und mehreren arabischen Ländern zusammenführt, später gründete er Musikkindergärten in Ramallah (2004) und Berlin (2005). Zudem veröffentlichte er u. a. die Bücher „Klang ist Leben – Die Macht der Musik“ und „Die Musik – Mein Leben“. (Quelle: www.danielbarenboim.com)
Am 13. September, nach der Generalprobe mit der Staatskapelle Berlin, nahm sich Daniel Barenboim Zeit für ein Pressegespräch mit den rumänischen Journalisten. ADZ-Redakteurin Christine Chiriac war dabei.


Ihr Engagement für den Frieden im Nahen Osten erweckt weltweite Anerkennung. Wie betrachten Sie die Forderungen der Palästinenser nach einem unabhängigen Staat?

Ich bin nicht „für den Frieden“ engagiert – ich werde Ihre Frage beantworten, ohne eine direkte Antwort zu geben. Zunehmend habe ich das Gefühl, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht korrekt verstanden wird, weder von den Israelis, noch von den Palästinensern oder dem Rest der Welt. Meines Erachtens gibt es nicht einen, sondern zwei Konflikte im Nahen Osten: Einerseits den Konflikt zwischen Staaten, zwischen Israel und Syrien, zwischen Israel und dem Libanon. Das ist der Konflikttypus, den es im Laufe der Geschichte immer wieder gegeben hat, beispielsweise zwischen Frankreich und Deutschland, und wo es meistens um Grenzziehung oder Ressourcen geht. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist aber meiner Meinung nach ein Konflikt zweier Völker, die zutiefst überzeugt sind, dass sie das Recht haben, auf demselben kleinen Erdfleck zu leben.

Diesen eigentlich zwischenmenschlichen Konflikt kann man weder politisch, noch militärisch lösen. Es stimmt auch nicht, dass er eine Folge des Zweiten Weltkriegs sei, wie oftmals angenommen wird, denn die Idee eines israelischen Staates ist nicht erst 1945 entstanden. Offensichtlich war der Holocaust, die grausamste Episode in der gesamten Geschichte der Menschheit, eine traumatisierende Erfahrung, sodass die Reaktionen der Israelis vollkommen verständlich sind und respektiert werden müssen. Ich bin aber sicher, dass man die Menschen nicht durch Gewalt überzeugen kann. Die Arbeit, die getan werden muss, besteht nicht aus Deklarationen und Diskussionen auf politischem Niveau. Es geht darum, dass die betroffenen Menschen verstehen, wie sehr ihre Schicksale in der Region miteinander verbunden sind. Man sollte also zuerst geeignete Mittel finden, um den Diskurs des Anderen zu verstehen, damit man entweder nebeneinander oder miteinander lebt, und nicht gegeneinander. Erst danach kann man von Vereinten Nationen und von Verhandlungen sprechen, denn verhandeln kann man nur mit jemandem, den man akzeptiert. Ich bin der festen Überzeugung, dass noch sehr viel unentbehrliche Arbeit auf menschlicher Ebene getan werden muss.

Wie könnte man die jüngeren Generationen für die klassische Musik begeistern? Welche Rolle spielt für Sie das Dirigieren in diesem Kontext?
Die Frage ist nicht, was das Dirigieren bedeutet, sondern was die Musik bedeutet. Bis zum 18.-19. Jahrhundert wurde die Musik nur von einer Elite praktiziert. Nun ist sie für alle zugänglich geworden, aber das Problem besteht darin, dass die Menschen für diese Zugänglichkeit nicht wirklich erzogen werden. Mit anderen Worten, sie sind ihr nicht gewachsen, sie besitzen nicht das „Werkzeug“, um die Musik zu verstehen. In den Schulen – überall auf der Welt – ist die musikalische Erziehung mangelhaft bis abwesend. Viele Schwierigkeiten, die wir heute inklusive auf finanzieller Ebene mit Festivals, Konzertspielzeiten oder Institutionen haben, beruhen auch darauf. Meines Erachtens müssten die Kinder Musik lernen, wie sie Geografie, Biologie oder Literatur lernen. Nicht alle Menschen, die im Laufe ihres Lebens beispielsweise Literatur lernen, werden Schriftsteller, aber man betrachtet es als selbstverständlich. Wie auch bei der Frage des Konflikts muss man ein wenig weiter zurückdenken, bevor man diskutiert. Heutzutage diskutieren wir immer wieder nur Symptome von kulturellen, finanziellen, politischen Problemen, anstatt die Quellen zu beachten.

Worauf konzentrieren Sie sich als Dirigent am meisten?
Die Musik ist mein ganzes Leben, also kann meine Antwort nicht objektiv sein. Von der Musik kann man sehr vieles lernen – manches kann erklärt werden, jedoch geht die Musik darüber hinaus. Alle Fragen der musikalischen Artikulation oder Phrasierung bleiben trockene „Regeln“, solang man nicht versucht, das Wie, das Wozu, das Warum zu verstehen. In der Art und Weise, wie Musik heutzutage gemacht wird und wie darauf reagiert wird, sehe ich den gleichen Mangel an Verständnis für die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen untrennbaren musikalischen Elementen: Alles, was auf rhythmischer Ebene passiert, hat Auswirkungen auf die Melodie und auf die Harmonie. Es klingt vielleicht sehr prätentiös, aber meines Erachtens – und ich spreche jetzt rein subjektiv – ist Musik die Kunst, EINS zu werden; der eine Faktor, der Denken, Gefühl und Temperament vereinen kann, oder Kopf, Herz und Magen. Darauf achte ich jedes Mal, wenn ich spiele oder dirigiere.

