Die Freiheit der Kinder

Schlaglichter aus der Mitte Rumäniens

Demo 1989 „Copiii noștri vor fi liberi“ („Unsere Kinder werden frei sein“) | Foto: Wikimedia

Demo 2024 „Copiii voștri sunt liberi“ („Eure Kinder sind frei“) | Foto: Agerpres

Schlaglicht eins: Rumänisches Präsidialamt

Rückblick: Es ist Ende Oktober. Eine Gruppe von Vertreterinnen und Vertretern der deutschen Minderheit in Rumänien macht sich von Hermannstadt/Sibiu auf den Weg nach Bukarest. Man will zum Schloss Cotroceni, dem Sitz des rumänischen Staatspräsidenten. Die Fahrt aus der Mitte des Landes in die Hauptstadt dauert mehrere Stunden. Es sind die letzten Monate des Präsidenten Klaus Johannis im Amt.

In Rumänien gibt es achtzehn staatlich anerkannte Minderheiten – darunter Ungarn, Roma, Ukrainer, Deutsche. Der Präsident selbst ist Angehöriger einer deutschen Minderheit, der Siebenbürger Sachsen. Begonnen hat seine Karriere als Physiklehrer in der traditionsreichen Hermannstädter Brukenthalschule. In der politischen Selbstvertretung der deutschen Minderheit, dem Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien, war er lange Vorsitzender, neben seiner Tätigkeit als Bürgermeister.

Das Schloss atmet den Zauber von Jahrhunderten, verschiedene Persönlichkeiten der rumänischen Königsfamilie aus dem Hause Hohenzollern haben hier residiert. Ein langer Tisch dominiert den Saal, immense Kronleuchter hängen von der Decke. Die Gruppe nimmt Platz im holzgetäfelten Saal. Der Präsident nimmt sich Zeit, auch für seine Antworten. Er wägt ab, wählt seine Worte mit Bedacht. Oft wurde er während seiner beiden Mandate für diese Nachdenklichkeit kritisiert. Viel Kritik hatte es außerdem gehagelt, als Johannis in seiner zweiten Amtszeit schließlich doch eine große Koalition zwischen den Liberalen (PNL) und den rumänischen Sozialdemokraten (PSD) befürwortete.

Auf dem internationalen Parkett werde Rumänien beachtet und geachtet, sagt er, das sei wichtig hervorzuheben. Denn in Rumänien gebe es Politiker, die mit dem Motiv Politik machten, dass das Land nicht genügend Anerkennung finde. Der lang ersehnte Schengen-Beitritt werde für Ende des Jahres wahrscheinlich, sagte er damals. Inzwischen ist er beschlossen.

Zum Abschluss, der Fototermin in der Empfangshalle. Abschied liegt in der Luft. Irgendwie ist es auch ein historischer Moment, wenn auch ein kleiner. An diesem Vormittag im Schloss Cotroceni.

Schlaglicht zwei: Deutscher Bundestag

Und plötzlich ist es November. In der Feierstunde im Bundestag zum Volkstrauertag tritt der rumänische Staatspräsident auf. Es ist sein letzter Auslandsbesuch in Deutschland. Andächtig lauschen die Bundestagsabgeordneten der ausgewählten Musik von Paul Constantinescu, Marin Constantin, Ciprian Porumbescu.

Seit 35 Jahren sei Rumänien frei, sagt Johannis, eine Freiheit, die mit großem Leid, aber auch mit viel Hoffnung errungen worden sei. Und weiter: „Wir stellen jedoch fest, dass unser europäisches Projekt auch andere Reaktionen hervorgerufen hat, insbesondere in einigen undemokratischen Staaten. Die Furcht totalitärer Regime vor der Attraktivität europäischer Werte hat dazu geführt, dass unsere Union als Bedrohung wahrgenommen wird. Die Kritiker der Europäischen Union sind die Feinde der Demokratie und Freiheit. Leider verbreiten sich die Propaganda- und Desinformationsmechanismen heute vermehrt, weil sich diktatorische Regime auf das Prinzip stützen, dass eine Lüge, die oft genug erzählt wird, zur Wahrheit wird.“

Dann erinnert er daran, dass Rumänien immer ein „Ort der Konfluenz verschiedener Kulturen war, die zusammengelebt haben.“ Lange Zeit hätten Rumänen und Rumäniendeutsche koexistiert, das Land unterstütze bis heute alle ethnischen Minderheiten in der Bewahrung ihrer Eigenheit und Identität.

