Berg-Karabach – Der schwarze Garten im Hinterhof Europas?

Über die historischen Hintergründe des Konflikts und die Verantwortung Deutschlands hierbei

Die Konfliktregion Berg-Karabach (braun) zwischen Armenien und Aserbaidschan mitsamt der von Armenien militärisch annektierten Pufferzonen (orange) Bild: Wikimedia Commons

Die Republik Berg-Karabach („gebirgiger/oberer schwarzer Garten“) zwischen Aserbaidschan und Armenien: 140.000 Einwohner, 4400 Quadratkilometer. Hier stehen sich erneut die Länder Aserbaidschan und Armenien militärisch gegenüber, und weisen sich die Schuld für die jüngste Spirale der Eskalation gegenseitig zu. Doch so einfach die Versionen der jeweiligen Beteiligten in Bezug auf Schuldzuweisung teilweise sein mögen, so komplex sind die Hintergründe des am längsten andauernden Konflikts im postsowjetischen Raum. Tatsächlich reicht dieser in präsowjetische Zeiten zurück, jedoch entspringt der aktuelle Konflikt insbesondere zwei historischen Phasen: dem Verwaltungssystem der Sowjetunion in den 1920ern sowie dem Chaos rund um deren Zerfallsperiode Ende der 1980er Jahre. Diese historischen Wirren wieder aufzurollen kann dabei helfen, die deutsche Position hierbei klarer zu benennen.

Wir schreiben das Jahr 1920. Der Genozid der Türkei an den Armeniern ist noch frisch und in der blutjungen Demokratischen Republik Armenien putschen sich gerade mal zwei Jahre nach seiner Staatsbildung Bolschewiken an die Macht. Die rote Armee eilt der örtlichen Revolution unverzüglich zu Hilfe und verleibt sich die Region ein. So stand am Anfang der 1920er Jahre die Frage der genauen Zuteilung der geographischen Zwischenregion Berg-Karabach zu den sozialistischen Sowjetrepubliken (SSR´s) zur Debatte, nämlich entweder zur armenischen oder zur aserbaidschanischen SSR. Die eigentliche offizielle Mehrheitsentscheidung des Kaukasischen Büros des Zentralkomitees vom 4. Juli 1921, die Region an die armenische SSR zu übertragen, wurde am nächsten Tag von Stalin höchstpersönlich widerrufen, welcher amtierender Volkskommissar für Nationalitätenfragen der Sowjetunion war. Vermutet wird, dass Stalin allzu homogene und geeinte Regionen vermeiden wollte, da aus diesen gleichzeitig potentielle Unabhängigkeitsbestrebungen resultieren könnten. So wurde unter großen Protesten der lokalen Bevölkerung das mehrheitlich armenisch bewohnte Berg-Karabach als autonome „Oblast“ (Verwaltungsgebiet) an die aserbaidschanische SSR angeschlossen. Zur Veranschaulichung: 1926 lag der  Bevölkerungsanteil an Armenierinnen und Armenier in Berg-Karabach zwischen 80 und 90 Prozent.

Seit dieser Entscheidung gab es immer wieder Bestrebungen seitens der lokalen Bevölkerung, die Region an Armenien anzugliedern. Doch erst die Auflösung der UdSSR brachte die Spannungen zur Gänze wieder ans Tageslicht. 1988 wurde nach dem vierten gescheiterten Antrag an Moskau vonseiten der armenischen Gruppen in Berg-Karabach eine Unabhängigkeitsbewegung lanciert. Im Zuge der Mobilisierung entwickelten sich die Proteste und Gegenproteste zu Massenunruhen und Pogromen auf beiden Seiten, und 1991 schließlich zum Berg-Karabach-Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Dieser dauerte bis 1994 und resultierte in 300.000 Toten, ethnischen Säuberungen sowie, laut den Vereinten Nationen, 750.000 Flüchtlingen und Binnenvertriebenen. Den militärischen Konflikt konnte das zahlenmäßig unterlegene, doch strategisch gut aufgestellte Armenien für sich entscheiden. Das Resultat war die autonome Republik Berg-Karabach unter Schutz des armenischen Staates mit einer besetzten Pufferzone von sieben umliegenden Provinzen, welches zusammengenommen ca. 13% der aserbaidschanischen Landmasse ausmacht.

