Als Opfer in einer Täterwelt

Studie liefert verblüffende Erklärung für Verhaltensprofile rumänischer Arbeitnehmer

Wie tickt der rumänische Arbeitnehmer? Das fragen sich sicher nicht nur Arbeitgeber, Headhunter oder Soziologen, sondern alle, die sich mit Rumänien als Wirtschaftsstandort auf die eine oder andere Art auseinandersetzen. Warum gibt es so wenig Eigeninitiative an der Basis der Hierarchiepyramide? Sind Misstrauen untereinander und Pessimismus über die Perspektiven im eigenen Land in diesem Ausmaß gerechtfertigt? Wirken tatsächlich, wie oft entschuldigend ins Feld geführt, noch unverheilte Wunden des kommunistischen Regimes, die bis heute – gut zwanzig Jahre später – die Menschen in ihrer Initiative lähmen? Darunter viele Junge, die sich kaum noch an diese Zeiten erinnern? Eine Studie von Result Development, vorgestellt von Dorin Bodea in dem Buch „Valorile Angajaţilor Români“, die Werte der rumänischen Angestellten, versucht, ebendiese auf der Basis einer Umfrage zu analysieren. Und kommt zu einem erstaunlichen Schluss: Ein dramatischer Riss klafft in unserer Gesellschaft!

Die Umfrageergebnisse machen es deutlich: Ein tiefer Graben tut sich auf zwischen den Werten, die der Proband sich selbst in hohem Maße zuschreibt, dem anderen jedoch nicht zugesteht! So jedenfalls die Essenz der Studie, die der Autor ihm Rahmen seiner Buchpräsentation einer Expertenrunde aus Soziologen, Wirtschaftsfachleuten und Unternehmern zur Diskussion stellt. Es sei diese Kluft, die erfolgreiche Gemeinschaftsprojekte in Beruf und Gesellschaft zwangsläufig schleichend untergräbt. Doch ist die Erklärung wirklich so einfach? Was offenbart die Umfrage noch? Einen stark ausgeprägten Wunsch nach sozialer Nähe, der jedoch nur in Bezug auf die eigene Person gilt, denn Teamwork oder Gemeinschaftsprojekte rangieren ganz unten auf der Werteliste. Marginal auch der Wunsch nach einer interessanten Tätigkeit oder gar nach Erfüllung im Beruf. Was allgemein im Vordergrund steht, sind Geld, Macht und Ansehen. Sie gehören zu den zentralen Werten, die die Gesellschaft der Arbeitnehmer vereint. Ein alarmierendes Ergebnis, so die Experten.

Aus meiner Sicht jedoch eher ein Zeichen dafür, dass ein klarer Leitfaden fehlt, der (legitime) individuelle Bedürfnisse mit denen der Arbeitgeberwelt zu einer Win-Win-Strategie vereint: Zeig mir wie ich sein soll, damit die Gesellschaft/Firma auch meine Bedürfnisse erfüllt! Muss es einen wundern, dass in einem Land, in dem man von einem Gehalt oft nicht leben kann, Geld als Wert an erster Stelle steht? Wem im übertragenen Sinne der Magen knurrt, denkt an Essen und nichts anderes. Noch kein Altruist ist vom Himmel gefallen. Hierfür braucht es einen Bewusstwerdungsprozess, der mit dem Klischee des begrenzten Kuchens, an dem man sich schnell und rücksichtslos bedienen muss, aufräumt. Von den Arbeitgebern erwartete Werte müssen außerdem im Alltag erfahrbar gemacht werden – nur dann können sie zu erstrebenswerten Zielen avancieren, etwa positive Synergieeffekte, Freude an sinnvoller Tätigkeit, sachlich-konstruktives Feedback.
 
Randbedingungen der Studie

Befragt wurden 1481 Arbeitnehmer aus dem städtischen Umfeld (Walachei, Siebenbürgen, Moldau), davon 97 Prozent zwischen 20 und 50 Jahren und 92 Prozent mit höheren Studien, geringfügig mehr Frauen als Männer. Die Fragebögen bezogen sich auf 40 Werte, die sich in fünf Gruppen zusammenfassen lassen:

I. Werte in Bezug auf die auszuführende Arbeit: hierunter fallen z. B. Ergebnisorientiertheit, Kompetenz, Effizienz, Beharrlichkeit, etc.
II. Werte in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen: also Teamwork, Freundschaft, Empathie, Vertrauenswürdigkeit, etc.
III. Entwicklungs- und Fortschrittsorientierte Werte: Innovation, Kreativität, Initiative, Herausforderung, Unabhängigkeit, etc.
IV. Ego-zentrierte Werte: Geld, Ruhm, Macht, Anerkennung, etc.
V. Soziale und moralische Werte: Integrität, Freiheit, Ethik, Ehrlichkeit, Altruismus, etc.

