Der Graben in Bukarest

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Ich lebte zwar bis 1977 in Rumänien, jedoch im Westen des Landes, im Banat, und so kannte ich die rumänische Hauptstadt bisher kaum.
Als ich kürzlich Bukarest besuchte, war ich vor allem von der Fußgängerzone im historischem Zentrum beeindruckt, mit seiner Prachtstraße, der Strada Lipscani. In der unseligen Ära des Sozialismus waren die Teile der Bukarester Altastadt, die nicht gerade gnadenlos platt gemacht wurden, einem dauerhaften Zerfall preisgegeben. So ist man nun seit der Wende 1989 eifrig dabei, das Übriggebliebene zu restaurieren.

Es wird eine Menge getan, keine Frage. Zum Beispiel ist das neue historische Kopfsteinpflaster in der Fußgängerzone schon fast zu Ende gelegt, und das nur fünf Jahre nachdem die Straße zu diesem Zwecke aufgerissen wurde. Wem dieses Tempo etwas zu gemächlich vorkommt, der ist als stressgeplagter Hektiker zu beklagen. Im Osten ticken die Uhren zwar etwas langsamer als in Deutschland, aber das ist überhaupt nicht schlimm, ganz im Gegenteil. Trotz orientalischer Gelassenheit ist man in Bukarest deutschen Städten wie Köln oder Berlin kontinuierlich um Einiges voraus. Denn wenn es in Köln zwölf Uhr ist, schlägt die Uhr in Bukarest bereits dreizehn. 

„Festina lente”, wie schon Kaiser Augustus zu sagen pflegte. Eile mit Weile, wer langsam läuft, kommt auch ans Ziel. Oder vielleicht auch nicht, wie ich bei meinem Rundgang auf der besagten Lipscani-Straße feststellen musste. Denn plötzlich ging der Gehweg, auf dem ich frohen Mutes dahinschritt, zu Ende, und ich stand unmittelbar vor einem etwa einen Meter tiefen und zwei Meter breiten Graben. Man konnte diesen Graben partout nicht umgehen, da es dicht daneben eine noch gefährlichere Baustelle gab, auf der ein weit ausholender Arm eines Krans rotierte, an dem eine Rieseneisenstange pendelte. Was also tun? Umkehren und die ganze Strecke wieder zurücklaufen, kam nicht in Frage. Ich lasse mich nur äußerst ungerne von meinem Weg abbringen. Wenn ich mir etwas vornehme, dann ziehe ich es auch eiskalt durch.

Während ich also über Überwindungsstrategien von unerwarteten, in Form von Straßengräben auftauchenden Barrieren sinnierte, erschien plötzlich ein junger Mann mit Kopfhörern auf den Ohren neben mir, stutzte einen Augenblick lang, und – hops! – sprang er wieselflink über das Hindernis. Er blieb auf der anderen Seite stehen, schüttelte den Kopf im Rhythmus der Musik und winkte mich ermutigend herbei. Ich wusste zwar nicht, was er da für eine Musik hörte, doch wie ich ihn dort so stehen sah, jenseits des Grabens, erinnerte ich mich plötzlich an einen alten Hit: Du bist mir nah und doch so fern / Ich will zu dir!

Ich kam mir vor, wie anno dazumal im Sportunterricht beim Bocksprung, nur, dass das Hinderniss sich diesmal nicht nach oben, sondern nach unten erstreckte. Sollte ich oder sollte ich es nicht wagen?  „Wenn ich den Sprung nicht schaffe und im Graben lande, könnte ich mir womöglich ein Bein brechen”, dachte ich. „Also ist es viel vernünftiger, ganz sachte in den Graben zu steigen, um auf der anderen Seite wieder unversehrt hoch zu klettern, so Gott will.” Gesagt, getan.

Inzwischen war ein matrioschka-ähnliches Mütterchen dazugestoßen, das nun vor dem gleichen Dilemma stand wie ich. Es  sah mir nach, schüttelte mit dem Kopfe, bekreuzigte sich dreimal und folgte mir auf den Fuß. Ich kam auf der anderen Grabenseite problemlos wieder heraus, die alte Frau jedoch blieb im Graben stecken, und so machte ich mich daran, ihr zu helfen. Ich hielt mich an dem jungen Mann fest, dann reichte ich dem Mütterchen die Hand, versuchte es hoch zu ziehen, und – schwuups! – befanden wir uns nun zu dritt im Graben.

Nein, falsch! Das wäre das Slapstickende gewesen. Also: Der junge Mann reichte mir und ich wiederum dem Mütterchen die Hand, wie in diesem Märchen mit der feststeckenden Rübe, die man nur gemeinsam dem Boden entreißt, und schon war die unbeholfene alte Frau gerettet. Und so liefen wir alle drei fröhlich weiter, bis zum nächsten Graben.