Weiterhin wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt, der sich in den folgenden 26 Jahren als mehr als brüchig herausstellen sollte und angesichts dessen die Bezeichnung „schwelender Konflikt“ eine Untertreibung darstellt. Im Kontext von mehreren Dutzend Toten pro Jahr durch Scharfschützen an Grenzen sowie größerer militärischer Eskalationen (zuletzt 2016) fanden auch auf politischer Ebene verschiedene Annäherungen keinen Erfolg. Als unüberbrückbar und verhärtet gelten die Perspektiven der Konfliktparteien.

Doch inmitten des medialen Diskurses über den „alten Konflikt“ von Armenien und Aserbaidschan bleibt der zentrale Akteur oft auf der Strecke: die Republik Berg-Karabach selbst. Ursprünglich als temporäres taktisches Manöver gedacht, entwickelte sich die Idee einer eigenständigen Republik zu einer, zwar fragilen, aber realen Lebenswirklichkeit für die Menschen vor Ort. Zwar ist die junge und nicht-anerkannte Republik mit dem „Mutterland Armenien“ mehr als eng verknüpft: ökonomische und politische Verbindungen bestehen in Fülle. Dennoch ist es kein gemeinhin geteiltes Ziel von Berg-Karabach, den „Wiederanschluss“ an Armenien zu vollziehen. Vielmehr treten sie in ihren Forderungen innerhalb der Friedensverhandlungen der Minsker Gruppe der OECD (vertreten durch Armenien) für eine Lösung ein, die Ihnen eine gewisse Autonomie garantiert. In jedem Fall befinden sich die Verhandlungen in einer völkerrechtlichen Sackgasse zwischen dem Recht Aserbaidschans auf territoriale Integrität und dem Recht auf nationale Selbstbestimmung der lokalen Bevölkerung. Während die internationale Staatengemeinschaft eher zu ersterem tendiert und die Republik Berg-Karabach international kaum offiziell anerkannt ist, so pochen die lokalen Kräfte auf das Recht auf Selbstbestimmtheit mit Unterstützung der „großen Schwester“ Armenien. Gleichsam führt dies zu der heiklen Zusammensetzung und unterschiedlichen Interessen der jeweiligen Konfliktparteien. Für Aserbaidschan ist es ein Kampf um die Wiederherstellung der territorialen Integrität. Dass Armenien damals ca. 13 Prozent des aserbaidschanischen Gebiets eroberte, und die Republik Berg-Karabach auch in den Pufferzonen rund um das eigentliche Gebiet Berg-Karabach Infrastrukturprojekte initiiert, wird als enorme Provokation empfunden.

Zu groß wiegt mittlerweile der Frust, dass das jahrzehntelange diplomatische Hin und Her der Republik Berg-Karabach die Möglichkeit bietet, in der Region Tatsachen zu schaffen. So wurde der aserbaidschanische ölbedingte Wirtschaftsboom der letzten Jahre auch zu einer massiven Militarisierung genutzt. 2019 betrugen die Rüstungsausgaben Aserbaidschans mit drei Milliarden Dollar so viel wie der gesamte Staatshaushalts des um zwei Drittel kleineren Armeniens. Der aserbaidschanische, autokratisch regierende Staatspräsident Ilham Aliyev nennt die aktuelle Offensive eine Maßnahme, den Frieden in der Region „wiederherzustellen“. Die Tradition dieser angeblich friedensstiftenden Gewaltrhetorik wiederum dient als Argumentationsgrundlage der Republik Berg-Karabach, die 2007 vereinbarten „Madrider Prinzipien“ der OECD über die Räumung der besetzten Pufferzonen weiterhin nicht umzusetzen. Diese sind nur einige wenige von den vielen Spannungsfeldern, die den Konflikt umrahmen, welcher mittlerweile zu einem Status quo geworden ist.

Was neu ist, und allen Grund zur Sorge gibt, sind die diesjährigen Entwicklungen: Die Türkei wird immer mehr zu einem aktiv involvierten Akteur im Konflikt. Basierend auf der jahrzehntelangen engen Verbundenheit mit Aserbaidschan als „Eine Nation, zwei Staaten“ – eine Parole, die gerne vom türkischen Präsident Tayyip Erdogan ins Rennen geführt wird –  existieren nebst Waffenlieferungen nun auch andere Formen militärischer Unterstützung: So sollen seit Herbst syrische Söldner von der Türkei angeworben und in der Region aktiv sein, wie unter anderem die Tagesschau basierend auf Material von „Reuters“ und „The Guardian“ berichtet. Dies läuft parallel zu neuesten Eskalationen, wie dem Einsatz von Streubomben auf die Zivilbevölkerung sowie dem Hinrichten von Kriegsgefangenen auf aserbaidschanischer Seite. Dies deutet auf eine neue Qualität des Konflikts hin.

