Man darf hoffen, dass die Referate zu Hatzfeld und Großsanktnikolaus, die in der Novemberfolge der „Städteseminare“ der Akademie Mitteleuropa e.V. im Bayerischen Bad Kissingen vorgestellt wurden, auch den Nicht-Banatern unter den Teilnehmern neue oder Ersterkenntnisse gebracht haben, die zum Weiterforschen und Tiefergehen angeregt haben. Seitens der Banater unter den Teilnehmern weckten die Beiträge jedenfalls neben Interesse auch Nostalgien und wohl auch etwas Wehmut, vor allem, als man sich bei den projizierten Bildern von früher und heute erinnerte: Dort war auch ich einmal. Denjenigen, die auch beim Eröffnungsseminar der Reihe „Banater Kleinstädte“ – damals Reschitza – dabei waren, bestätigte sich die Annahme, dass dieses Format sich in erster Linie an Teilnehmer wendet, die mit dem Banat etwas zu tun haben/hatten, dass es aber auch etwas denjenigen bringt, die unbedarft herkommen, einfach, um sich zu informieren.
Prof. Dr. Anton Sterbling, der gemeinsam mit dem Studienleiter des Hauses, Gustav Binder, die Reihe eingeleitet hat und ab nächstem Jahr die Organisation an Astrid Ziegler weiterreicht, fand bisher seine Erwartungen erfüllt: „Ich finde, es war eine aufschlussreiche, informative und weiterführende Veranstaltung, ganz nach dem von Martin Buber entlehnten Motto des Hauses, ‚Alles Leben ist Begegnung‘.“
Die Veranstaltung war die vorletzte von denen, für die der emeritierte Soziologe Anton Sterbling zeichnete (die letzte ist im Dezember eine Tagung zur 80. Wiederkehr des Beginns der Flucht der Banater Deutschen im Herbst 1944, mit Vorstellung der Temeswarer Ausgabe des Fluchtbuchs, das von Albert Bohn, Werner Kremm und Anton Sterbling betreut und vom Demokratischen Forum der Banater Deutschen mit Mitteln des Departements für Interethnische Beziehungen innerhalb des Generalsekretariats der Regierung Rumäniens im laufenden Monat November herausgegeben wird). Anton Sterbling las aus dem Manuskript seines neusten Erzählungsbands zur „Versunkenen Republik“ ein Kapitel über sein (fiktives, aber literarisch mögliches) Stadtschreiberdasein auf dem Kirchturm im (so nicht genannten) Großsanktnikolaus, in einer selbstauferlegten und von ihm selber gebrochenen Klausur, mit vielen nur Insidern aufschlussreichen Hinweisen, Erinnerungstipps und -fetzen. Dass es danach, beim vom Autor gespendeten Rotwein (den er sich im Text auch auf dem Kirchturm kredenzte), keine Diskussion des Textes gab, bedauerte nicht nur der Unterzeichner dieser Zeilen.
Drei Plädoyers für Hatzfeld
Der Samstagvormittag war Hatzfeld vorbehalten. Die Hatzfelder waren mit „schwerem Geschütz“ aufgefahren, mit dem Ex-Chefredakteur der „Banater Post“, dem Historiker Walter Ton]a, mit dem langjährigen, jetzt Ex-Vorsitzenden und amtierenden Ehrenvorsitzenden der HOG Hatzfeld, Josef Koch, mit dem neuen HOG-Vorsitzenden, dem Lehrer, Journalisten und Schriftsteller Hans Vastag und dem Schriftsteller und Übersetzer Herbert-Werner Mühlroth.
Walter Ton]a hatte sich „Alleinstellungsmerkmale der Banater Heidegemeinde Hatzfeld im regionalen Kontext“ zum Thema erkoren. Gekonnt strukturiert, weit ausholend, ohne den Leitfaden aus der Hand zu lassen, zielorientiert, mit Orts- und Sachkenntnis zusammengestellt, präsentierte der Ex-Geschichtslehrer einen rundum runden, hörens- und lesenswerten Vortrag, trefflich illustriert, der es in sich hatte: er brachte auch Nichtkennern Hatzfeld näher. Wir werden versuchen, diesen wohlaustarierten und akribisch dokumentierten Vortrag, gekürzt, in Folgen, in der ADZ/BZ zu veröffentlichen.