Die Probanden wurden angehalten, diese Werte in Bezug auf sich selbst mit Noten von 1 bis 7 zu bewerten. Dasselbe sollten sie in Bezug auf andere tun. Was die Studie leider nicht verrät, sind die Branchen, in denen die Probanden arbeiten. Handelt es sich um finanz- und wirtschaftsorientierte Sparten, oder sind auch Berufe mit Berufungspotenzial (z. B. Lehr- und Heilberufe, kreative Berufe) inbegriffen? Auch wäre für eine Interpretation interessant zu wissen, in welcher Gehaltsklasse die Teilnehmer der Umfrage rangieren. Drängen sich unbefriedigte Grundbedürfnisse zwangsweise in den Vordergrund oder reflektiert das Ergebnis tatsächlich materielle Gier und soziale Insensibilität?

Ergebnisse

Interessant ist vor allem die eingangs erwähnte Diskrepanz zwischen den sich selbst und anderen zugeschriebenen Werten. 88 Prozent der Probanden halten sich für vertrauenswürdig (Wertegruppe II), während nur 28 Prozent diese Eigenschaft auch anderen zugestehen. Ähnlich verhält es sich mit Verbesserungs- und Veränderungsfähigkeit (Gruppe III) sowie der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen (Gruppe II). Paradigma: Ich bin vertrauenswürdig, integer, progressiv, flexibel und beziehungsfähig, doch umgeben von einer Masse unehrlicher, festgefahrener, menschlich minderwertiger Leute. In Bezug auf die Wichtigkeit der fünf Wertegruppen standen deutlich ego-zentrierte Werte im Vordergrund, gefolgt von Werten in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen, Fortschritt und Entwicklung, soziale und moralische Werte und als Schlusslicht (!) die Arbeit selbst. Mit anderen Worten: Der Beruf ist Mittel zum Erwerb von Geld und Status, nicht jedoch Aufgabe oder Berufung. Auch hier wäre eine Angabe der Tätigkeitsfelder der Probanden mehr als aufschlussreich gewesen.

In der Sparte „Einschätzung der anderen“ rangieren folgende Werte am höchsten: auf Platz 1 finanzieller Gewinn, Platz 2: Macht und Autorität, Platz 3 belegt Anerkennung, Platz 4 Reputation oder Ruhm. Schlusslicht bildet Empathie (Platz 40!), nach oben hin gefolgt von Ehrlichkeit/Korrektheit (Platz 39), Altruismus/Großzügigkeit (Platz 38) und herausragender Leistung (Platz 36). Paradigma: Mein Umfeld am Arbeitsplatz ist skrupellos, ich-bezogen und leistungsschwach.
Die stärkste Übereinstimmung in Bezug auf Selbsteinschätzung und Einschätzung der anderen hingegen liegt in den Punkten, die der Autor als zentrale Werte bezeichnet (Reihung ohne Priorität): finanzieller Gewinn, Macht, Autorität, Anerkennung, Ruhm, Aufstieg, Freiheit, Sicherheit, Ruhe, Wettbewerb/Konkurrenz.

Expertendiskussion

Der Soziologe Vintila Mihăilescu bezeichnet die Lage als ernst – bedeute doch das Ergebnis, dass sich die Mehrzahl der Probanden als zivilisierte Menschen betrachten, die in einer unzivilisierten Gesellschaft leben – also als Opfer in einer Täterwelt. Wie sollen so gemeinsame Initiativen entstehen? Bezeichnend sei, dass der Wert „zwischenmenschliche Beziehungen“ zwar einen der vordersten Plätze belegt, Teamwork und Projektarbeit jedoch am unteren Ende der Skala rangieren. Das Bedürfnis nach Freundschaft und Wohlfühlklima ist groß, doch nur in Bezug auf die eigene Person, nicht auf die Arbeit. Einen hohen Stellenwert belegt Anerkennung durch den Chef. Eine Einstellung, die der Soziologe ironisch so beschreibt „die Arbeit ist schwer, das Geld zu wenig, also gib mir wenigstens ein Küsschen“. Vor allem Arbeitgebern aus dem Ausland, wo sich Leistung im Gehalt und nicht in seelischen Streicheleinheiten widerspiegelt, ist diese rumänische Einstellung fremd. Die Abhängigkeit von Lob und dem Bedürfnis, sich am Arbeitsplatz „gut zu fühlen“ sieht Mihăilescu als inneren Konflikt zu den ebenfalls stark ausgeprägten Wünschen nach „Auto, Haus und Urlaub vom Feinsten“. Viele Rumänen nähmen schlechte Gehälter hin, solange die Streicheleinheiten stimmen, und vice versa.

