Armenfriedhof, Block B, Reihe 14

Suche nach dem Grab des Vaters wird für Manfred Kögler zur stacheligen Angelegenheit

Manfred Kögler erzählt. Foto: Dr. Claudiu Călin

Trotz Kratzer strahlt Manfred Kögler, als er das Metallkreuz mit dem eingeschweißten Hochzeitsbild seiner Eltern gefunden hat – ein Blumenstrauß und die Gebete bleiben im Dickicht zurück, durch das die Besucher gebückt wieder in die Stadt zu gelangen versuchen. Foto: Astrid Weisz

Unglaublich dicht und undurchdringbar; das ist bestimmt der beste Platz, um eine Leiche mitten in der Stadt verschwinden zu lassen. Nicht einmal im Jagdwald ist es so. – Das ist nur ein Gedanke, der mir durch den Kopf ging, als sich Manfred Kögler vor mir mit einer kleinen Handsäge den Weg durch Brombeeren, Akazien und sonstiges Dornengestrüpp bahnte, und das am Temeswarer Armenfriedhof. Dass es hier Gräber geben soll, finde ich unfassbar. Der Platz an der Lippaer Straße ist zwar als solcher umzäunt, aber nichts lässt vermuten, dass es in diesem regelrechten Urwald Gruppen- und Armengräber, geschweige denn eine Kapelle geben soll. Die Ranken zerren an Hosenbeinen und Ärmeln, Dornen ritzen die Haut blutig, Holz bricht bei jedem vorsichtigen Schritt krachend, während Vogelgezwitscher und das Dickicht den Stadtlärm und die brütende Hitze dämmen. Es ist das dritte Mal, dass Manfred Kögler diese Strapazen auf sich nimmt, um das Grab seines Vaters aufzusuchen, schreibt ADZ-Redakteurin Astrid Weisz, die auch die folgenden Fragen stellt.

Herr Kögler, wie haben Sie erfahren, dass Ihr Vater hier begraben liegt?

Mein Vater war an der Ostfront und war Kriegsgefangener. Und da er erkrankt ist, wurde er auf einem Kriegsgefangenentransport nach Hause geschickt. Er ist aber im Zug gestorben und wurde dann hier in Temeswar begraben. Das war nach dem Krieg. Wir wussten, dass er in Rumänien begraben ist, weil ein  Kamerad, der überlebt hat, meiner Mutter den Trauring mitgebracht und davon berichtet hat, dass er in Siebenbürgen begraben ist. Damals war der eiserne Vorhang und es gab keine Möglichkeit, dass man herkommt, also war Temeswar für mich nur ein Ort. Dann war ich lange Zeit in Asien und bin erst vor zehn Jahren zurückgekommen und habe mich dann interessiert, wo dieses Temeswar liegt. Und da habe ich dann über die Kriegsgräberfürsorge präzise Angaben bekommen. Wahrscheinlich wurde die Soldatenmarke registriert und ich wusste, dass er hier in diesem Armenfriedhof begraben ist: Block B, Reihe 14. Und das war alles. Mithilfe des Deutschen Konsulats und des Diözesanarchivars Dr. Claudiu C²lin habe ich mich Jahr für Jahr herangetastet. Zunächst waren wir ziemlich weit weg, aber dann haben wir verstanden, dass es da in der Nähe von dieser Kapelle ist, wohin wir uns heute vorgearbeitet haben.

Wann waren Sie das erste Mal in Temeswar?

