„Bären verstehen sich über alle Grenzen hinweg“

Recht auf Leben: Rumänien bietet „Problembären“ aus aller Welt ein Zuhause

Im Libearty Sanctuary in Zărnești

Bolik, der ukrainische Bär | Fotos: Libearty Sanctuary

Cristina Lapis | Foto: Gundula Haage

Im April machte die Braunbärin Gaia Schlagzeilen, die einen 26-jährigen Jogger im italienischen Trentino tödlich verletzte. Nun, drei Monate später, soll sie in Rumänien ein neues Zuhause finden. Gundula Haage interviewte zu diesem Thema Cristina Lapis, Leiterin des Bärenreservats „Libearty“ in Zărnești. 

Cristina Lapis, Sie haben das größte Braunbärenreservat der Welt gegründet. Jetzt bekommen Sie voraussichtlich prominenten Zuwachs: Die Bärin JJ4, auch Gaia genannt und Schwester des „Problembären“ Bruno. Ist das eine gute Nachricht für Sie?

Ja, jeder Bär sollte das Recht auf Leben haben. Gerade warten wir noch auf die finale Erlaubnis von italienischer Seite, um Gaia abholen zu können. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass sie demnächst eintrifft. Maurizio Fugatti, der Präsident der Region Trentino-Südtirol, hatte kurz nach dem Vorfall ein Dekret zur Tötung der Bärin erlassen. Zum Glück haben zahlreiche Tierschutzorganisationen dagegen mobil gemacht – und am vergangenen Freitag hat das oberste Verwaltungsgericht in Rom entschieden, dass Gaia leben darf. Ich halte allerdings nichts von der Bezeichnung „Problembär“. Diese Bärin trifft doch keine Schuld, es war ein Unfall. Natürlich ist es tragisch, dass der junge Mann beim Joggen im Val de Sole im Trentino von Gaia verletzt wurde. Aber ein Bär ist nicht von sich aus aggressiv. Die Bärin hatte Junge und wollte sie schützen. 

Warum soll Gaia ausgerechnet in Rumänien ein neues Zuhause finden?

In Italien gibt es kein Bärenreservat. Dort leben in der Grenzregion zur Schweiz nur um die fünfzig Braunbären in freier Wildbahn. Die rumänischen Wälder dagegen beherbergen die größte wildlebende Braunbärenpopulation Europas. Wir kennen uns mit Bären aus. Darum haben die Umweltminister von Rumänien und Italien über den Verbleib von Gaia verhandelt. Ich habe sie beraten, denn ich konnte in den letzten Jahren viel Erfahrung sammeln mit Bärendiplomatie. In meinem Reservat „Libearty“ leben mittlerweile Bären aus Armenien, Albanien, Georgien, den USA – und seit Kurzem auch ein Bär aus der Ukraine. Er heißt Bolik und vegetierte in einem Käfig in der Nähe der ukrainischen Stadt Czernowitz vor sich hin. Er wäre vermutlich getötet worden, wenn wir ihn nicht gerettet hätten. Eine NGO, die sich für Tiere in in Kriegs- und Krisenregionen einsetzt, hat uns auf ihn aufmerksam gemacht und mittlerweile fühlt er sich sehr wohl bei den anderen Bären.

Wie transportiert man denn ein großes Raubtier quer durch Europa?

Wir haben einen speziell ausgebauten Transporter für Wildtiere. Darin ist ein klimatisierter Käfig, in dem es sich der Bär gemütlich machen kann. Während der ganzen Fahrt sind die Bären wach. Eine Betäubung kann bei so großen Tieren mitunter tödlich enden. Natürlich machen wir genügend Pausen, um dem Bären zu trinken zu geben und ihm gut zuzureden. Vor einer solchen Fahrt beantragen wir eine Genehmigung, um die entsprechenden Landesgrenzen überqueren zu dürfen. 

Und was geschieht, wenn Sie mit einem Neuzugang in Ihrem Reservat ankommen?

Alle Neulinge kommen erst einmal im Eingewöhnungsgehege unter. Dort können sie sich langsam mit dem Elektrozaun und einem Freilauf vertraut machen. Und sobald sich ein Bär dort wohl fühlt, wird er in das große Gehege zu den anderen Bären gelassen. Das läuft normalerweise ganz unspektakulär ab. Bären sind Bären, egal woher sie kommen. Sie sind nicht wie wir Menschen mit unseren Sprachbarrieren und künstlichen Grenzziehungen. Bären verstehen sich über alle Landesgrenzen hinweg, wenn sie ausreichend Nahrung und Platz haben. Und das ist bei uns der Fall – unser Reservat umfasst 69 Hektar. Unsere 120 Bären haben darin mehr als genug Platz. Die Probleme entstehen, wenn der Mensch immer weiter in den Lebensraum des Bären eindringt und Wälder abholzt. Auch der Klimawandel kann Probleme verschärfen.

Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf die Tiere?

Durch die höheren Temperaturen verkürzt sich bei manchen Bären der Winterschlaf, oder er fällt ganz aus. Der natürliche Rhythmus gerät durcheinander. Als Allesfresser und großes Raubtier steht der Bär an der Spitze der Nahrungskette. Außer dem Menschen hat er keinen natürlichen Feind. Wenn sich durch veränderte Temperaturen sein Rhythmus verändert, dann stört das die Balance im ganzen Wald. 

In Rumänien leben je nach Schätzungen zwischen 6000 und 10.000 Braunbären in freier Wildbahn. Kommt es oft zu Zusammenstößen zwischen Menschen und Bären? 

Ja, leider. Aber so gut wie immer liegt es am Menschen. Zur Zeit des Kommunismus unter Ceaușescu wurden Bären gezielt von November bis März gefüttert, damit sie in bestimmten Gebieten zuverlässig anzutreffen waren – und als Trophäe gejagt werden konnten. Ceaușescu liebte die Bärenjagd. Heute ist das auf dem Papier zwar stark eingeschränkt. Pro Jahr dürfen offiziell nur 500 Bären geschossen werden, die für den Menschen gefährlich wurden. Rumänien hat im Jahr 1993 die Berner Konvention (das Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume, Anm. d. Red.), unterschrieben. Aber illegal wird immer noch gejagt. Und viele Menschen füttern Bären, damit sie für touristische Vorführungen zur Stelle sind. Dafür zahlen leider immer noch viele Touristen. Das Problem ist, dass ein solcher Bär daran gewöhnt ist, in der Nähe vom Menschen zu sein. Wird er irgendwann nicht mehr gefüttert, dann geht er eben auf die Suche – und reißt vielleicht ein Schaf, oder er durchwühlt Mülleimer. Und schon schreien alle, dass gefährliche Bären im Dorf sind und man sie erschießen muss! Darum machen wir viel Aufklärungsarbeit an Schulen, wie wir mit Bären leben können

Worauf sollte man achten, wenn man in einer Region wandern geht, wo Bären vorkommen? 

Ein Bär hat überhaupt kein Interesse daran, Menschen anzugreifen. Wir entsprechen nicht seinem Beuteschema. Normalerweise läuft er vor Menschen davon – es sei denn, er wird überrascht, hat gerade Junge und denkt, er müsste sich verteidigen, wie es wahrscheinlich bei Gaia der Fall war. Darum ist die wichtigste Regel, dass man auf sich aufmerksam macht. Durch Wanderlieder, Klatschen, oder andere Geräusche. Und man sollte keine offenen Nahrungsmittel mitnehmen. Ein Picknick mitten im Wald ist für einen Bären wie eine Einladung.

Und wie sollte ich reagieren, wenn ich trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen einem Bären in freier Wildbahn begegne?

Nicht wegrennen, denn sonst wird der Jagdtrieb geweckt und der Bär rennt hinterher. Nicht direkt in die Augen schauen, denn das wird als Provokation aufgefasst. Am besten, du senkst den Blick und entfernst dich langsam und bedacht.

Was sind denn die wichtigsten Regeln, damit Mensch und Bär friedlich koexistieren können?

Bären brauchen viel Platz. Sie können bis zu 30 Kilometer pro Nacht laufen. Darum muss ihr Lebensraum, der Wald, bewahrt werden. Natürlich ist es schön, ein Haus oder Hotel mitten im Wald zu bauen. Aber dann muss man eben Nutztiere mit einem Elektrozaun schützen und Lebensmittel oder Müll für Bären unzugänglich aufbewahren. Vor allem müssen wir Menschen endlich lernen, dass wir uns diese Welt mit anderen Lebewesen teilen. Wenn wir alles, was uns irgendwie gefährlich werden könnte, töten, dann sehen unsere Enkel Bären, Wölfe und andere Raubtiere nur noch im Museum – wie die Dinosaurier. 


Cristina Lapis ist Journalistin und gründete im Jahr 1997 die erste Tierschutzorganisation Rumäniens, „Milioane de Prieteni“. Im Jahr 2005 eröffnete sie das Bärenreservat „Libearty Sanctuary“ in Zărnești in den rumänischen Karpaten. Sie lebt in Kronstadt/Brașov.