„Das Wesentliche ist nicht begreifbar!“

Eine Philosophin und ein Kernphysiker hätten gewusst, warum

Ahnend, dass mit und durch die Wissenschaft die Schere zwischen extrem unterschiedlichen Blicken auf das Leben im 21. Jahrhundert in der westlichen Welt so unglaublich stark wie heute aufklappen würde, hat Jeanne Hersch den Braten sauber gerochen: „Man hat von der Wissenschaft zu viel erwartet, und man hat gehofft, dass die Freiheit dank der Wissenschaft abtreten könne. Und jetzt macht man sie für alle Übel unserer Zeit verantwortlich. Mit beidem tut man ihr Unrecht.“ | Foto: Bibliothek am Guisanplatz, Sammlung Rutishauser

Trotzdem Hans-Peter Dürr leicht als Pessimist verstanden werden konnte, gab er die Hoffnung zeitlebens nicht auf: „Ich möchte, dass die menschliche Gesellschaft wieder etwas optimistischer an ihre Zukunftsplanung herangeht. Die einzelnen Menschen sollen in ihrer Phantasie angeregt werden, auch kleine Änderungen vorzunehmen. Das ist eigentlich das Konzept der Zukunft.“ | Foto: Christoph Spitz, www.flickr.com

Ein verfilzter Wollknäuel. Was Hans-Peter Dürr damit beweisen wollte, ist der westlichen Welt noch immer ein rotes Tuch. | Foto: Tim Reckmann, www.flickr.com

Auf der einen Seite stehen alle schon von Anfang an überzeugten Impf-Befürworter. Gemeinsam mit ehemaligen Impf-Skeptikern, die ihre Zweifel überwunden haben. Und ihnen gegenüber auf der anderen Seite stehen die Impf-Verweigerer, die sich von nichts und niemandem überzeugen lassen, es doch einmal mit dem Injizieren des Impfstoffs in ihre Körper zu versuchen. Ist es überflüssig oder nicht, ins Feld zu führen, dass es auch Skeptiker gibt, deren Mangel an Vertrauen in die moderne Medizin gar noch weiter gewachsen statt verflogen ist? Nein, der Fingerzeig ist nicht etwa überflüssig, sondern wichtig! Denn er zeigt auf, dass die Wissenschaft – besser noch: das Bild von der Wissenschaft – trennt. Ein Zustand, in dem sich die Menschheit bereits seit zwei Jahren gefangen sieht. Auch die westliche Welt kann sich das Wegschauen davon nicht mehr leisten.

Zwar wurde es längst gefunden, ein Mittel zur Kontrolle der Covid-Pandemie, und Wirkung zeigt es auch schon. Wie das menschliche Leben auf dem Planeten Erde aktuell ohne aussähe, will man sich nicht ausmalen müssen. Die im Auftrag westlicher Industriestaaten produzierten Impfstoffe schicken sich an, ein wirklich sehr großes Problem mittelfristig nicht zur lähmenden Plage werden zu lassen und es langfristig zu beseitigen. Doch der Weg hin zum Ende der Pandemie bahnt sich derzeit nicht viel kürzer als gerade die Strecke an, die bislang trotz des pandemischen Virus zurückgelegt werden konnte und letztlich auch musste. Kann es gelingen, Covid al-leine durch die physisch greifbaren Ratschläge der Wissenschaft aus der Welt zu schaffen? Mit Impfstoffen und Masken, Tests, dem Grünen Zertifikat sowie allem Desinfizieren, Händewaschen und Kontakt-Vermeiden?

Auch wenn die Wissenschaft dem Anschein nach mehr und mehr einen Keil zwischen Fürsprecher unterschiedlicher Sichtweisen zu treiben scheint – einige verwerfen die moderne Wissenschaft total, andere wiederum erwarten von ihr die einfache Lösung eines ganz schwierigen Weltproblems – haben Menschen aus allen Lagern, von stumpfen Skeptikern über noch zweifelnde Unentschlossene bis hin zu drängenden Befürwortern, etwas gemeinsam: so eine Aktualität ist ihnen zuwider. Exklusiv mit wissenschaftlichem Ansätzen ist ihr nicht beizukommen.