Das war 2014 und da haben wir total das Ziel verfehlt, denn wir waren halt auf dem offiziellen Friedhof, dort wurde uns auch gesagt, wo die Soldaten begraben sind, aber das hat alles nicht zusammengepasst und ich hatte auch zu wenig Zeit, so dass wir weitergefahren sind. Es hat noch vier Jahre gedauert und das erste Mal, wo ich im Friedhof drin war, das war 2019. 2020 war ich dann hier und da sind wir am jüdischen Friedhof am Zaun entlang und von dort rein. Das war aber dann auch so viel Gestrüpp, dass ich nicht bis zu dem Punkt gekommen bin, wo wir heute waren. Und das erste Mal eigentlich, wo ich an diesem Kreuz war, das irgendein Referenzpunkt ist, war letztes Jahr im Mai. Ich kam letztes Jahr im November noch mal an denselben Platz und da war zu meiner Freude dieses plastifizierte Foto von meinen Eltern noch intakt dort.

Wieso war das so eine Herausforderung, die Grabstätte Ihres Vaters zu finden?

2020 sind wir hier am Haupteingang rein und der Bedienstete, der uns aufgesperrt hat, der war ganz sicher, dass alle Soldaten hier vorne begraben sind. Ich hatte eher den Eindruck, er wollte die Sache so schnell wie möglich erledigen. Also sind wir zum Hochspannungsmasten, da ist auch noch ein Denkmal, und haben dort die Blumen und auch ein Foto wieder hingelegt. Später habe ich über das Konsulat ein Schema bekommen, auf dem die Reihen aufgezählt sind und  wo es auch heißt, dass es vom Haupteingang bis zum Grab ungefähr 100 Meter sind, also hinter der Kapelle. Und so habe ich mich langsam vorgetastet. Und als wir letztes Jahr im Mai das Kreuz dort gefunden haben, habe ich gedacht, das könnte so ein Punkt sein, den man als Referenzpunkt nimmt und dort legen wir die Blumen nieder und da lasse ich auch das Bild.

Wieso ist es denn so schwer, dieses Kreuz wiederzufinden?

Naja, das Gestrüpp war ja beachtlich und man muss sich wirklich durchkämpfen, das kann man sich gar nicht vorstellen. Nein, das ist einfach Urwald. Ein Referenzpunkt ist ja die Kapelle, der ich auch nicht zu nahe kommen möchte, weil die auch von einem Moment zum anderen einstürzen kann, die aber auch nicht zu sehen ist, weil sie ja total verwachsen ist.

Wer hat Sie auf der Suche begleitet?

Es sind zwei Freunde aus Deutschland, mit denen ich zusammen eine interessante Erfahrung mache, einen kulturellen Dialog versuchen wir. Und dann der Dr. C²lin, der mir immer geholfen hat, da hinzukommen. Und ich bin sehr froh, dass die mich begleitet haben heute, obwohl es eine Strapaze war.

Ihr Vater ist quasi kurz nach dem Krieg gestorben, Sie sind mittlerweile 80 Jahre alt. Was veranlasst Sie, den Weg aus Deutschland auf sich zu nehmen, um durch diesen unbegehbaren Friedhof zum Grab Ihres Vaters zu kommen?

Es ist sicher auch Trauer, aber nach 70 Jahren ist sie in den Hintergrund gerückt. Aber ich bin meinem Vater sehr dankbar. Sein Tod hat für mein Leben einen sehr wichtigen Ausschlag gegeben. Ich bin in der Tschechoslowakei geboren und habe schon als kleines Kind sowohl den Vater als auch meine Heimat verloren. Dieser Verlust hat mich mir die Frage stellen lassen: „Was willst du aus deinem Leben machen?“ Da eben unsere Heimat und auch die Familie von einem Tag auf den anderen zerstört wurde, wollte ich etwas mit meinem Leben machen, das Dauer hat. Und ich habe dann, als ich 21-22 Jahre alt war, eine katholische Erneuerungsbewegung kennengelernt, die Fokolar-Bewegung, und habe mich entschlossen, da mitzumachen. Denn da kann ich etwas für die Gesellschaft machen, was bleibt und was nicht durch einen Unfall oder durch Krieg zerstört werden kann. Und da war der Tod meines Vaters maßgeblich mit ein Grund und deswegen zieht es mich immer wieder her, um ihn auch für das Geschenk, das er mir für mein Leben gemacht hat, zu danken. Ich habe nicht geheiratet, habe keine Kinder. Ich habe in einer Bank in Österreich mit Datenverarbeitung gearbeitet und dann kam 1981 die Anfrage von der Bewegung, ob ich nicht nach Asien gehen würde, nach Hongkong. Dort habe ich mich ausschließlich um die Entwicklung der Bewegung gekümmert.

