Die große Kunst

Als 1809 bei Aspern der Kampf zwischen Napoleon und Österreich tobte‚ verfolgte Napoleon von einem Kirchturm aus den Gang der Ereignisse. Da sah er jenseits der Donau ein Gehölz. In der Annahme, es könne dort feindliche Artillerie in Deckung stehen, wandte er sich an eine Gruppe von Offizieren, die in der Nähe standen, und fragte, wer von ihnen hinüberschwimmen und feststellen wolle, ob seine Annahme richtig sei. Ein junger Offizier trat sofort vor. Napoleon betraute ihn mit der Untersuchung und fragte, ob er den Mut habe, sie ganz allein auszuführen. „Sire,“ war die Antwort, „Sie haben mich aus 5000 Offizieren des Heeres zu diesem Auftrag erwählt. Das genügt, um das Leben zu wagen!“

Im Lukasevangelium (9,61) sagte Jesus zu einem Mann: „Folge mir!“ Dieser antwortete: „Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich von meiner Familie Abschied nehmen!“ Jesus erklärte: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes!“ Damit verlangt Jesus für seine engsten Anhänger Einsatz, ohne auf die Rücksichten zu achten, die den vollen Einsatz behindern. Im Laufe der zwei Jahrtausende, seit Christus dieses Wort gesprochen, hat sich eine unzählbare Schar von Berufenen vollständig in den Dienst Christi gestellt, hat Verzichte, Mühen, Gefahren und selbst den Tod auf sich genommen, um das Reich Gottes auf Erden zu verbreiten. Kein Mächtiger der Erde hat so viel Opfergeist und Einsatzfreude seinen Getreuen einflößen können wie Christus.

Wie könnte man das Leben dieser Schar eifriger Christen bildlich darstellen? Es könnte eine Gruppe von Alpinisten sein, die fröhlich alle Mühen des Bergsteigens auf sich nehmen und dabei begeistert singen: „Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen, steigen dem Gipfelkreuz zu, in unseren Herzen brennt eine Sehnsucht, die lässt uns nimmermehr in Ruh!“
Es gibt aber auch eine große Gruppe von Christen, die wie die Leute im Johannesevangelium klagen: „Was Er verlangt, ist unerträglich“. Diese bleiben laue Christen. Wie könnte man ihren Lebensweg bildlich darstellen? Eine Missionszeitschrift berichtete über die Art und Weise, wie viele afrikanische Stämme ihre Wege anlegen. Ernstliche Hindernisse räumen sie nicht weg, sondern gehen einfach darum herum.

Auf diese Weise nehmen die Wege schlängelnde Formen an. Wollte man die Lebenswege der lauen Christen auch bildlich darstellen, so führte er an den Bergen der religiösen Pflichten und an den Dickichten der freiwilligen Opfer vorbei. Aus ihrem Mund könnte man das Klagelied hören: „O weh, meine Hand und mein Fuß, wenn ich Christenpflichten erfüllen muss!“ Das Volk nennt solche Leute „Drückeberger“. Es gibt heute leider mehr Drückeberger vor Christenpflichten als Alpinisten mit Opfersinn.

Zu welcher Gruppe gehören wir? Alexander der Große wurde auf seinem Siegeszug durch Persien von seinem Freund Parmenio gefragt: „Was wirst du tun, wenn du Persien erobert hast?“ Alexander: „Dann werde ich Indien erobern!“ „Und nach Indien?“ „Skythien,“ war die Antwort. „Und nach Skythien?“ „Dann ist es genug und ich ruhe mich aus!“ „Aber warum tust du das nicht schon jetzt?“, fragte Parmenio. „Weil“, war Alexanders Antwort, „Alexander nicht Parmenio ist!“ Das unterscheidet auch die eifrigen Christen von den lauen Christen, wie die Alpinisten von den Bequemen. Für laue Christen sind die religiösen Pflichten zu schwer. Bei Unterhaltungen aber sind sie stets fit. Auf viele trifft das Dichterwort zu: „Musst du zum Kränzchen ins Ballkleid dich werfen, da klagst du niemals über schwache Nerven, wohl aber, wenn die Kirchenglocke rief; die Nervenschwäche ist sehr relativ!“ Bei Bällen sind sie Salonlöwen, beim Gottesdienst „Kirchenmäuse“. Recht hat das Sprichwort: „Einer, der will, kann mehr als zehn, die müssen!“

Christus will in seiner Nachfolge „Wollende“‚ nicht „Müssende“. Gott öffnet uns als Reiseziel sein Vaterhaus und lädt uns durch Christus ein: „Kommet alle zu Mir!“ Eifrige Christen sehen ihr Leben als einen Wanderweg an, der durch tiefe Täler, dunkle Schluchten, über steile Berge und eisige Firne geht. Sie haben auf ihrem Lebensweg die wichtigste aller Lebenskünste erlernt, die große Kunst: Das leidige „Du sollst“ in ein beherztes „Ich will“ umzuwandeln.