Schlaglicht drei: Der Morgen danach

Dann: Die Überraschung. Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen erwachen die Rumäninnen und Rumänen am Morgen des 25. November und reiben sich die Augen. Wer ist Călin Georgescu? Viele müssen erst einmal googeln. Ein unabhängiger Kandidat hat das Rennen gemacht. Kein ganz unbekannter: Die rechtsextreme Partei AUR (Alianța pentru Unirea Românilor), die seit rund zehn Jahren existiert, duldete ihn nicht in ihren Reihen.

Offenbar ist es die Macht digitaler Algorithmen, die entschieden hat. Gewonnen hat ein Kandidat, der bei der öffentlichen Wahlbehörde angab, einen Wahlkampf zum Nulltarif geführt zu haben. Eine Einflussnahme aus Russland auf die Wahlen wird nicht ausgeschlossen. In einer Diskussionsrunde am Wahlabend sagt ein Experte, Georgescu habe Wahlkampf im Haus eines Geschäftsmannes betrieben, der in der Republik Moldau lebt.

Reumütige Influencer melden sich in den Tagen danach zu Wort: Sie hätten Georgescus Kampagne unwissentlich mit harmlosen Hashtags unterstützt, denen man nicht ansah, was sich hinter ihnen verbarg. So begünstigten sie die Verbreitung seiner Videos.

Die Aussagen Georgescus reichen von mystischen Verirrungen bis zur Verherrlichung der Legion „Erzengel Michael“ – den rumänischen Faschisten der Zwischenkriegszeit. Über das Raketen-Abwehrsystem in Deveselu im Süden Rumäniens müsse verhandelt werden. „Meine Partei ist das rumänische Volk“, sagt er in einem großen Interview. Auf die Frage, ob er proeuropäisch oder prorussisch eingestellt sei, antwortet er: „Zuallererst bin ich prorumänisch.“ In puncto Außenpolitik wolle er aufrecht stehen, nicht auf Knien. Auf außenpolitischer Ebene habe man nicht gut verhandelt, die politische Klasse habe einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen.

In den folgenden Tagen finden in den großen Städten Demonstrationen statt. Besonders Studierende gehen auf die Straße. Parallel dazu findet ein altes Bild der rumänischen Presseagentur Agerpres seinen Weg in die sozialen Netzwerke: Darauf abgebildet sind zwei junge Männer, einer hält ein Schild mit der Aufschrift „Unsere  Kinder werden frei sein“. Es stammt aus dem Dezember 1989, dem Revolutionsjahr. Parallel dazu erscheint ein aktuelles Foto: Ein junger Mann hält ein Schild, das wirkt wie eine Antwort auf die Vergangenheit. Auf ihm steht: „Eure Kinder sind frei“.

Schlaglicht vier: Staatstheater Hermannstadt

Es ist der vierte Abend nach den Wahlergebnissen. In der deutschen Abteilung des Radu-Stanca-Theaters wird das Stück „Bluthochzeit“ von Federico García Lorca aufgeführt. Gespielt wird es in deutscher Sprache mit rumänischen Untertiteln. Die Regie hat das Stück nach Siebenbürgen versetzt, die Schauspiel-Truppe besteht aus Deutschen, Rumänen, Ungarn. Ein Stück über das Ende einer Gewaltspirale, von Zwängen, von verkrusteter Tradition, die menschlichen Neigungen entgegensteht. Fast ist es, als kommentierte das Ensemble das aktuelle Geschehen. Als das Stück zu Ende ist, läuft ein Fließtext über eine Filmleinwand: „Egal ob du Rumänisch, Ungarisch oder Deutsch bist, wir sind „made in Romania“. Egal ob du Moldauisch, Siebenbürgisch oder Oltenisch bist, wir sind „made in Romania.“ Zum Abschluss tönt es von der Bühne: „Să aveți grijă cu cine votați!“/ „Gebt Acht, für wen ihr stimmt!“

Es ist an der gleiche Abend, an dem klar wird: eine Neuauszählung der Stimmen des ersten Wahlgangs wird durchgeführt. So hat es das rumänische Verfassungsgericht entschieden. Ein Präsidentschaftskandidat hat das Wahlergebnis in drei Wahlkreisen angezweifelt.

Auch eine Annullierung der Wahl war im Gespräch. Große Fragezeichen, die in diesen ersten Novembertagen in der Luft hängen. Die Verunsicherung steigt. Inzwischen ist das Chaos perfekt.

Schlaglicht fünf: Parlamentswahl mit Rechtsruck

Im Vorfeld der rumänischen Parlamentswahlen wendet sich die Staatspräsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, an die Rumäninnen und Rumänen. Sie wirbt für einen europäischen Kurs. In der Republik weiß man schon lange, wie der Nachbar Russland Einfluss nimmt. Während der Präsidentschaftswahlen im Herbst waren die Einflussnahme von russlandtreuen moldauischen Oligarchen und der Einfluss Russlands klar zutage getreten: Ein ganzes Netzwerk von Menschen kaufte moldauische Wählerinnen und Wähler, um die proeuropäische Kandidatin Maia Sandu und deren Referendum zur Verankerung des EU-Beitritts des Landes in der Verfassung zu verhindern.