Hat Ihr Vater andere Nachkommen oder sind Sie der Einzige, der dieses Grab aufsucht?

Ich habe eine Schwester. Meine Mutter wollte nicht mehr heiraten, weil sie die Befürchtung hatte, dass ein neuer Mann oder der Stiefvater nicht die nötige Liebe zu den Kindern hat. Meine Schwester hat kein Interesse mehr an der Geschichte.

Wissen Sie den Tag, an dem Ihr Vater gestorben ist oder wann er beigesetzt wurde?

Nein, den wissen wir nicht. Es hieß: Oktober 1945. Der Krieg war ja im Mai zu Ende und er ist kurz vor Kriegsende anscheinend in russische Kriegsgefangenschaft gekommen. Er war am Kaspischen Meer und da mussten sie Sümpfe trockenlegen. Und da hat er, hieß es, Wassersucht bekommen und ist dann zurückgeschickt worden, was ja auch nicht so normal ist, denn viele Kriegsgefangene sind dort gestorben.

Haben Sie vor, wiederzukommen?

Ja, ich habe schon vor, regelmäßig wiederzukommen. Inzwi-schen habe ich ja auch Temeswar kennengelernt, was mich sehr begeistert hat, diese Normalität, mit der hier verschiedene Ethnien, Deutsche, Ungarn, Rumänen vor allen und auch Serben, zusammenleben in einer Selbstverständlichkeit. Das ist außergewöhnlich, glaube ich, und dann noch diese religiöse Vielfalt, die ich hier erlebe. Deswegen dachte ich auch, dieser Friedhof könnte ja auch ein Ort sein, wo dieses Zusammenleben, diese Einheit Europas, die man hier erleben kann, ganz konkret sichtbar werden kann, dass das wie ein Denkmal wird, wo eben auch die verschiedensten Märtyrer von 1989 zum Teil begraben sind. Es müsste jemanden geben, der sich einmal mit der Geschichte von diesem Ort befasst und sie dokumentiert, damit Leute, die hier in die Stadt kommen, auch zum Teil die Atmosphäre spüren, die hier herrscht, aber dann auch einen Ort haben, wo sich diese europäische Einheit konkretisiert. Und das könnte dieser Friedhof sein. Natürlich nicht in dem Zustand, wie er jetzt ist.

Haben Sie mit Behörden in Temeswar Kontakt aufgenommen, um zu fragen, ob da was machbar wäre oder um darauf hinzuweisen, wie es hier aussieht?

Ja, ich habe dem Bürgermeister vor zwei Jahren einen Brief geschrieben, also vor dem Kulturhauptstadt-Jahr, habe aber darauf keine Antwort bekommen. Ich habe den Eindruck gehabt, er hat den Brief vielleicht gar nicht bekommen. Jetzt habe ich ihn ein bisschen aktualisiert und über das deutsche Konsulat an den Bürgermeister weiterleiten lassen. Laut Dr. C²lin sollen bereits zwei Firmen von der Stadtverwaltung beauftragt worden sein, den Friedhof in Ordnung zu bringen. Aber davon ist nichts zu sehen. Ich hatte ein sehr ermunterndes Gespräch auch mit dem Temeswarer Bischof und ich hoffe wirklich, dass sich da was tut und dass dieser Friedhof eben zu einer würdigen Gedenkstätte für diese Menschen, die für die Europäische Einheit auch ihr Leben gelassen haben, wird.

Vielen Dank für das Gespräch!