„Auf welcher Insel lebt der Bürger?“

„Vernunft gebiert Freiheit.“ So resümiert die Kant-Expertin Susan Neiman, ehemalige Yale- und Harvard-Professorin, seit 2000 Direktorin am „Einstein-Forum“ in Potsdam, das populärwissenschaftliche Buch des Leiters des Feuilletons der „Frankfurter Rundschau“, Michael Hesse, das unterm Titel „Kant und wie man das eigene Denken revolutioniert“ zum Kantjahr 2025 erschienen ist. Autor Hesse geht´s um eine griffige, zum Lesen des Originals anregende, allgemeinverständliche Einführung in Kants Philosophie. Die Kant-Kennerin Neiman empfiehlt es wärmstens. Das Drei-Worte-Resümee der Rezensentin ruft Francisco José de Goya und seine 80 Aquatinta-Radierungen ins Gedächtnis, die „Los Caprichos“, vor allem Nr. 43: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer/Monster“ („El sueńo de la razón produce monstruos“). 

Kants Kernsätze („Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – Sapere aude!; „Alles, was sich nicht zur Publizität eignet, ist unrecht.“) und Goyas Ungeheuer wegen exilierter Vernunft kamen auf, als ich auf contributors.ro ein Gespräch mit dem Ex-Chef des Auslandsgeheimdienstes (in zwei Mandaten), dem Ex-Außen- und Ex-Premierminister Mihai-Răzvan Ungureanu las, der an der Universität Bukarest lehrt. 

Ungureanu steht als Humanist und Intellektueller der bürgerlichen Gesellschaft nahe. Er sprach das „schädigende Schweigen, entgegen unseren Erwartungen“ an, statt des gesellschaftlichen Dialogs, das auf den (interpretierbaren, weil un- bzw. schlecht argumentierten) Stopp der Präsidentschaftswahl folgte. Auch über „das besorgniserregende Gefühl“, dass die ganze Gesellschaft vom CCR-Urteil überrascht wurde. Der Schriftsteller Eugen Istodor, der Interviewer, kommt wiederholt auf die Rolle der diversen rumänischen Geheimdienste zurück, die – das sehen alle Seiten so – beim Überraschungsurteil des Verfassungsgerichts entscheidend waren. Dabei offen eine Doppelrolle spielen, gehören doch viele aktive und pensionierte Geheimdienstler zur Entourage des Rechtsextremen und Heilsbringers der mit ins Exil verbannten Vernunft – Călin Georgescu. 

Ungureanu nennt die Kette der Förderer von CG, der fast fünfzig Jahre „im Umfeld der Macht“ rumgeisterte – sie beginnt beim Samtkommunisten Mircea Malița, der wohlgeneigten Securitate, Akademiemitglied Ilie B˛descu, geht über Ex-Premierminister C. Popescu-Tăriceanu, „neue“ Geheimdienste, das Außenministerium (als Ungureanu die Überprüfung des Personals betreffs Securitate-Mitarbeit anordnete, „verschwand“ CG anderntags aus dem Ministerium…), über die rechte AUR und ehemalige, auf dubiosen Wegen reich gewordene Fremdenlegionäre, die in Kongo eine eigene Söldnerarmee im Einsatz hatten – die aus rumänischen Ex-Polizisten und Ex-Militärs bestand… Ungureanus mehrmals wiederholte Schlussfolgerung zur Person des CG klingt nur vordergründig abwegig: „ein klinischer Fall“, (…) definierbar „nach modernen Psychiatrie-Lehrbüchern“. Die Geheimdienste hätten Schwächen und Werden CGs – das „Alter verschlimmert“ Symptome! – längst „warnend“ signalisiert, die Politik(er) habe(n) die Signale ignoriert. Aus Bequemlichkeit, Desinteresse, Ahnungslosigkeit, „fehlender Bildung“. Das „immer geringere Leistungspotenzial des Bildungssystems“ räche sich auf Regierungs-, Politik(er)- und Geheimdienstniveau. Es drohe die „Demontage der Demokratie“: ungebildete Wählermassen suhlen sich „im Schlepptau dieses Individuums“.

Der bewusste Bürger (er hat den „Mut“, sich „seines eigenen Verstandes zu bedienen“) lebt einsam „auf einer Insel“, so Ungureanu. Den gefährlichen Dummheitsimpulsen der sozialen Netzwerke („Schlaf der Vernunft“) fehlt rationelles Gegengewicht. Triumph religiöser Mystik, Verschwörungstheorien,  Invasion dumpfköpfiger Messiasse sind Folgen. Eine (dummer-/)„weise schweigende Regierung“ fühle „im Nacken den eisigen Atem des Monsters.“