Armer Otto!

Wie unterschiedlich Gerechtigkeitsempfinden sein kann, illustriert vielleicht am besten die Geschichte von Otto. Mein Mann erzählte sie mir aus der Zeit des Kommunismus, als er noch in Bukarest neben der deutschen Schule wohnte. Doch sie passt, wie ich finde, besonders gut in die heutige Zeit.

In seinem Garten wuchsen damals die prächtigsten Kirschbäume, die zur Reifezeit sehnsüchtige Blicke von jenseits der Mauer anzogen. Doch den Mut, rüberzuklettern, hatten die Schüler nicht. Denn in besagtem Garten wachte ein riesiger Hirtenhund: Otto! Wenn sich doch einmal ein Gesicht vorwitzig über die Mauer beugte, verwandelte sich der zottelige Otto, der sonst den lieben langen Tag träge auf der Terrasse lag, umgehend in ein rasendes Monster.

Bis irgendwann das erste Wurstbrot über den Zaun segelte... Zufall? Gezielte Provokation? Das ungewollte Pausenbrot fiel dem überraschten Hund buchstäblich vor die Schnauze. Was sollte er unter den gegebenen Umständen anderes tun, als es zu fressen? Es folgte irgendwann ein zweites, ein drittes, die Kinder fanden Spaß an dem Spiel. Oder gefiel ihnen bloß die effiziente Entsorgungsmethode überflüssiger Brote?

Otto gewöhnte sich schnell an den regelmäßigen Segen. Kaum ertönte die Pausenglocke, trieb ihn der Pawlowsche Reflex schnurstracks in Richtung Mauer. Aus dem zufälligen Zubrot war längst unverzichtbare Gewohnheit geworden. Und selbstverständlich assoziierte der Gute: Wurstbrotspender = edler Freund. Der Freund gab und gab und schien nie etwas zu verlangen! Lange Zeit blieb diese wunderbare Freundschaft unentdeckt.

Dann kam die Zeit der Kirschenernte. Unversehens häufte sich der Wurstbrotsegen – und damit auch die kurzen Stippvisiten seiner treuen Gönnerfreunde – zuerst als Mutproben gedacht – im Garten. Die Bäume leerten sich wie von Geisterhand.

Als der Besitzer irgendwann merkte, was vor sich ging, beschloss er, sich dagegen zu wehren. Doch trotz eiligem Hinausstürmen und In-Flagranti-Erwischen war die Dunkelziffer der Kirschdiebe hoch. Einer weniger, weil für eine Weile abgeschreckt, fiel da kaum ins Gewicht. Drei andere warteten schon sprungbereit.

Was schleichend begann, weil niemand den Anfängen wehrte, ließ sich auf einmal nicht mehr abstellen. Auch nicht durch Vorsprache beim Schuldirektor und Moralpredigten vor der Klasse. Eine unsichtbare Grenze war überschritten. Was man lange ungestraft heimlich tut, weil alle es heimlich tun, liefert dem Einzeltäter moralische Rechtfertigung. Der Erwischte fühlt sich als armes Opfer!

Und Otto? Längst war in ihm ein Bedürfnis geweckt, auf das er nicht mehr verzichten konnte. Wäre es jetzt nicht ungerecht, ihn zu bestrafen? Kann man so urplötzlich die Spielregeln ändern, was erlaubt und gut oder verboten und böse ist? Und wie sollte man Otto nach all den fetten Wurstbrotjahren klarmachen, dass es nun auf einmal ohne gehen muss?
Armer Otto!