Welches ist die bisherige Bilanz des israelisch-palästinensischen Orchesters? Die Initiative wird im Ausland viel gepriesen, aber gibt es seitens der Israelis oder der Palästinenser ablehnende Reaktionen?
Ziemlich oft, aber dann stets von beiden Seiten – also muss das, was ich mache, doch gut sein. Die Israelis fragen sich, wie man mit Leuten gemeinsam Musik machen kann, die auf Israel Raketen feuern. Die Palästinenser sagen, sie hätten unter der israelischen  Besatzung bereits enorm gelitten und wollen nichts mit Israelis zu tun haben. Als Edward Said und ich dieses Abenteuer begannen, wollten wir ein Forum schaffen, wo sich junge Leute treffen, die in der Musik ein gemeinsames Interesse haben. Wir haben eine einzige „politische“ Regel: Wir akzeptieren keine militärische Lösung des Konflikts.

Das West-Eastern Divan Orchestra ist nicht nur ein israelisch-palästinensisches Orchester, sondern ein israelisch-arabisches Orchester, ein Projekt, welches auch jenseits der musikalischen Ebene als vollkommener Erfolg betrachtet werden kann. Die jungen Musiker kommen quasi als Feinde an, sitzen aber nebeneinander im Orchester und spielen Musik mit derselben Phrasierung, derselben Tonstärke, demselben Tempo. Beim Abendessen sind sie automatisch keine Feinde mehr und können einen Dialog führen, eben weil sie bereits auf musikalischer Ebene kommuniziert haben. Somit wird die Neugier erweckt, zu versuchen den Anderen zu verstehen. 

Als wir 1999 begannen, hatten 60 Prozent der damals noch sehr jungen Teilnehmer noch nie in einem Orchester mitgewirkt und vielleicht 30 bis 40 Prozent hatten noch nie ein Orchester live spielen gehört. Acht Jahre später konnten wir schon die Orchester-Variationen von Schönberg spielen, eines der schwierigsten Werke im gesamten sinfonischen Repertoire. Wie das möglich war? Erstens ging es offensichtlich um sehr begabte junge Menschen; zweitens hatten sie Jahr für Jahr die Möglichkeit, von Musikern der Staatskapelle Berlin unterrichtet zu werden; drittens, dank der Unterstützung der andalusischen Regierung, konnte ich mehrmonatige Studienstipendien in Berlin vergeben, im Durchschnittswert von 150.000 Euro pro Jahr, was  sehr viel ist. Das Projekt funktioniert, weil es sich strategisch vornimmt, das höchstmögliche musikalische Niveau zu erreichen, ohne politischen Konsens zu forcieren.

Wie kam es zur Gründung des West-Eastern Divan Orchestra?
Die Legende sagt, dass Edward Said und ich noch lange vor der Gründung von diesem Orchester geträumt hätten, aber wie jede Legende ist auch diese unwahr. Man hatte mir ein israelbezogenes Projekt in Weimar vorgeschlagen – Weimar war 1999 europäische Kulturhauptstadt. Ich ließ mich mit dem Argument überzeugen, dass Weimar zugleich das Allerbeste und das Allerschlechteste der deutschen Geschichte symbolisiert: Es ist die Stadt Goethes, gleichzeitig liegt sie nur fünf Kilometer vom KZ Buchenwald entfernt. Ich dachte sofort an ein Projekt, welches Israel helfen würde, mit den Palästinensern „unter einem Dach zu leben“. So entstand die Idee des Workshops. Wir dachten an acht bis fünfzehn Jugendliche und waren sehr überrascht, als wir allein aus der arabischen Welt über 200 Bewerbungen erhielten!

Unterrichten Sie?
Sehr selten, denn Musikunterricht muss seine Regelmäßigkeit haben und dazu verfüge ich nicht über die notwendige Zeit. Nur ab und zu jemanden spielen zu hören oder dirigieren zu sehen und zwei-drei Tipps zu geben – das ist kein Unterricht.

Ihr Vater war Ihr einziger Klavierlehrer. Was war das Wichtigste, das Sie von Ihrem Vater gelernt haben?
DENKEN! Unheimlich viele Menschen üben stundenlang rein mechanisch. Mein Vater hat mir beigebracht, dass es keinen Sinn macht und sogar kontraproduktiv ist zu üben, wenn man sich nicht konzentriert.

Gibt es eine Haupteigenschaft, die Sie von einem jungen Musiker erwarten?
Ja, Neugier.

Sie haben in einem Ihrer Bücher geschrieben, „der Künstler muss nicht nur mit seinen Kollegen konkurrieren, sondern auch mit sich selbst.“ Wo hatten Sie mit sich selbst Schwierigkeiten?
Ich habe mit der Musik vor sehr langer Zeit begonnen – vor 61 Jahren spielte ich mein erstes Konzert. Im Laufe der Zeit habe ich mit mir selbst Frieden gemacht, denn ich bin überzeugt, dass ich eine sehr wichtige Fähigkeit habe: Jedes Mal wenn ich musiziere, lerne ich etwas daraus. Das hat mich mein ganzes Leben lang begleitet und gibt mir auch heute die Energie, weiter zu machen. Von jedem Konzert, von jeder Probe – auch von den nicht so gelungenen – lerne ich etwas. Viele Menschen fragen mich, wieso ich „so viel“ arbeite. Für mich ist es keine Arbeit: Wenn ich Musik mache, bekomme ich erst recht Energie.