Der dicke dünne Vertrag

Das politisch rüpelhafte und menschlich verlogene Verhalten des US-Präsidenten Donald „Münchhausen“ Trump und der von ihm angestiftete und danach verurteilte Staatsstreichversuch mittels Mobsturm aufs Capitol ließ die europäische Öffentlichkeit zu schnell und oberflächlich (Ausnahme: die Fernlasterschlangen in Dover) über den doch noch mit einem Deal vollzogenen Brexit hinwegsehen.

Das in seiner finalen Phase nur noch virtuell ausgehandelte, über 1200seitige Abkommen muss gelobt werden: Es kam trotz allem zustande, und letztendlich können, wie bei jedem guten Handelsabkommen, beide Seiten den „Sieg“ für sich in Anspruch nehmen. Bei zwei defensiv eingestellten Verhandlungsstrategien ist das das Maximum, was zu erreichen war. Die EU freut sich, die Integrität ihres Binnenmarktes gegen eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt abgeschottet zu haben. Das Vereinigte Königreich an der Spitze mit Mikro-Trump (für den Krisen spannend und ergötzlich sind) hielt sich ein Maximum an Souveränität zugute – es hat keine Bindung mehr ans EU-Recht und die „dynamische Angleichung der Standards“, die sich die EU gewünscht hätte, wurde verhindert. Dass beide Seiten sich zum Sieger der Verhandlungen erklären, heißt auch, sie sind froh, dass sie ihr „Gesicht“ bewahrt haben…

Dass sie ihr „Gesicht“ bewahrt haben, kann auch die Grundlage für die unumgänglichen Nachverhandlungen der kommenden Jahre werden. Viele Themata blieben offen, Aspekte der praktischen Umsetzung wurden vernebelt belassen. Bis zu wirklich „geordneten Verhältnissen“ in den Beziehungen des eigentümlichen Insel-Politikgebildes mit der EU stehen noch Meilenschritte aus. Auch intern muss Struwwelpeter Johnson noch viele Fehden ausfechten, in der Schottlandfrage, in der Irlandfrage, möglicher-weise auch mit Wales – und nicht zuletzt wegen seinem eigenen Versagen in der Pandemiebekämpfung (da hatte er sich allzu sehr an seinem systemesprengenden Vorbild orientiert).

Immerhin gibt es jetzt den von der EU und dem Vereinigten Königreich akzeptierten Rahmen zur Konfliktbeilegung im Streitfall. Aber erst mal muss der dicke dünne Vertrag von den Parlamenten beider Seiten angenommen werden. In dieser Hinsicht dürfte der Trump-Nachahmer aus London mit seiner soliden konservativen Mehrheit weniger Probleme haben als Ursula von der Leyen mit ihrem Gemisch aus allen Politikströmungen EU-Europas. Johnson hatte die Zuständigkeit der Gesetzesfestlegung nach britischem Gutdünken zu einer seiner Verhandlungsprioritäten gemacht – und das auch in einem absoluten (und strikt rückwärtsgewandten ur-konservativen) Sinn zugesagt bekommen. Dafür akzeptierten die Briten Grenzkontrolle und Bürokratie im Güterhandel, einen eingeschränkteren Zugang zum Dienstleistungsmarkt (hier hatte Großbritannien einen Handelsüberschuss gegenüber der EU…) – doch alles bedarf noch der Nach-Regelung. Alles wird rund 4,9 Prozent des BIP kosten… 

Die Sicherheitsfragen (polizeiliche und rechtliche Zusammenarbeit) bleiben – aber auf niedrigerem Level – in der Behandlung gleich, müssen aber noch durch präzisierende Verhandlungen entwirrt werden. Den britischen Behörden werden ihre täglich bis zu 1,6 Millionen Zugriffe auf die Schengen-Datenbank bis zur Unmöglichkeit erschwert. Umgekehrt auch Europol. Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität (Beispiel: rumänische und bulgarische Mädchenhändler- und Zuhälterbanden) blieben ungeklärt.

Für Otto Normalbürger wird sich vieles ändern. Die Briten wurden vor dem Referendum kaum gewarnt, dass Arbeiten, Reisen (auch Dienstreisen) und Leben in der EU für sie über-bürokratisiert wird. Aufenthaltserlaubnisse werden begrenzt (nicht umsonst kündigte Johnson sen. an, die französische Staatsbürgerschaft seiner Mutter anzunehmen…).

Für beide Seiten dürfte der Brexit-Vertrag ein Verhandlungsthema in alle Ewigkeit werden.