Auch die jüngsten Entwicklungen werfen mehr Fragen als Antworten auf: nachdem in der Nacht von Dienstag unter russischer Führung ein Waffenstillstand ausgehandelt wurde und die Stationierung russischer Friedenstruppen dies auch gewährleisten sollte, so ist diese Lösung auf kurzfristige Schadensvermeidung ausgerichtet. Die längerfristigen, hochgradig heiklen Fragen der territorialen Verteilung bleiben ungeklärt, zumal beide Seiten mit dem Ergebnis unzufrieden sind. Während die Eroberungsrhetorik von Aserbaidschan einen schlagartigen Dämpfer bekam, so gab es massive Proteste in Armenien gegen die Bedingungen der Waffenruhe und der armenische Präsident Armen Sarkissjan wurde als „Verräter“ beschimpft. Das Paradox der doppelten Beanspruchung des Gebiets bleibt weiterhin bestehen.
Keinen Grund für Optimismus im Hinblick auf langfristige Lösungen bietet der Blick auf die Liste der potentiell relevanten Akteure: Neben der Türkei und Russland bleiben die USA und die EU. Erstere hat sich seit dem Georgien-Krieg 2008 vermehrt aus der Region zurückgezogen und ist momentan mit den eigenen wahlkampfbedingten Querelen beschäftigt. Zweitere wird in einer 2013 publizierten Analyse des Center for Security Studies (CSS) in Zürich als einer von den Akteuren beschrieben, welcher „weder motiviert noch einflussreich genug sind, um den Friedensprozess voranzutreiben“. Während Frankreich als engagierter Teil der Minsker Gruppe der OECD hier noch als Ausnahme gelten dürfte, steht Deutschland repräsentativ für die europäische Haltung.

Dies sollte nicht nur traurig, sondern auch wütend stimmen – denn Deutschland hat mit dem Südkaukasus mehr zu tun, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Tatsächlich war der Hintergrund der 2016 verabschiedeten Resolution des Bundestags über die Benennung der Gräueltaten des Osmanischen Reichs 1915 an den Armeniern als Genozid vor allem eines: die deutsche Involviertheit.

So ist klar in der Resolution formuliert, dass Deutschland als „militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten und Missionare über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen“. Zu ergänzen ist, dass neben dem Wegschauen eine aktive Zensur sowie eine direkte Mittäterschaft deutscher Offiziere im Südkaukasus dokumentiert ist. Doch die Verflechtungen ziehen sich, wenn auch weniger drastisch, bis in die Gegenwart: Man denke an die Stippvisite von Angela Merkel 2015 in Aserbaidschan, dem größten Handelspartner Deutschlands in der Region, in welcher sie die ökonomischen Beziehungen der beiden Länder lobte. Man denke auch an Anfang diesen Jahres, als Korruptionsverfahren gegen zwei Bundestagsabgeordnete basierend auf Bestechungsgeldern aus Aserbaidschan eingeleitet wurden. Und man bedenke die Tatsache, dass Deutschland mit der Türkei als Handelspartnerin quasi direkt Waffen in die Region liefert.

Diese wirtschaftlichen Verbandelungen erscheinen in anderem Licht, wenn die Seite „Genocide-Watch“ im Oktober eine Genozid-Warnung für die Region herausgibt. Während sich Deutschland bei der Benutzung dieses Begriffs im Bezug auf den Südkaukasus bekanntlich lange schwer tat, so wäre es nun an der Zeit, die in der Resolution benannte „besondere Verantwortung Deutschlands“ wahrzunehmen. So ist es nur folgerichtig, dass der Grünen-Politiker Cem Özdemir fordert, dass „die Bundesregierung sich in Abstimmung mit den Ko-Vorsitzenden der OSZE Minsk-Gruppe viel aktiver und sichtbarer für den Frieden in Berg-Karabach einsetzen und Hilfe leisten“ sollte. Während die Konfliktlage sicherlich komplex ist, so sollte es nicht vor einer aktiveren Einmischung in den Verhandlungen abschrecken.