Josef Koch referierte über „Grenzverschiebungen – seit 100 Jahren Hatzfeld in Rumänien“ und bezog sich einerseits auf den vor 100 Jahren unterzeichneten Staatsvertrag zwischen dem Königreich Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen und die darauf fußenden neuen Grenzziehungen und -korrekturen, die einige vorwiegend von Serben bewohnte Ortschaften Jugoslawien zuschlugen, während mehrere von Deutschen und Rumänen bewohnte Ortschaften – darunter vor allem Hatzfeld – Rumänien zugesprochen wurden. Wodurch eine der Ungerechtigkeiten der Friedensverträge der Pariser Vororte zumindest formal beseitigt wurde. Josef Koch umschiffte in seinem ausgewogen formulierten Referat keineswegs die Ausraubung des Banats durch die serbischen Truppen – ein Phänomen, das noch einer objektiven Geschichts-Aufarbeitung bedarf, für das es aber aus dem gesamten Banat noch ausreichend Beispiele gibt, die man zum Teil schon aus bereits vorhandenen Ortsmonografien herauslesen kann. Aufschlussreich, dass es über diese Ausraubung des Banats in der gebietsweise kurzfristigen Besetzungsperiode des Banats durch serbische Truppen kaum Dokumentarisches gibt – ausgenommen viele Augenzeugenberichte. Das Spannende an Josef Kochs Vortrag waren seine laufenden Gegenwartsbezüge, inklusive zur 100-Jahr-Feier der Zugehörigkeit Hatzfelds zu Rumänien vom vergangenen Sommer – ein untrügliches Zeichen dafür, wie sehr die Familie Koch weiterhin an Hatzfeld hängt, wie sie sich dem Schicksal von Hatzfeld verbunden fühlt.
Bewusst stark improvisiert, erregte der kenntnis- und facettenreiche Vortrag von Hans Vastag erst einmal den Eindruck des Verzettelns, der wie zufällig gezündeten und gelenkten Streiflichter, die ihn jeweils, Spot für Spot, immer wieder bewogen, abzuschweifen, Zusatzerklärungen zu liefern (sehr interessant und kaum sonstwo nachzulesen: die zu seiner Herkunft und Familie), so dass er, fast als Überraschung, letztendlich doch noch und nur über „Hatzfeld, ein multikulturelles Städtchen im Banat“ gesprochen hatte, mit vielen weiterführenden Hinweisen und Tipps. Hans Vastag erwies sich als routinierter Conferencier, der sehr wohl wusste, wie er seine Zuhörer dorthin zu bringen hatte, wo er sie haben wollte: zum Nachdenken auch über die eigene Herkunft, übers eigene Werden als Banater, oder – die Nichtbanater – zur Weiterreflexion von Vastags Denkanregungen zum multikulturellen, multiethnischen und, implizite, multireligiösen Banat, der habsburgischen Vorwegnahme des EU-Ideals einer Einheit in der Vielfalt.
Melodik des Rumänischen
Den Nachmittag eröffnete Herbert-Werner Mühlroth mit einer stark emotional geprägten (und wie ein Befreiungsschlag wirkenden) Niederschrift der Impressionen von seiner ersten Rumänienreise nach seiner Flucht über die Grüne Grenze und Jugoslawien nach Deutschland. Literatur kann man es nicht nennen, herausgekommen ist vielmehr eine Rechtfertigungsschrift für seinen Entschluss und Schritt zum Verlassen seiner Heimat – er tat es als einer der Hoffnung erregenden Jugendhandballer Rumäniens, der das Ceau{escu-Regime und seine Securitate-Schergen einfach nicht mehr zu ertragen bereit war. Und diesen Ton der radikalen Ablehnung, die auch zum (schmerzlichen) Bruch mit seiner Vergangenheit führte, hält er durch in dem Büchlein, das er im Anschluss an seine Rumänienreise, nach der gelungenen Flucht und der Verjährung seiner Verurteilung deswegen, veröffentlichte.