Komplementäres Denken angesagt

Das muss natürlich nicht bedeuten, dass alle weiteren Versuche, so viele Verweigerer wie möglich doch noch vom Vorteil des Impfens zu überzeugen, vergeblich wären. Wo das Latein der Wissenschaft endet und sie ihren augenblicklichen Zweck nicht durch sich selbst erfüllen kann, führt die Suche nach Auswegen aus einer Pandemie nicht mehr am Eingemachten vorbei. Dass so ein Hinterfragen im übertragenen Sinn auch sauren Nachgeschmack erzeugt, den man sich üblicherweise gerne vom Gewissen fernzuhalten bestrebt ist, versteht sich von selbst. Wer gibt schon gerne zu, Angst zu haben, und sei es auch in einer nur ganz geringen Dosis? Sie ist genauso menschlich wie das Irren. Schleichende Angst davor, es könnte Freunde, Familienmitglieder oder vielleicht gar einen selbst treffen, sich mit dem zunehmend tückischeren Corona-Virus zu infizieren. Impf-Verweigerern, die vorgeben, keine Angst zu haben, ist nicht nachzueifern. Aber auch Befürworter, die der Meinung sind, allein mit der Wissenschaft sei so ein Problem zu erledigen, können falsch liegen.

Falsch im Sinne von unvollständig. Denn zum Leben braucht der Mensch nicht nur die Wissenschaft und ihre Erzeugnisse, sondern auch Seele, Geist, Transzendenz oder einfach eine vertikale Achse, die ihn mit etwas verbindet, was er nicht verstehen kann, aber was ihm unverzichtbar ist. „Man behauptet zuweilen, der Tod sei nicht länger ein Tabu. Doch mir scheint, dass wir (...) den Sinn für den absoluten Preis des Lebens verloren haben. Das Bemühen, sich das Leben angenehm, bequem und frei von allen Leiden zu gestalten, ist heute allgemein an die Stelle dessen getreten, was man früher als eigentliche Aufgabe des Menschen ansah: das Leben, so wie es war, hinzunehmen. Für die Gläubigen war es von Gott gegeben, für die anderen vom Schicksal, der Vorsehung oder der Natur“, erklärte Philosophin Jeanne Hersch (1910-2000) im Essay „Zum Problem der Sterbehilfe“, der explizit nicht nur Menschen anspricht, die akut mit dem Tod konfrontiert sind. „Man suchte das Leiden nicht, aber man ertrug es, wenn es unvermeidlich war, und gab ihm einen höheren Sinn.“, so die Autorin aus Genf und Trägerin der Albert-Einstein-Medaille 1987.

Sie zählte zu den intellektuell meinungsbildenden Persönlichkeiten in der westlichen Nachkriegswelt des späten 20. Jahrhunderts und plädierte stets für ein moderates Bedürfnis nach Sorglosigkeit und materiellem Wohlstand. „Jedes Mal, wenn Leiden ertragen wird, wächst damit die innere Kraft der Menschheit. Denn unter jedem gesellschaftlichen System und in jeder Geschichtsepoche gehört (…) das Leiden zum Menschsein. Wir müssen nun lernen, ihm wieder einen Sinn zu geben“, betonte Jeanne Hersch dringend „in einer Zeit, in welcher der technische Fortschritt dazu beiträgt, das Leben bequemer, angenehmer und weniger anstrengend, schwierig und schmerzhaft zu gestalten. Und das ist gut. Widerstand zu leisten gilt es erst dort, wo die Grundgegebenheiten menschlicher Existenz mit technischem Fortschritt überspielt werden sollen. Eine dieser Grundgegebenheiten ist das Bewusstsein, dass das Leben, das wir leben, unweigerlich im Tod endet (…) Wir versuchen zu leben, ohne uns dessen bewusst zu sein, und zu sterben, ohne es zu merken.“

Gratwanderung als Herausforderung statt Hürde

Das, wovor Jeanne Hersch im Essay „Zum Problem der Sterbehilfe“ warnt, trifft auch den Nerv der pandemischen Krisenzeit unserer Tage: „Es sieht so aus, als müsse man sich nur noch versichern, dass man ohne zu leiden vom Leben in den Tod gehen kann. Aber wenn die Menschen die Empfindung für das, was einen Sinn haben soll, verlieren, dann ist das Wesen des Menschen in Gefahr (…) Wenn nichts mehr einen Sinn hat, dann bleibt nur noch die Droge, die Flucht vor sich selbst, die Gewalt. Der Versuch, alle Probleme nur unter dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Annehmlichkeit und Bequemlichkeit zu lösen, zerstört den Sinn und höhlt ihn aus. Doch auch die Euthanasie, der leichte, bequeme Tod, der den Sinn des Leidens leugnet, höhlt den Sinn des Lebens aus und bedroht die Menschheit.“

