Was lesen Kinder gerne, in einer Zeit, in der Lesen nicht mehr „in” ist? In der Bücher - als Unterhaltung oder Informationsquelle – mit dem Computer, dem Smartphone, dem Fernseher konkurrieren. In der die Eltern oft nicht mehr lesen, das heißt, auch von dieser Seite kaum Anregung kommt. Leseförderung ist eine gewaltige Herausforderung geworden. „Außerdem geht es, zumindest in Deutschland, längst nicht mehr nur darum”, erklärt Prof. Birgit Dankert, Bibliotheks- und Informationswissenschaftlerin sowie Rezensentin von Kinder- und Jugendliteratur, anlässlich der vom Bukarester Goethe-Institut am 16. Februar veranstalteten Debatte über Trends in der deutsch- und rumänischsprachigen Kinder- und Jugendliteratur.
Mit ihr diskutierten Ana Nicolau (Leiterin des Nemira Verlags), Lavinia Branişte (Kinderbuchautorin), Marilena Iovu (Literaturagentin) und Ruxandra Nazare von der Kreisbibliothek Kronstadt/Braşov. „2015/16 hat es die Kinderliteratur bei uns eiskalt erwischt”, gesteht Dankert mit Bezug auf die massiven Migrationsbewegungen nach Deutschland. Flucht, Asyl, Interkulturalität, Identitätsfindung in der Fremde – diese Themen fehlten völlig. Mittlerweile ist diese Verbindlichkeit, wie sie es nennt, sogar noch wichtiger als Leseförderung geworden - eine neue gesellschaftliche Herausforderung. Doch wie bringt man Kinder zum Lesen? „Früher hätte man gesagt, ‘wenn die Eltern auch lesen’. Heute schließt das etwa 80 Prozent der Kinder von vorneherein aus”, klärt Dankert auf. „Die PISA-Studie hat uns einen fürchterlichen Schrecken eingejagt mit der mangelnden Lesefähigkeit bei 15-Jährigen.”
Worauf setzen deutsche Verlage?
Als vordringlichste Aufgabe der Kinderliteratur galt es, das Thema Migration aufzugreifen: Interkulturalität als positives Ergebnis darzustellen, wie „Im Jahr des Affen” (Que Du Luu), oder Trost zu spenden wie im zweisprachigen Buch von Kirsten Boie, deutsch und arabisch, „Bestimmt wird alles gut” - es gibt viele Herangehensweisen. Auch Autoren mit Migrationshintergrund, die aus ihrer Kindheit erzählen (Mehrnousch Zaeri-Esfahani: „33 Bogen und ein Teehaus”) sind willkommen. Sie vermitteln zwischen den Kulturen und knüpfen dabei an ein authentisches Lebensgefühl an. Beispiele sind auch Julya Rabinowitsch „Dazwischen: Ich”, oder „Djadi” (Peter Härtling) und „Check-Point Europa” (Manfred Theisen), wo es jeweils um einen Jungen aus Nah-Ost geht. Neben Vielfalt und Interkulturalität zeichneten sich 2016 folgende Trends in deutschen Verlagen ab: In erster Linie gilt es, gegen die digitale Konkurrenz zu bestehen – durch Opulenz im Format und künstlerisch wertvolle Gestaltung. „Bücher wie ein Scheunentor!”, erklärt Birgit Dankert.
Die Sachinformation ist bereits wesentlich in die Online-Medien abgewandert. Geblieben sind Themen, in denen komplexe Zusammenhänge durch reiche Bebilderung vor Augen geführt werden können: das Ökosystem des Ozeans, Tier- und Naturschutz. Beispiele sind „Martha. Die Geschichte der letzten Wandertaube (Atak)“, „100 % Abenteuer: Ozeane” (David Hettich) oder „Erforsche das Meer”(Anke M. Leitzgen, Anna Bockelmann). Im Vordergrund steht dabei eine ganzheitliche Darstellung, die Aktivierung des Lesers und eine verantwortungsvolle Didaktik. Erstmals tauchen auch Tabubrüche in der Kinderliteratur auf, sowohl inhaltlich, etwa zu Transgenderproblemen („Nenn mich Kai”, Sarah Barczyk ), als auch in der Ausgestaltung, wie „Das doppelte Lottchen” von Erich Kästner und Isabel Kreitz als Graphic Novel, was bei Klassikern bisher unmöglich war. Gefragt seitens der Verlage sind nach wie vor Themen zur jugendlichen Identitätsfindung: Entwicklungspsychologie, Lebensgefühl, Zeitgeist, Familie, Außenseiter, Milieustudien.
Was wird gelesen?
Im Leserverhalten sind folgende Prioritäten zu erkennen: In Deutschland erfreuen sich Bücher im Kleinstformat (z.B. „Pixi”-Serie) besonderer Beliebtheit, die sich mit der Lebenssituation von Kindern befassen. Außerdem sind die Sparten Krimi, Fantasy und Identitätsfindung gefragt. Auffallend ist, dass Jungen - und später Männer - ein engeres Interessensspektrum zeigen als Mädchen, die zu allen Themen lesen. Dankert erklärt dies damit, dass Buben gehänselt werden, wenn sie sich für weibliche Themen interessieren. Was die Herausforderung zum Lesen betrifft, so verschmelzen in Deutschland zunehmend öffentliche Leseförderung – Wettbewerbe, Preisausschreiben und Festivals - und Verlagswerbung. Verlage bieten auf ihren Internetseiten Wettbewerbe an, gehen in Schulen oder führen eigene Aktionen durch, die auf den ersten Blick nicht von der öffentlichen Leseförderung unterschieden werden können, erklärt Dankert.
