In den beiden Kretzulescu-Sälen des Bukarester Nationalen Kunstmuseums sind derzeit Werke russischer Maler vom 16. bis 20. Jahrhundert zu bewundern. Die Ausstellung aus eigenen Beständen des Nationalmuseums trägt den Titel „Zwischen Ost und West“, der auch in der Hängung der Exponate sichtbar gemacht ist. Im ersten der beiden Säle scheint es so, als befände man sich in einer Ausstellung mit östlicher Ikonenkunst, während man sich im zweiten Saal in einer westlichen Kunstgalerie mit Werken des Realismus, des Impressionismus oder des Expressionismus wähnt.
Diese Spannung zwischen Ost und West, dieser Weg vom byzantinischen Orient zum säkularen Okzident spiegelt sich auch in der Geschichte der russischen Malerei. Waren die ersten russischen Malerschulen in Kiew, Pskow und Nowgorod noch ganz der byzantinischen Tradition der Ikonenmalerei verhaftet, so beschritten die Maler um Andrej Rubljow im Moskauer Dreifaltigkeitskloster den Weg zu eigenständigem Ausdruck und selbst entwickelter Formensprache, der in der Stroganow-Schule noch um westliche Einflüsse erweitert wurde.
Nach dem Schisma in der russischen Kirche und mit der Westorientierung des modernen Russland unter Peter dem Großen zog sich sie alte östliche Ikonenkunst in die traditionellen Ikonenmalerdörfer Palech und Mstjora zurück, die neben Cholui und Fedoskino zu den Zentren russischer Lackmalerei zählen.
An anderen Orten hingegen wurden die byzantinisch geprägten Ikonen teilweise zerstört, teilweise im westlichen Stil neu gemalt oder auch mit einem aus Silber getriebenen Beschlag, dem so genannten Oklad, bedeckt. Diese Ikoneneinfassung aus Silber wurde nicht selten zusätzlich vergoldet oder mit Perlen und Halbedelsteinen besetzt. Frei blieben bei diesen Ikonenbeschlägen meist nur Gesicht und Hände der dargestellten Figuren, sodass allein diese im rosigen Fleischton, dem so genannten Inkarnat, der auf Holz gemalten Farben erschienen, während die Gestalten und ihre Gewänder von der kunstvoll ziselierten Silberplatte überdeckt wurden.
Ein schönes Beispiel für eine solche Silbertreibarbeit ist in der Bukarester Ausstellung die Ikone mit dem russischen Fürsten Alexander Newskij zwischen dem Apostel Paulus und dem Heiligen Alexej: von den mit Öl auf Holz gemalten Gestalten sieht man nur die Gesichter und die Hände, während ihre Kleidung (Mantel, Umhang, Kettenhemd) und ihre Attribute (Bibel, Schwert, Helm, Speer, Banner) reliefartig aus der silbernen Hülle hervormodelliert sind. Ein weiteres Beispiel, ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert, ist die Ikone der Madonna mit dem Jesuskind, auf der nur Gesichter und Hände der Gottesmutter, ihres Sohnes und der sie umgebenden Heiligen farblich in Erscheinung treten, während Engel, Himmelsleiter und Evangelistensymbole aus Silber gearbeitet sind.
Besonders beeindruckend sind drei großformatige mit Tempera auf Holz gemalte Ikonen aus Nowgorod, die Johannes den Täufer und die beiden Erzengel Michael und Gabriel darstellen. Im 16. Jahrhundert gemalt, strahlen sie, als seien ihre Farben erst vor Kurzem auf die hölzernen Tafeln, die als Altarflügel oder als Bestandteile einer Ikonostase gedient haben mochten, aufgetragen worden. Interessant sind ferner Ikonen, die als Miniaturikonostasen fungieren. Eines dieser kleinformatigen Holzgemälde verherrlicht die Jungfrau Maria mit nicht weniger als 65 Miniaturbildern der wundertätigen Gottesmutter.
Daneben finden sich auch mehrere handliche Reisetriptycha mit jeweils drei Temperabildern auf Holz in Bronzekassetten im Oktavformat sowie zwei fünfzehnteilige trag- und faltbare Ikonostasen, eine im Quart- und eine im Folioformat. Eine Ikone aus dem 18. Jahrhundert stellt den Heiligen Maxim dar, einen griechischen Mönch vom Berg Athos, der als Gelehrter, Schriftsteller und Übersetzer im 16. Jahrhundert unter anderem auch in Russland wirkte. Am Tisch sitzend, ein Buch vor sich, Tintenfass und Federmesser neben sich, zieht gleichwohl sein riesiger roter runder Bart, der einem Brustlatz aus Fuchsfell gleicht, den Blick des Betrachters auf sich.
Im zweiten, kleineren Saal der Ausstellung fühlt man sich dann plötzlich in eine gänzlich andere Welt versetzt. Porträts, die von niederländischen Malern stammen könnten, italienisch anmutende Seestücke, an den französischen und deutschen Impressionismus gemahnende Landschaften machen den großen Schritt deutlich, den die russische Malerei auf ihrem Weg gen Westen im 19. Jahrhundert vollzogen hat. Porträts von Tropinin, Darienko, Serow, Lemoch, Kusnezow und Makowskij zeigen die russische Porträtkunst in voller Blüte, eine Landschaft von Repin, eine Meerszene von Ajwasowskij geben Zeugnis vom Können der russischen Landschafts- und Marinemaler, und überall findet man, bei aller Eigenständigkeit der russischen Künstler, Bezüge zu den großen Strömungen der europäischen Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts.
Neben Porträts und Naturbildern, neben Einblicken in das Leben der Menschen aus dem Volke, von Soldaten, Heiducken oder Bettlern, wirft die russische Malerei auch ein Licht auf die ethnische Vielfalt im Russischen Zarenreich. So zeigen mehrere ausgestellte Bilder, nicht ohne Anklänge an Zigeunerromantik und exotistischen Orientalismus, das Leben der Kasachen, sei es einen Laute spielenden Reiter in der Landschaft, seien es reich geschmückte Frauen zu Hause.
Das Gemälde „Herbst an der Wolga“ des russischen Impressionisten Konstantin Gorbatow erinnert mit den stilisierten Birken, den russischen Zwiebeltürmen und der märchenhaften Landschaft an Bilder des frühen Kandinskij, und das Gemälde „Russischer Tanz“ von Filipp Andrejewitsch Maljawin evoziert mit seiner expressionistischen Farbgebung und seiner bildnerischen Komposition Werke von Marc Chagall und Alexej von Jawlenskij.
Lehrreiche Informationstafeln geben Auskunft über die Entwicklung der russischen Malerei, über russische Künstlervereinigungen wie etwa die Peredwischniki (Genossenschaft der künstlerischen Wanderausstellungen) und über berühmte Mäzenaten wie etwa den berühmten Kunstsammler Pawel Tretjakow, nach dem das gleichnamige Moskauer Kunstmuseum benannt ist. Die sehenswerte Bukarester Ausstellung kann noch bis zum 28. April dieses Jahres in den beiden Kretzulescu-Sälen des Nationalen Kunstmuseum besichtigt werden.