Würde Jeanne Hersch eine Pandemie und die Entwicklung eines Impfstoffes erlebt haben, hätte sie ihn sich höchstwahrscheinlich injizieren lassen. Gleichzeitig aber nicht verdrängend, dass „die wahren Wissenschaftler genau wissen, dass sie nie alle Probleme lösen werden – nicht einmal ihre eigenen Probleme, denn hinter jeder Lösung stehen neue Probleme (…) Der wissenschaftliche Beruf enthebt niemanden seiner moralischen Verantwortung als Mensch, aber er verleiht auch niemandem besondere Kompetenzen im nicht zur Wissenschaft gehörigen Bereich.“ Schweizerin Jeanne Hersch hatte in Deutschland einen Zeitgenossen, der 1987 – genau das Jahr, in dem sie selbst die Albert-Einstein-Medaille gewann – mit dem Alternativen Nobelpreis der 1980 gegründeten „Right Livelihood Award Foundation“ (Stiftung des Preises für gerechte Lebensgrundlagen) ausgezeichnet wurde: Kernphysiker Hans-Peter Dürr.

Die Sache ins rechte Bild rücken

Er war neunzehn Jahre jünger und starb vierzehn Jahre später als Jeanne Hersch. Für Fridays for Future und Greta Thunberg, die fünf Jahre nach seinem Tod den Alternativen Nobelpreis gewann, hätte er sicher Lob übrig gehabt. Nicht von ungefähr wusste er nur zu gut, dass der unerfüllbare Wunsch des Faust („Dass ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält“) geradewegs in die Sackgasse führen muss. „In dieser Aussage ist eigentlich schon ein Missverständnis: dass ich das Allerkleinste kennen muss, um das Große zu verstehen. Und es ist genau die Art und Weise, wie wir heute als naive Wissenschaftler die Welt verstehen – ´dass ich sie auseinandernehmen muss, um zu wissen wie sie funktioniert´“, kritisierte der Kernphysiker aus Stuttgart und später München, der 1995 in einer Studio-Fragerunde für das Schweizerische Radio und Fernsehen (SRF) plastisch vergleichend einen Wollknäuel aus seiner Rocktasche zückte.

„Dieser Faden ist verfilzt. Und wenn ich den abziehe, dann zerreiße ich kleine Fädchen. Ich komme zu dieser auseinandernehmbaren, reduzierbaren und verständlich gemachten Welt nur, indem ich ganz kleine Verbindungen zerreiße. Es sind aber genau diese kleinen Verbindungen, die eigentlich das Wesentliche an der Welt sind, die den Zusammenhalt eben ausmachen.“ Dieses Gespräch mit Hans-Peter Dürr ist auf Youtube abrufbar. Ihm als einem von der zivilen Nutzung von Kernenergie vehement abratenden Kernphysiker zufolge war und bleibt „der aufgewickelte Faden eine gute Approximation für die Wissenschaftler. Aber das Wesentliche sehen sie nicht.“

Im Verständlichmachen der Approximation und des Wesentlichen kommen auch Priester, Pfarrer, Ärzte, Gesundheits-Minister und Politiker nicht weiter als Forscher und Wissenschaftler. Das Bild von Gott, der Welt und von der Wissenschaft ist aber auch nicht da, um hundertprozentig verstanden werden zu müssen. Sobald man nämlich auch nur eines der drei Elemente verzerrt beleuchtet, kann man auch die anderen beiden nur noch falsch verstehen. Gott schützt nicht vor Krankheit – aber er kann gut helfen, sie zu tragen. Das ist doch ein Unterschied. Die Welt schließlich braucht dafür die Wissenschaft und ihre Produkte, besteht aber nicht exklusiv daraus. Und das Corona-Virus? Das ist begreifbar wie jeder andere Erreger von Krankheit auch. Eine Konditionierung, ja. Nur eben nicht die wesentliche. Weder für die Verweigerer noch manche Befürworter der Impfung gegen das Corona-Virus. Er liegt in der Schwere, die man ihrem konditionierenden Einschnitt zuordnet, der Ausweg aus der Pandemie. Ein Ablehnen der Impfung schlägt genauso fehl wie ihre Überfrachtung mit jener Vorstellung, sie könne es strikt alleine richten.