Ana Kremm sorgte für eine Premiere in der langen Tradition der Heiligenhof-Seminare. Sie trug ihr Referat zu „Großsanktnikolaus. Aufstieg und demografischer Fall einer Stadt“ in ihrer rumänischen Muttersprache vor – wozu vorsorglich den nicht (oder nur noch schlecht) das Rumänische Beherrschenden eine Übersetzung ins Deutsche zur Verfügung gestellt wurde. Interessant die Reaktion der Teilnehmer: „Obwohl ich fast täglich rumänisches TV schaue, aber garantiert am Wochenende ‚Garantat 100 la 100‘ oder, wie gestern Abend, ‚Profesioni{tii‘ mit Marin Cazacu, war ich selten so im Bann einer derart gepflegten Ausdrucksweise, in der die Musikalität der rumänischen Sprache zu spüren war“, schrieb Walter Schneider. Und Helga Ritter meinte: „Schon lange habe ich nicht mehr die rumänische Sprachmelodie in einem Vortrag gehört! Die von Werner gezeigten Bilder sprechen ihre eigene Sprache, ich suchte nach Kindheitserinnerungen. Da war ich doch! Die Semiklosch-Bilder berührten mich – erschreckten mich. Während deines Vortrags habe ich einmal mehr bedauert, warum es zu meiner Zeit in Rumänien – bis 1976 – nie zu solchen Begegnungen kam. Wir hatten rumänische Freunde. Ota hat uns in jeder im Ort gesprochenen Sprache grüßen gelehrt und gemahnt, dies nicht zu vergessen, aber öffentliche Vorträge oder Dialoge gab es nicht. Mittlerweile habe ich in deinem Buch ‚Pe urmele ]inutului pierdut‘ gelesen. Mein Schul-Latein – Oh weh! Seit mehr als 50 Jahren nur passive Sprach-Fetzen. Wie gut, dass die Übersetzungen dabei stehen. Ich bin begeistert!“
Der Schwabe Josef Kremm und der Jude Leopold Ürményi
Der Autor dieser Zeilen präsentierte aus dem schriftlichen Nachlass seines Vaters Josef Kremm (1926-2022) „Erinnerungen an meine Mitbürger jüdischer Herkunft in Großsanktnikolaus“. Dabei macht Josef Kremm auch einen Querschnitt der Beschäftigungen der rund 400 Juden, die in Großsanktnikolaus nach dem Ersten Weltkrieg lebten (manche ihrer Kinder waren seine Schulkameraden) und erzählt, welchen geschäftlichen Schock/Verlust der von den rumänischen Faschisten unter Marschall Ion Antonescu 1942 verhängte Zwangsaufenthalt für das Geschäft seines Vaters, des Färbermeisters Josef Kremm (1897 – 1962), bedeutete, als sein bester Kunde und Freund, der Semikloscher Jude Leopold/Lipót Ürmenyi zum Aufenthalt in Temeswar gezwungen wurde, und zuvor seinen gesamten Vorrat an Garnen und Wolle zum Weben seinem Färber anvertraute, um es vor der Beschlagnahmung durch die rumänischen Faschisten zu retten. Nach dem Krieg nahm Ürmenyi sein „Restvermögen“ wieder in Empfang und schaffte es nach Temeswar, wo er sich inzwischen niedergelassen hatte.
Ein Highlight zum Thema Großsanktnikolaus war der Vortrag von Peter-Dietmar Leber am Sonntag, dem Abschlusstag des Städteseminars von Bad Kissingen. Der wohl bestinformierte Kenner von Großsanktnikolaus referierte zur „Stadt- und Kirchengeschichte von Großsanktnikolaus“ und entwarf ein umfassendes Bild der Entwicklung dieser Kleinstadt, deren spektakuläre Entwicklung nach der Wende von 1989 viele neidisch machte: rund 4000 Arbeitnehmer pendeln täglich in die Kleinstadt mit knapp 11.000 Einwohnern (die im 19. Jahrhundert schon mal um die 16.000 Bewohner hatte…). Detailstrotzend Lebers Ausführungen zur Kirchengeschichte, zu der Grafenfamilie der Nákós, die als Stifter wesentlich das heutige Stadtbild von Großsanktnikolaus geprägt haben, interessant auch seine Aussagen zu den römisch-katholischen Pfarrerpersönlichkeiten Jakob Linden (1780-1810), Dr.phil. Ludovicus Kuhn (1880-1900), Stephanus Pacha (1900-1908), dem Bruder des Bischofs Augustin Pacha, Josephus Elsner (1942-1951) oder Hans Fidelis Deschu (1951-1986), einer der wenigen römisch-katholischen Pfarrer, die nach Russland deportiert worden waren und über deren seelsorgerische Arbeit, verrichtet neben und nach der Zwangsarbeit, zu der sie gezwungen waren, Überlebende der Russlandverschleppung Beeindruckendes berichtet haben.
Den Schluss der Veranstaltung bildete der präzise recherchierte Vortrag der Soziologin Rita Stockmann (geb. Rossmann) zu ihrer Familiengeschichte, wozu sie den Titel gewählt hatte: „Bleiben oder Gehen? Familiengeschichtliche Fragen in Großsanktnikolaus“. Dem Vortrag sah man die soziologische Bildung der Referentin an, die – so zertifizierte es auch der emeritierte Hochschullehrer der Soziologie, Dr. Anton Sterbling, der moderierte – allen Regeln eines soziologischen Vortrags gerecht wurde. Und doch darüber hinausging, indem sie viel Persönliches offenlegte – ohne den selbstgesetzten Soziologierahmen zu sprengen. Was den beiden aus dem Banat angereisten Referenten bei diesem Vortrag besonders angenehm auffiel: Rita Stockmann hinterließ nicht den Eindruck einer vom Banat Entwurzelten.
Das nächste Städteseminar beschäftigt sich mit Lippa und ist im kommenden Frühjahr anberaumt. Organisiert wird es von der geborenen Lippaerin Astrid Ziegler, die heute in München lebt.