Das organisatorische Chaos der Sonntagswahl in Bukarest

Eine Schritt-für-Schritt-Beschreibung der Wahlstimmenzählung im 1. Bezirk

Warteschlangen... | Foto: der Verfasser

In den letzten Jahren scheinen die Wahlen im 1. Bukarester Bezirk wichtiger als die Präsidialwahlen zu sein, zumindest wenn man vom begleitenden medialen Zirkus ausgeht. Es ist eben der wichtigste und reichste Bezirk der Hauptstadt (auch wenn er die wenigsten Wahllokale hat), dessen Leitung schon öfter einen Sprung nach Cotroceni ermöglicht hat. Die Wahlkampagne dieses Jahres deutete klar darauf hin, das die Situation nicht anders als bei den Vorwahlen ausgehen würde, insbesondere soweit die Lokalwahlen aufgrund der Zusammenlegung mit den Europawahlen etwas schwieriger zu sein schienen. Um die Situation besser zu verstehen, habe ich mich entschlossen, diesem Bukarester Großevent beizuwohnen. 

Das allgemeine Wahlprozedere…

...war im Grunde genommen sehr klar geregelt und aufgestellt: die Wahllokale würden zwischen 6 Uhr morgens und 10 Uhr abends offen sein (zwei Stunden länger wegen der extra Arbeit mit den EU-Wahlen). Danach sollten die Stimmen vor laufender Tablet-Kamera gezählt werden, die Säcke für die fünf unterschiedlichen Stimmabgaben in speziellen Wagen unter Polizeiaufsicht zur Bezirkswahlbehörde gebracht werden, um einen formellen Abgleich der händisch hochgerechneten Stimmen mit den elektronisch registrierten teilnehmenden Wählern durchzuführen und… fertig. Dafür haben die Behörden unabhängige Wahllokalvorsitzende und Tablet-Betreiber, sogenannte Operators, ausgewählt, wobei die an der Wahl teilnehmenden Parteien eigene Vertreter als Mitwirkende ernannt haben, um ein transparentes Prozedere für alle Involvierten zu gewährleisten. Soweit so gut. Nur ist die Rechnung bei Weitem nicht so aufgegangen wie geplant.

Die Realität...

...hat aber wieder einmal gezeigt, dass alles nur auf Papier gebastelt wurde und niemand tatsächlich die vergangenen Erfahrungen und die neue Situation der EU-Wahlen überdacht hat. Nur wenn man davon ausgeht, dass in jedem Wahllokal rund 1500 Personen antreten sollten, diese fünf Stimmen bzw. Wahlzettel abgeben mussten, die bei der Zählung vom Wahllokalvorsitzenden vor laufender Kamera vorgelesen werden sollten, kommt man mathematisch auf eine Höchstzahl von 7500 Namen, deren Vorlesen sicherlich Stunden dauern würde. Auch bei bester Organisierung, einer jüngeren Person (nicht eines Wahllokalvorsitzenden, der längst im Rentenalter war) und bei entspanntem Gehirn (nicht nach 16 Stunden ständiger Tätigkeit am Wahltag), und wenn alle Wähler angetreten wären, hätte der Wahllokalvorsitzende rund sechs Stunden pausenlos vorlesen müssen! Und all das nach dem Zählen der abgegebenen Stimmen, bei dem alle Mitglieder des Wahlausschusses anwesend sein mussten (WC- oder Rauchpausen waren auf dem Papier nicht eingeplant). Des Weiteren sollten alle ungenützten Stimmzettel ebenfalls vom Wahllokalvorsitzenden auf allen Seiten durchgestrichen und mit „annulliert“ gekennzeichnet werden. Ein etwas abgeändertes Prozedere galt jedoch für die EU-Wahlen, was wiederum in zahlreichen Wahllokalen für Verwirrung gesorgt hat.. 

Der Ablauf…

…der Wahlen schien ursprünglich wie auf dem Papier geplant zu laufen: Bis zur Mittagszeit lag die Anwesenheit bei den Urnen in der üblichen geringen Zahl, nur rund 17 Prozent. Am Nachmittag kamen jedoch mehr und mehr Wähler und es bildeten sich lange Warteschlangen vor den Wahllokalen. Beobachter und politische Analysten erklärten die hohe Anwesenheit am Wahltag (über 50 Prozent) mit dem Zusammenlegen der EU-Wahlen, die den rumänischen Wählern eine stärkere Stimme als in der Kommunalpolitik bieten sollten.