Dann der Vorabend zum 1. Dezember, dem rumänischen Nationalfeiertag: Endlich spricht auch der rumänische Präsident. Sein langes Schweigen wurde ihm von vielen, insbesondere während seiner zweiten Amtszeit, wie auch in den vergangenen Wochen, übel genommen. In seiner Rede entschuldigt er sich für Fehler, für Entscheidungen, die sich nicht bewährt hätten oder die er nicht genug erklärt habe.

Der Wahlabend: Angenommen hatten viele, dass sich die beiden klassischen Parteien PSD (Partidul Social Democrat) und PNL (Partidul Național Liberal) ein Rennen liefern würden. Beide Parteien wurden jedoch von der Wählerschaft abgestraft. Stattdessen schaffen es drei rechtsradikale Parteien ins Parlament. Eine davon, die POT (Partidul Oamenilor Tineri, Die Partei junger Menschen) wurde erst im Juli 2023 gegründet. Sie unterstützte auch den unabhängigen Kandidaten Georgescu. Zusammen machen die drei rechtsextremen Parteien AUR, SOS Romania und POT ein Drittel der Stimmen aus. Ein Denkzettel zum falschen Zeitpunkt.

An diesem 1. Dezember geschieht noch etwas anderes: Rund siebzig Menschen versammeln sich in einem kleinen Ort nördlich der Hauptstadt, um der rumänischen Faschisten zu gedenken. Männer und Frauen, alte und junge, heben die Hand zum Hitlergruß, legen Bücher und Insignien aus. Die Huldigung gilt dem Anführer der Legion des Erzengels Michael aus der Zwischenkriegszeit, Corneliu Zelea Codreanu. Es sind Bilder, die wie aus der Zeit gefallen scheinen.

Schlaglicht sechs: Die Freiheit der Kinder

Am Wahlabend der Parlamentswahlen sind die Stimmen der Präsidentschaftswahlen noch nicht vollständig ausgezählt. Eine Entscheidung bezüglich der Stichwahl wird für den späten Nachmittag des Folgetages angesetzt. Dann die Gewissheit: Die Stichwahl findet statt – zwischen dem prorussischen Legionär, Mystiker und TikTok-Kandidaten Georgescu und Elena Lasconi, der Kandidatin der bürgerlichen Mitte (USR, Uniunea Salvați România). Viele Rumäninnen und Rumänen bemängeln in diesen Tagen die politische Schwäche und Profillosigkeit beider Kandidaten.

Die Enthüllungen von Auslands- und Inlandsnachrichtendienst und dem Innenministerium, die der Präsident am 4. Dezember freigibt, zeigen das Ausmaß der Einflussnahme auf die Präsidentschaftswahl. Was nach der ersten Runde nur Vermutung war, ist jetzt Gewissheit: Georgescu hegt eindeutige Sympathie für die rumänischen Faschisten der Zwischenkriegszeit, zwei Anhänger der Legionärsbewegung haben seine Online-Kampagne unterstützt. Außerdem konnte der rumänische Geheimdienst eindeutige Hinweise der Unterstützung eines staatlichen Akteurs finden, der die Kampagne ebenfalls gestützt hat. Der Wahlprozess war von hybriden Angriffen begleitet. Die Politik steht Kopf, die Gemüter sind erhitzt, die Lage spürbar angespannt.

Schlaglicht sieben: Alles auf Anfang

Dann, der Paukenschlag: Kurz vor der Stichwahl wird die Präsidentschaftswahl annulliert. Das Verfassungsgericht erklärt die Wahl für ungültig – aufgrund der Offenlegung der Dokumente. Der Staatspräsident bleibt vorübergehend im Amt. Jetzt bemüht man sich um die Bildung einer Regierung. Die proeuropäisch eingestellten Parteien erwägen die Aufstellung eines gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten. 

Der Ausgang der Ereignisse ist ungewiss: Diese Wahl entscheidet über die geopolitische Ausrichtung Rumäniens und über die Integrität und Außenwirkung auf dem internationalen Parkett. Über die Rechte der zahlreichen Minderheiten des Landes und über den Kurs, den es in den kommenden Jahren einschlagen wird. Nicht zuletzt geht es darum, wie freiheitlich gestimmt Europa bleibt. Es könnte kälter werden im Osten. Ob die Kinder frei sein werden, entscheidet sich voraussichtlich im Frühjahr 2025.