Dragoş Anastasiu, Präsident der Eurolines Gruppe, der jahrelang im Ausland Erfahrung sammelte, bevor er mit rumänischen Arbeitnehmern konfrontiert wurde, bestätigt aus eigener Erfahrung: Der Angestellte hierzulande sei wesentlich stärker auf individuellen Gewinn fokussiert, nicht darauf, was er am Arbeitsplatz Interessantes tun oder bewirken könne. Zudem mangele es an Eigeninitiative, auch in Kleinigkeiten: Keiner wechselt die ausgebrannte Glühbirne, solange nicht jemand ausdrücklich für zuständig erklärt wird. Ein Problempunkt sei auch die Unfähigkeit, Feedback zu erteilen oder einzustecken. „Es ist wie im Restaurant: Zu lange heuchelt man Zufriedenheit, bis das Maß deutlich überschritten ist und man dem Kellner die Kritik grob ins Gesicht schleudert!“ Eurolines veranstaltet daher interne Kurse zum konstruktiven Umgang mit Kritik. Ein für Rumänien typischer, extrem ausgeprägter Punkt sei das Geschwätz. Obwohl Geheimhaltung des Gehalts meist vertraglich vereinbart sei, wisse jeder im Betrieb ganz genau, was der andere verdient. Das tatsächliche Verhalten in Bezug auf Vertrauenswürdigkeit steht also in krassem Gegensatz zur Selbsteinschätzung!

Anastasiu empfiehlt, die Studie auch ausländischen Arbeitgebern zugänglich zu machen – damit man weiß, wo man mit innerbetrieblicher Schulung ansetzen müsse. In Rumänien plant der Unternehmer, das Übel durch Vorträge an Gymnasien in zehn rumänischen Städten an der Wurzel zu packen, „denn in der Uni ist es bereits zu spät“.   
Der Personaldirektor von Microsoft Romania, Vlad Bog, sieht auch in fehlender Selbsterkenntnis einen Mangel: „Wir wissen nicht, wie wir sind – also können wir kein positives Potenzial erkennen.“ Als Beispiel führt er die angebliche rumänische Faulheit an. Tatsächlich seien Faulheit und Effizienz jedoch verwandte Strategien, „nämlich den Weg von A nach B möglichst kurz zu gestalten“. Ähnlich verhielte es sich mit der rumänischen Impulsivität. Dass man diese nicht nur negativ sehen muss, zeigt die Bemerkung eines Amerikaners: „Ich schätze eure emotionelle Transparenz – ihr macht uns wenigstens nichts vor!“ Neben der Kenntnis typischer Eigenschaften sei auch wichtig zu wissen, „wieso wir so sind“, betont Bog. „Wir schätzen die Leistung der Deutschen, die Sauberkeit der Schweizer – warum zeigen wir zu Hause ein anderes Verhalten?“

Adrian Vasilescu, Berater des BNR-Gouverneurs Mugur Isărescu, führt geringe Identifikation mit der Firma (oder dem Land) als Ursache für mangelndes Verantwortungsgefühl an. Als Gegenbeispiel erzählt er eine Anekdote aus Japan: Eine rumänische Angestellte in Tokio entdeckte in ihrem Bad einen Wasserschaden. Die Sanitärfirma versprach, um 11 Uhr ein Installateurteam zu schicken, das fünf vor 11 telefonisch eine zweiminütige (!) Verspätung ankündigte. Bei der Reparatur arbeitete das Team unüberwacht, und als die Kundin nach der Rechnung fragte, hieß es, nichts müsse sie bezahlen, denn das Leck sei die Folge eines Fehlers bei der letzten Wartung!

Lösungsphilosophien

In den USA stehen Kurse über Verantwortung, Umgang mit Kritik, konstruktive Kommunikation, Teambuilding und gruppenorientierte Arbeitstechniken, ja sogar zur Steigerung des individuellen Selbstwertgefühls, in vielen Unternehmen an der Tagesordnung. In der Ausbildung geht es nicht nur um Erwerb von Fachwissen, sondern um Selbsterkenntnis und die Kunst, die eigenen Bedürfnisse in Einklang mit denen des Arbeitgebers zu bringen. Dass auch in Rumänien langsam solche Initiativen entstehen, darauf macht Dragoş Anastasiu aufmerksam und erwähnt Zburd (www.zburd.ro), ein Pilotprogramm in rumänischen Schulen.

Adrian Vasilescu spricht von der Notwendigkeit der Zusammenführung des „Rumäniens an der Front“ und „im Wartesaal“, während Mihăilescu die Überwindung der sprichwörtlichen Einstellung „wenn meine Ziege stirbt, soll auch die des Nachbarn verrecken“ ans Herz legt. Wie die hehren Ziele der hohen Herren nun auf den Schreibtisch des kleinen Angestellten herabsickern sollen, damit sich dieser den Anforderungen anpassen kann, wurde allerdings noch nicht verraten. Vielleicht könnte man auch mal darüber nachdenken, welche Werte – außer Geld – die Wirtschaftswelt ihrerseits den Arbeitnehmern vorlebt?