Bereits nach dem Schließen der Wahllokale haben viele Wahllokalvorsitzende bemerkt, dass die zwei extra Arbeitsstunden eine wesentliche zusätzliche Müdigkeit mit sich gebracht hatten, die oftmals in Kritzeleien auf den Protokollen zu bemerken war oder über falsche Stimmzählungen (was eben zu einer Neuzählung führte).

Der Transport zur Bezirkswahlbehörde

Als die ersten Kleinbusse erst um rund 6 Uhr bei der Bezirkswahlbehörde (BES1) auf der Piața Amzei anrollten, waren die Beamten bereits nervös, weil sie seit Stunden umsonst herumgesessen hatten. Zahlreiche der 166 Wahllokale beendeten ihre Zählung zwischen 6 und 8 Uhr morgens und somit kam es zu einem kleinen Stau bei der Abholung. Hinzu kam noch der Montagsverkehr, weswegen die meisten Wahllokale letztenendlich stundenlang auf den Transport warten mussten. Das Wahllokal vom Nordbahnhof hatte den Transport für 9 Uhr morgens beantragt und ist erst um rund 13.30 bedient worden. Angeblich waren alle der 15 zur Verfügung gestellten Busse auf der Piața Amzei blockiert, da es in der BES1 nicht genügend Platz für alle Säcke gab. Hieß es… Sie zählten sich aber zu den Glücklichen, denn andere Wahllokalvertreter wie die des Wahllokals 141 sind erst um 18 Uhr bei BES1 eingetroffen und andere noch später. Zahlreiche der Spätankommer sprachen darüber, wie die Polizei sie in den Wahllokalen eingesperrt hatte, damit es keinen Verdacht auf Wahlmanipulation geben konnte (oder aber damit die müden und nervösen Leute nicht kurz nach Hause laufen konnten, um sich zu entspannen oder zu duschen). 

Um den Prozess zum Laufen zu bringen, wurden die Vertreter der Wahllokale samt Säcken mit Wahlzetteln einfach „entladen“ und sollten hinter einem von der Gendarmerie improvisierten rot-weißen Band warten. Und so kam es zu den berühmten Bildern mit 80-jährigen Frauen, die Säcke hinter sich durch die Sonne schleppen mussten. Die Glücklichen landeten im Schatten und konnten direkt auf den Säcken sogar ein kurzes Nickerchen halten, denn es war Warten, Warten, Warten angesagt. 

Später am Abend erklärte ein Wahllokalvorsitzender stolz, dass es bei seinem Wahllokal keinen einzigen Fehler gegeben hatte und er deswegen in knapp zwei Stunden „entlassen“ wurde. Ein anderer, dass er in anderthalb Stunden davongekommen war. Man sollte diese Dauer mit 166 Wahllokalen multiplizieren, um die Verspätungen zu verstehen… Was aber unverständlich bleibt, ist, wieso eine einfache Abstimmung von Zahlen auf Papier mit Zahlen im Tablet derart lange dauern muss. Offizielle Erklärung: es gäbe nur einen Wahlrichter und der würde nur korrekt abgeglichene Wahllokale entlassen.

Kurz nach 18 Uhr kündigte man die Einstellung des Verfahrens ein, zumal die Beamten der BES1 müde waren. Niemand fragte, ob die Vertreter der Wahllokale, die bereits seit dem Vortag um 6 Uhr morgens im Dienst waren, auch müde seien. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis auch Erklärungen zu den Wahlzetteln geliefert wurden (während die Beamten bereits auf dem Weg nach Hause waren). Es hieß weiter Schlange stehen, um die Säcke innerhalb der BES1 in Gewahrsam zu lassen.

Nach 36 schlaflosen Stunden konnten nun die Vertreter der Wahllokale wieder nach Hause, nicht jedoch, bevor eine Liste gemäß ihrer Ankunft aufgestellt wurde, die als Grundlage für die Rückkehr und die Abgabe am Dienstag oder Mittwoch dienen sollte.

Die Tablets…

...also die Prüfmittel für die gezählten Stimmen sollten aber auch abgegeben werden! Das Problem war, dass die Tablets unter Unterschrift vom Spezialkommunikationsdienst STS übernommen wurden und zahlreiche Tablet-Operatoren sich geweigert haben, ohne klare Anweisung der STS dergleichen zu tun. Jüngere Operatoren vermuteten sogar ein mögliches Schummeln der Behörden in diesem Fall. 

Die STS selbst hatte leider diesbezüglich keine klaren Angaben und somit hat jeder nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt: viele haben die Tablets bei der Wahlbehörde zusammen mit den Stimmzetteln abgegeben, die jüngeren, die einen Wahlbetrug befürchteten, oder die den Vertrag mit der STS strikt befolgen wollten, nahmen die Tablets mit nach Hause.

Der Dienstag...