In Rumänien spielt die Geschlechterrolle bei kleinen Kindern eine große Rolle, beobachtet Ruxandra Nazare: „Mädchen lesen gerne über Feen und Prinzessinnen, Jungen über Drachen und Roboter.” Später verschmelzen jedoch die Interessen: Mädchen lesen nahezu alles, Jungen bleiben auch hierzulande auf „ihre” Themen fixiert. Zu beobachten sei hingegen, dass Eltern auch für größere Kinder meist geschlechtsspezifische Bücher verlangen. An Themen sind in Rumänien vor allem Abenteuer, Erzählungen und Fantasy gefragt. „Das Element des Phantastischen hat im letzten Jahr stark zugenommen”, erklärt Marilena Iovu. „Hexen, Magie, verzauberte Tiere – gelegentlich auch mit erzieherischem Effekt, etwa die Eule, die Angst im Dunkeln hat.” Im großen und ganzen dominieren „brave Themen”, so Iovu. Wenig akzeptiert werden Tabuthemen wie Scheidung oder Transgenderfragen. Meist sind es die Eltern, die so etwas ablehnen, erklärt sie.Wenig verlangt werden zudem Bücher zu Wissenschaft und Sport. Ökologie ist noch gar kein Thema bei rumänischen Verlagen. Was ebenso völlig fehlt, sind Themen zu kulturellen Unterschieden, bemerkt Nazare kritisch: „In Anbetracht dessen, dass viele rumänische Eltern im Ausland arbeiten, ein Manko.” Marketing für Kinderbücher ist noch ein schwieriges Thema in Rumänien, darin sind sich die Expertinnen einig. Iova empfiehlt, mehr auf Blogs zu setzen, „weil Kinder an Blogs glauben”. Lavinia Branişte nennt als mögliche Strategien interaktive Lesungen oder Buchpräsentationen mit Schauspielern, die auf Kinder „wie eine kleine Party wirken”.
Im Überblick: Buchmärkte hier und dort
Dankert nennt ein paar Zahlen zur Situation in Deutschland: 2015 gab es insgesamt 76.547 Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, davon 9081 Kinder- und Jugendbücher, also 11,9 Prozent. Der Gesamtumsatz des deutschen Buchmarktes belief sich 2015 auf 9,19 Milliarden Euro, davon stammen 15,8 Prozent aus Kinder- und Jugendliteratur. Für den rumänischen Buchmarkt gibt es keine öffentliche Statistik, bedauert Ana Nicolau. Das geschätzte Volumen der pro Jahr veröffentlichten Titel liegt um die 15.000. „Immerhin mehr als in der Schweiz, den Niederlanden, Finnland oder Dänemark”, so die Verlagsdirektorin. Der jährliche Gesamtumsatz wird auf 60 Millionen Euro geschätzt. Der durchschnittliche Buchpreis liegt in Rumänien bei sieben Euro – dies muss man in Beziehung setzen mit 467 Euro Durchschnittsgehalt.
Seit 2004 wird in Rumänien ein starker Anstieg der Online-Verkäufe registriert, bemerkt Nicolau. Dies korreliert mit der Schließung zahlreicher Buchhandlungen: 2016 gibt es bereits ganze Landkreise ohne eine einzige Buchhandlung. Interessant ist, dass der Kinderbuchsektor laut Nicolau den dynamischsten des Buchmarkts seit 2015 darstellt. Mittlerweile gibt es 25 bis 30 bedeutende Herausgeber von Kinder- und Jugendliteratur. Spezialisiert darauf sind Verlage wie Cartea Copiilor, Didactica Publishing House, Gama und Univers Enciclopedic. Imprints für Kinderbücher halten die Verlage Art (Imprint: Arthur), Corint (Corint Junior), Litera (Litera Mica), Trei (Panda) und Nemira (Nemi). Traditionelle Kinderbuchherausgeber erweitern derzeit vor allem den Bilderbuchsektor, aber auch Bücher zu Aktivitäten treten in den Vordergrund. Zudem sind Luxusausgaben von Kinderbüchern auf dem Vormarsch. Während bis 2015 fast ausschließlich ausländische Kinderbücher übersetzt wurden, wird zunehmend auch in rumänische Literatur investiert. Zum Abschluss der Veranstaltung wurde eine umfassende Bücherspende durch Birgit Dankert bekanntgegeben. 650 deutschsprachige Kinder- und Jugendbücher erhielten rumänische Bibliotheken mit deutschsprachiger Kinderbuchabteilung in Bukarest, Klausenburg/Cluj-Napoca und Jassy/Iaşi, sowie die deutschen Kulturzentren in Kronstadt/Braşov und Hermannstadt/Sibiu. 50 Titel gingen auch an das Bukarester Goethe-Institut.