…schien entspannt zu sein: klare Planung zur formellen Übergabe, alle Teilnehmer waren (wenigstens halbwegs) ausgeschlafen, es gab keinen Stau… Aber nur bis zur Mittagszeit, als die Zentrale Wahlbehörde BEC die Beendung des Wahlprozederes bis spätestens am Mittwoch ankündigte und somit BES1 alle Wahllokale unabhängig der gerade vor Stunden angegebenen Planung antanzen ließ, jeder wann er wolle. Und wieder kam es zum Stau und zu Wartezeiten. Und zu einer neuen Liste, gemäß der jetzigen Ankunft. Währenddessen schwänzelten abwechselnd die Kandidaten und Konkurrenten für das Bürgermeisteramt in Sektor 1, George Tuță und Clotilde Armand, vor den laufenden Kameras und beschuldigten sich gegenseitig des Wahlbetrugs, ohne jedoch den wartenden Personen eine einzige Frage zu stellen. 

Kurz nach 20 Uhr war die Wut der Wartenden genau wie am Vortag. Insbesondere, da viele die extra Arbeit bezahlt haben wollten und die BEC deren Anträge schriftlich zurückwies, sich auf gesetzliche Regelungen berufend. Jeder versuchte nun dem anderen vorauszugehen, die Schwächeren saßen im Wartezimmer, die Stärkeren standen stundenlang Schlange. 

Und nun wurde eine neue Liste erstellt: die grüne Liste! Vorrangig waren nun die Wahllokale, bei denen es keine Unstimmigkeiten gab. Somit hätten diese nicht mehr auf die Klärung der Unstimmigkeiten anderer Wahllokale warten müssen (die durch die komplette Neuzählung über fünf Stunden gedauert hat). Nur konnte das neue System nicht lange durchgehalten werden. Eine ältere Dame gab an, insulinabhängig zu sein und wollte vorrangig behandelt werden. Eine andere erinnerte sich plötzlich, dass sie Krebs hatte. Ein Vater stellte sich mit dem Kleinkind vor die Beamten und bettelte, vorgezogen zu werden. Eine Dame versuchte es auch mit den Kindern daheim, wobei ein Gendarm ihr freundlich antwortete, er hätte sein Baby seit drei Wochen nicht gesehen. Unter den Wartenden sprach sich bereits herum, wer Kleinkinder in der Familie oder im Freundeskreis ausleihen könne... Gegen 22.30 Uhr stellten die Behörden,  jetzt unter Druck der „gesunden“ Wahllokalvertreter, die vorrangige „Behindertenliste“ wieder ein. Man kehrte zurück zur alten „grünen Liste“. Und die Zählung ging weiter.

Die Menschen

Eine gut gekleidete Dame mittleren Alters in einem dunkelgelben Kleid mit einem breiten Ledergürtel ging weinend an mir vorbei. Man konnte ihr ansehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Ein älterer Herr schlenderte an mir vorbei und schien sehr selten zu blinzeln. Er konnte seine Augen kaum noch offen halten. Er erschrak auf einmal, als er vor der metallischen Ausgangstür stand. Er hatte sie nicht „kommen sehen“. Ich verglich die Fotos im Wartesaal mit denen, die ich vor fast drei Stunden aufgenommen hatte: dieselben Personen auf denselben Stühlen. Nur hinten schienen einige auf den Tischen zu schlafen, andere auf Pappkartons. Jemand spielte laute Musik: die Skorpions. Es war das Handy eines schlafenden Herrn. Sein Banknachbar wacht auf, stößt ihn an und er hebt ab.

Andere sitzen beim Rauchen vor dem Eingang und sprechen mit Vertretern der BES1. Sie sind alle so müde, dass sie nicht einmal mehr streiten können. Das Gespräch ist sogar freundlich: alle sind müde, alle wollen nach Hause, alle bedauern die Wartezeit und die schwere Tätigkeit des anderen. Einer bemerkt: „Ich bin Nummer 17 und bin hier seit 13 Uhr. Der Herr, der gerade vorbeigegangen ist, war Nummer 39“. Es ist Mitternacht.

Bei den Gendarmen steht es etwas anders: gerade sind zwei rausgegangen, um zu essen. Auch die Wahllokalvertreter bemerken: „Ihr könnt es euch ja leisten. Wir müssen aber warten!“

Gerade als ich mich vorbereite, nach Hause zu gehen, kurz vor zwei Uhr morgens, kommt die Ambulanz für die Dame mit dem dunkelgelben Kleid.

Die Abgabe geht bis Mittwochvormittag ununterbrochen weiter und am Mittwoch sind alle Stimmen verfahrensmäßig registriert.